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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

943–946

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bronk, Kay-Ulrich

Titel/Untertitel:

Der Flug der Taube und der Fall der Mauer. Die Wittenberger Gebete um Erneuerung im Herbst 1989. Mit einem Geleitwort von Friedrich Schorlemmer.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1999, 328 S. m. 8 Abb. gr.8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 16. Pp. DM68,-. ISBN 3-374-01780-0.

Rezensent:

Michael Domsgen

Die Ereignisse vom Herbst 1989 bleiben unvergessen. Menschenmassen drängten sich in den Fürbittgottesdiensten. Die Kirchen waren "Kristallisationspunkte des Massenprotests" (Pollack). Aber eine "protestantische Revolution" war die Wende in der DDR nicht. Welche Rolle spielten die protestantischen Kirchen in diesem komplexen Prozess? Dieser Frage geht Kay-Ulrich Bronk in seiner Dissertation am Beispiel der Wittenberger Gebete um Erneuerung nach. Die Konzentration auf die Gegebenheiten in Wittenberg ermöglicht es ihm, die Situation mit großer Genauigkeit nachzuzeichnen und damit die Dramatik der Ereignisse deutlich vor Augen treten zu lassen. Wichtigste Quellen dafür waren neben der Befragung von Mitgliedern des Vorbereitungskreises der Gebete um Erneuerung Tonbandmitschnitte, die Friedrich Schorlemmer in der Schlosskirche von acht Gottesdiensten angefertigt hatte. Sie stammen aus der Zeit zwischen dem 10. Oktober und dem 5. Dezember 1989. Auf diesen Zeitraum beziehen sich B.s Ausführungen.

Gleich eingangs skizziert B. die These seiner Untersuchung. Er möchte zeigen, "daß die Bedeutung der politischen Fürbitten sich nicht nur aus ihrer soziologischen Funktion im gesellschaftlichen Kräftespiel ergab, sondern auch aus dem, was die Kirchen für dieses Kräftespiel mitbrachten: die biblische Tradition, Symbole, Zeichenhandlungen, Liturgien und besondere Räume". Zudem will er nachvollziehen, "wie es diesen Elementen im Gottesdienst gelang, einen direkten und evidenten Bezug zur Lebenswirklichkeit der Gottesdienstteilnehmer herzustellen" (18).

Stichwortartig skizziert er dazu in einem ersten kurzen Kapitel (28-31) den ideologischen Konflikt zwischen Staat und Kirche in der DDR, um dann im zweiten Kapitel (32-85) die theologiegeschichtlichen Voraussetzungen der Gebete um Erneuerung zu klären. B. geht dabei davon aus, dass auch theologische Entwicklungen in Westdeutschland und der Ökumene Einfluss gehabt haben. So beschreibt er "als deutsch-deutschen Theologietransfer mit Spätfolgen" (33) die Politische Theologie der "68er", die sich liturgisch in den "Politischen Nachtgebeten" niederschlug. Dieser Einfluss war jedoch eher "unterschwellig" (44), wie B. vermerkt. Deutlicher war der Einfluss der Ökumene, der sich aus dem "konziliaren Prozeß" ergab. Die Fragen nach Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung waren in Dresden und Magdeburg 1988/89 intensiv diskutiert worden. Auf kirchenmusikalischer Ebene wurden Gesänge aus Taizé übernommen. - Unter dem Stichwort "Kirche im Sozialismus" kommt B. schließlich auf theologische Modelle zu sprechen, die das Verhältnis von Glaube und Politik sowie von Kirche und Staat reflektieren.

Für die Zeit gegen Ende der 80er Jahre konstatiert er eine "Wiederentdeckung des Wächteramtes" (62), das dann "an keiner Stelle kirchlichen Lebens ... so entschieden und vorbehaltlos wahrgenommen" (73) wurde wie in den Friedensgebeten der Leipziger Nikolaikirche. Alle diese Einflüsse gewannen durch eine politische Entwicklung an Bedeutung, "in der die christliche Tradition immer mehr ins Politische ragte und dort schließlich einen Raum einnahm, den sie zuvor nie gehabt hatte" (84).

Im dritten Kapitel "Zeitgeschichtlichen Anmerkungen" (86-95) erläutert B. Detlef Pollacks These, dass die DDR genau durch die Widersprüche geschwächt wurde, deren Institutionalisierung sie jahrzehntelang stabilisiert hatte. Den Kirchen billigt Pollack eine "Fokussierungsfunktion" zu, indem sie "Räume, Zeiten und Gelegenheiten zur Verfügung" stellten, "zu denen man sich treffen konnte und bei denen man damit rechnen konnte, auf Gleichgesinnte zu stoßen" (277).

Breiten Raum nimmt die Dokumentation von acht Gottesdiensten zur Erneuerung im vierten Kapitel (93-242) ein. B. skizziert dabei für jeden Gottesdienst zuerst die tagespolitische Situation in der DDR, anschließend die Situation in Wittenberg, um dann den Gottesdienst in allen seinen Einzelheiten zu schildern. Durch die Verknüpfung in der Darstellung von Tagespolitik und Gottesdienstablauf wird deutlich, wie eng in jenen Wochen Glaubenswirklicheit und politische Wirklichkeit zusammengehörten. Die ausführliche Dokumentation auf der Grundlage der Tonbandmitschnitte vermittelt eindrucksvoll Einblicke in die damalige Situation.

