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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

931–933

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Walldorf, Jochen

Titel/Untertitel:

Realistische Philosophie. Der philosophische Entwurf Adolf Schlatters. Mit einem Vorwort von Wilfried Härle.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 338 S. gr.8 = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 90. Kart. DM 98,-. ISBN 3-525-56297-7.

Rezensent:

Werner Neuer

Die vorliegende Arbeit - eine beim Fachbereich Evangelische Theologie der Marburger Universität eingereichte, von Wilfried Härle betreute Dissertation - widmet sich einer Thematik, die trotz der seit Jahren in Deutschland und den USA verstärkt betriebenen wissenschaftlichen Erforschung von Adolf Schlatters Werk noch keine Gesamtdarstellung gefunden hat: Schlatters Entwurf einer realitätskonformen Philosophie. Sch. gehörte nämlich zu den wenigen evangelischen Theologen, deren Werk nicht nur durch eine implizite Philosophie gekennzeichnet ist, sondern auch durch den Versuch, ihre impliziten philosophischen Voraussetzungen durch die Formulierung einer eigenständigen Philosophie offenzulegen bzw. zu klären. Manche Aspekte von Sch.s Philosophie wurden zwar in einigen Untersuchungen bereits thematisiert, aber eine umfassende und detailgenaue Darstellung fehlte bislang. Umso erfreulicher ist es, dass mit dem Buch von W. nun eine empfindliche Lücke der Sch.-Forschung geschlossen wurde, zumal diese Lücke in der Vergangenheit häufig zu gravierenden Fehlinterpretationen und Missverständnissen des Schweizer Theologen führte.

Um den formal und inhaltlich gleichermaßen begründeten Gesamteindruck vorwegzunehmen: Härle ist ohne Einschränkung zuzustimmen, wenn er W.s Arbeit im Vorwort als "gründlich erarbeitete, interessante und lehrreiche - und überdies gut lesbare - Dissertation" bezeichnet (6). Die gute Lesbarkeit wird erreicht durch eine sehr klare und übersichtliche Gliederung (s.u.) und durch eine Sprache, die trotz der zu entfaltenden diffizilen Probleme unnötige Schwerfälligkeiten vermeidet und immer wieder durch prägnante, die einzelnen Beobachtungen auf den Punkt bringende Formulierungen gefällt. Der flüssige Stil der Arbeit ist das Resultat einer sauberen Gedankenführung, der es gelingt, auch schwer verständliche und mitunter widersprüchlich erscheinende Aussagen Sch.s als Ausdruck einer im Wesentlichen stimmigen Gesamtkonzeption deutlich zu machen. Eine solche Gedankenführung ist nur möglich bei einer genauen und umfassenden Kenntnis von Sch.s Denken. W. hat die Mühe nicht gescheut, außer vielen (nicht nur philosophischen und philosophiegeschichtlichen, sondern auch exegetischen, dogmatischen und ethischen) Publikationen Sch.s und der diese interpretierenden Sekundärliteratur auch eine beachtliche Zahl von meist nur handschriftlich vorliegenden unveröffentlichten Abhandlungen aus dem Nachlass (v. a. aus der Berner Frühphase) heranzuziehen. Ohne die Auswertung dieser Inedita hätte die Behandlung von Sch.s Philosophie wesentlich fragmentarischer ausfallen müssen. Eine Hauptquelle für W. war die erst postum (1987) herausgegebene. "Metaphysik" Sch.s. Denn sie erhellt viele Aspekte seines philosophischen Denkens, die in den zu seinen Lebzeiten erschienenen Veröffentlichungen nicht oder nur unzureichend angesprochen werden. Die sorgfältige und detailgenaue Interpretation dieses zweifellos am schwierigsten zu interpretierenden Manuskriptes ( 4 "Allgemeine Metaphysik": 146-213) gehört zu den bleibenden Verdiensten von W.s Dissertation und wird bis auf weiteres ein Meilenstein in der Auslegung dieses Werkes bleiben.

W.s Arbeit gefällt nicht nur durch die geschilderten formalen Vorzüge, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht. So weit ich sehe, sind alle relevanten Aspekte von Sch.s philosophischem Entwurf in einer einleuchtenden Systematik dargestellt:

Einer Beschreibung des Forschungsstandes ( 1) folgt eine Skizzierung des Grundrisses von S.s Philosophie einschließlich der von S. vollzogenen Zuordnung von Philosophie, Theologie und Wissenschaft ( 2). Aus dem Aufriss von S.s Philosophie ergibt sich die weitere Gliederung des Buches in die Behandlung von S.s Erkenntnistheorie ( 3) und seiner allgemeinen ( 4) bzw. speziellen Metaphysik ( 5). Diese Darstellung erfolgt überwiegend als ein umsichtig erarbeiteter verstehender Nachvollzog von S.s Denken, ohne deshalb hier und dort auf die Formulierung kritischer Rückfragen zu verzichten. "Einordnung, kritische Würdigung und Ausblick" aber sind im wesentlichen dem abschließenden 6 vorbehalten.