Eine zusammenfassende Analyse der einzelnen liturgischen Stücke im Querschnitt bietet B. im fünften Kapitel (243-276). Die biblischen Meditationen nahmen im Oktober thematisch ihren "Ausgang bei der Hoffnung auf eine demokratisierte DDR mit einer reformierten SED" und endeten im Dezember "mit einem vorbehaltlichen ,Ja' zur deutschen Einheit" (244). Hier lassen sich also erstaunliche "Horizontverschiebungen" konstatieren. Auffällig ist die unmittelbare Verbindung von Glaube und Politik. Die dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen berührten Grundlagen menschlicher Existenz. "Immer wieder geht es um Bewahrung und Rettung angesichts übermächtiger Bedrohungen und Gefährdungen" (245). Dabei schien "der sprachliche Weg vom Text zur Situation, trotz wahrnehmbarer Unterschiede, relativ kurz zu sein" (246). Es war, als antworteten die biblischen Texte ganz direkt auf aktuelle Verunsicherungen und Erschütterungen.

Liturgisches Konfliktpotential ergab sich aus der doppelten Aufgabe der Liturgie. Sie war "Anwältin des gottesdienstlichen Charakters und seiner Erkennbarkeit" und zugleich "Anwältin eines in die Öffentlichkeit drängenden politischen Protestes" (252). Bestimmte politische Äußerungen mussten, um sie überhaupt aussprechen zu können, in Gebetsform artikuliert werden. Um beiden Aufgaben gerecht werden zu können, waren klärende Reflexionen nötig. B. bezeichnet sie als "metakommunikative Interventionen". Sie unterbrachen den Kommunikationsablauf, wurden aber "nach ein paar Wochen geradezu als Gebetseinleitung und von daher als wesentlicher Bestandteil der Liturgie rezipiert" (253). Sie versuchten, Politik und Gebet zusammenzuhalten, indem sie den religiös Ungeübten halfen, fürbittend Politisches zur Sprache zu bringen. Die Fürbitten selbst umfassten nahezu alle politischen Themen der Wendezeit. Die Menschen brachten dabei bisher Tabuisiertes zu Wort. Hier wird deutlich, "daß das öffentliche und freie Gebet immer ein Stück Subjektwerdung ist und eine Einübung in demokratisches Engagement" (260).

Das "eigentlich Ungewöhnliche" an den Gottesdiensten war der Informationsteil. Politik trat hier "gewissermaßen pur in Erscheinung" (260). Die Informationen bereiteten die Fürbitten vor und waren insofern "liturgisch relevant" (263). Insgesamt bleibt festzuhalten: "Die Atmosphäre des politischen Umbruchs und die Intensität der sich ankündigenden existentiellen Veränderungen konnten sich im Gottesdienst kristallisieren und spürbar werden, und dabei entstanden Gefühle von Geborgenheit, Macht und Befreiung" (274).

Warum aber konnten diese Gottesdienste überhaupt eine solche Bedeutung erlangen? In Ergänzung zu Pollacks Fokussierungsthese weist B. im sechsten Kapitel (277-312) darauf hin, dass die Gottesdienste eine Perspektive anboten, die politische Wirklichkeit im Licht biblischer Verheißungen und damit unter dem Blickwinkel der Veränderung zu sehen. Sie boten dabei eine Sprache an, die "einen verbalen Freiraum" (290) schuf. Die biblischen Geschichten ermöglichten Orientierung und stifteten Identität. Würde und Recht des einzelnen Menschen wurden bestätigt und zugleich "inszeniert" (298). Die Liturgie insgesamt wirkte "therapeutisch" (301). Nach B. konnten die Gottesdienste zur Erneuerung den Widerstand gegen das Regime deshalb auf sich ziehen, weil sie den Teilnehmenden die Möglichkeit einer innerlichen und äußerlichen Sammlung für den Protest boten, und weil zwischen christlicher Tradition und politischer Situation "fundamentale Isomorphismen herrschten und biblische Tradition genau auf jene existentielle Verunsicherung" (307) antwortete, der die Menschen ausgesetzt waren. Letztlich wurde "der erlebten Wirklichkeitsdiffusion im Gottesdienst Einhalt geboten" (308).

Im siebenten Kapitel (313-315) fragt B. nach der Bedeutung der Wittenberger Gottesdienste für die heutige liturgische Praxis und verweist zu Recht darauf, dass man den gottesdienstlichen Aufgaben nur gerecht werden kann, "wenn die Fremdheit der Glaubenswirklichkeit nicht wegrationalisiert wird und wenn das Wechselspiel mit der politischen Wirklichkeit Reibungen verursacht" (314).

Insgesamt ist B. mit dieser Arbeit eine in sich schlüssige und überzeugende Darstellung gelungen. Angenehm ist, dass er die Wendeereignisse "verstehen, nicht zensieren" (6) wollte, wie Friedrich Schorlemmer in seinem Geleitwort zu Recht vermerkt. Die Wittenberger Ereignisse sind nicht einfach kopierbar in unsere Zeit. Aber es bleibt die Aufgabe, nach Möglichkeiten zu suchen, um "dem aufgetragenen Wächteramt des Gottesdienstes gerecht" (313) zu werden. Das Buch bietet dafür wertvolle Anregungen.