W.s Ausführungen zu S.s Erkenntnistheorie (51-145) dürften endgültig jene Fehlurteile widerlegen, die von manchen Sch.- Interpreten bis in die neuere Zeit hinein immer wieder geäußert wurden: W. zeigt in einer Breite wie bislang keine Veröffentlichung auf, dass Sch. einen "kritischen Realismus" vertrat, der weder (wie gelegentlich geschehen) als phänomenalistisch noch als naiv bewertet werden darf. Sch. hat sich in einer beachtlichen Weise mit den seit Kant im Raume stehenden Infragestellungen einer erkenntnisrealistischen Position auseinandergesetzt. Sein philosophisches Programm lässt sich treffend mit W. als "realistische Philosophie" kennzeichnen. Auch die Darstellung von Sch.s allgemeiner (146-224) und spezieller Metaphysik (225-272) macht deutlich, dass er zwar einerseits "in vielerlei Hinsicht in den breiten Strom klassisch-abendländischer Philosophie (und Metaphysik) eingereiht werden kann" (277), dass er aber andererseits nicht einfach einen "vorkritisch-traditionellen" Standpunkt vertrat, der die erkenntniskritische Reflexion neuzeitlicher Philosophie ignoriert, sondern diese in einer diskutablen Weise seinerseits kritisch reflektiert. Man wird daher W.s Fazit am Ende seiner Untersuchung im wesentlichen zustimmen müssen, dass "Sch.s philosophisches Denken sowohl auf die Tradition der klassisch-abendländischen Philosophie zurückgreift (zweifellos stärker als ihm dies bewusst war) als auch in vielem einen spezifisch neuzeitlichen Standpunkt einnimmt ..." (278). Dieses Endresultat wird nicht zuletzt durch die Beobachtung bestätigt, dass sich Sch. nie als vorkritischer Denker verstand, sondern als reflektierter Kritiker der neuzeitlichen (insbesondere kantianischen) Erkenntniskritik.

Ein beachtlicher Beitrag zur kritischen Sch.-Rezeption ist W.s Versuch, im abschließenden Paragraphen Sch.s Philosophie nicht nur in den Kontext der traditionellen und zeitgenössischen Philosophie zu stellen, sondern auch in das aktuelle Gespräch der gegenwärtigen Philosophie einzuordnen ( 6: 273-322). W. erhärtet den in der Forschung schon früher geäußerten Verdacht, dass Sch. abgesehen von Franz von Baader (und der durch diesen vermittelten thomistischen Tradition; W. N.) auch in nicht unbeträchtlichem Maß von dem Aristoteliker A. Trendelenburg beeinflusst war (vgl. 149, 151 f., 166, 172 f., 183, 205, 207, 278f.). Interessant sind außerdem die von W. aufgezeigten zeitgenössischen Denkparallelen (Bavincks "Philosophie der Offenbarung", die "induktive Metaphysik" von Külpe u. a., der "Göttinger Phänomenologenkreis" und der Neuthomismus), vor allem aber der Nachweis, dass sich für Sch.s Positionen in der Erkenntnistheorie und in der allgemeinen bzw. speziellen Metaphysik (z. B. in der Naturphilosophie) auch in der gegenwärtigen Philosophie z. T. namhafte Repräsentanten nennen lassen. Diese Hinweise haben nicht zuletzt deshalb Gewicht, weil W.s Abhandlung bei aller Sympathie für den Schweizer Theologen keineswegs einer unkritischen Sch.-Repristination das Wort redet, sondern immer wieder auch kritische Vorbehalte formuliert.

W.s Abhandlung lässt aufgrund ihrer methodischen Besonnenheit und umfangreichen Quellenbasis zumindest im Hinblick auf die Darstellung von Sch.s philosophischem Entwurf kaum grundsätzliche Infragestellungen zu. Wie auch immer man die von W. dargelegte Philosophie S.s bewerten mag - dass Vf. die Position Sch.s in den Grundlinien korrekt, aber auch detailgetreu und differenziert wiedergibt, wird man schwerlich bestreiten können. An einigen (bemerkenswert wenigen!) Stellen bietet allerdings auch W.s sorgfältige Analyse Anlass zu kritischen Rückfragen:

Man kann beispielsweise fragen, ob W. in seiner Darstellung der "formalen Struktur der Gotteserkenntnis" (252-262) nicht Sch.s Verständnis der Gottesbeweise zu stark von den traditionellen Gottesbeweisen mit ihrem syllogistischen Ansatz abhebt angesichts der von ihm an anderer Stelle durchaus zugegebenen Tatsache, dass Sch. gemeinsam mit dieser Tradition eine rational überlegene, letztlich sogar "denknotwendige" Interpretation der Wirklichkeit vorzulegen beansprucht (258, 265 f.).

Von größerer Tragweite ist die Rückfrage, ob W.s Einschätzung zutreffend ist, dass Sch.s Bejahung einer analogia entis "keine seinshafte" Ähnlichkeit "zwischen Gott und Geschöpf" beinhalte und damit eine problematische "Subsumierung von Schöpfer und Schöpfung unter eine allgemeine Seinsidee" vermeide (168, 277; Hervorhebung W. N.). Dieser - in der protestantischen Theologie beliebte - Einwand gegenüber einem streng ontologischen Verständnis der analogia entis würde nur zutreffen, wenn Sch. (wie z. B. Duns Scotus im Unterschied zu Thomas von Aquin) einen univoken Seinsbegriff vertreten würde, der den grundlegend verschiedenen Seinsmodus der göttlichen und kreatürlichen Wirklichkeit ignoriert. Dies zu unterstellen aber liegt gerade bei Sch. mit seinem Dringen auf die (nivellierende Abstraktionen vermeidende) seinskonforme Erfassung der je konkreten Wirklichkeit, kein Anlass vor, so daß Sch.s (meines Erachtens durchaus seinshaftes!) Verständnis der analogia entis von dem genannten Einwand nicht betroffen ist.

Doch solche und ähnliche Rückfragen können den vorzüglichen Eindruck der Dissertation in keiner Weise schmälern.