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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

915–917

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Arnold, Matthieu

Titel/Untertitel:

La Correpondance de Luther. Étude Historique, Littéraire et Théologique.

Verlag:

Mainz: Zabern 1996. XIV, 673 S. gr.8 = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 168. ISBN 3-8053-1868-5.

Rezensent:

Irene Dingel

Mit seiner umfangreichen Studie über den Briefwechsel Martin Luthers hat sich der Vf. zum Ziel gesetzt, die Gesamtheit der Korrespondenz des Reformators umfassend zu erschließen und zu analysieren, und dies nicht nur unter historisch-theologischem Aspekt, sondern auch im Dialog mit literatur- und sprachwissenschaftlich ausgerichtetenen Fragestellungen. A. wählt den Zugang zu seinem Thema über eine Typologie der Briefe Luthers. Diese Frage nach dem jeweiligen der Korrespondenz zu Grunde liegenden literarischen Brieftypus spielt im Folgenden insofern eine grundlegende Rolle, als sich der gesamte Aufbau der Abhandlung an ihr orientiert. Dies ermöglicht es dem Vf., den gesamten Briefwechsel Luthers gemäß seiner jeweiligen inhaltlichen Ausrichtung in fünf literarische Kategorien einzuordnen. Sie liegen vor in den informativen oder narrativen Briefen (informer), den Bittbriefen (demander), den Ratschlägen (conseiller), in der brieflichen Polemik und Apologetik (polémiquer et se défendre) und schließlich in den Trostbriefen (réconforter). Dabei wird zugleich auch immer wieder die Frage nach Mustern der antiken Rhetorik bzw. der Brieftradition gestellt, um auf dieser Kontrastfolie zu beleuchten, ob und inwieweit sprachliche Stereotypen noch von dem Reformator aufgegriffen und benutzt wurden.

Dem Vf. gelingt es, mit Hilfe dieses literarischen Ordnungsschemas die zunächst unübersichtlich erscheinende Fülle der Korrespondenz Luthers zu strukturieren. Nicht zuletzt dies macht seine Untersuchung zu einem wichtigen und praktikablen Hilfsmittel für alle weiteren an den Briefen des Reformators orientierten Fragen der Lutherforschung. Von der literarischen Typologie her wird dann auch der Inhalt der Briefe erschlossen, in die historischen Zusammenhänge eingeordnet und im Blick auf die Anliegen und die theologische Haltung des Reformators ausgewertet. So entsteht nicht etwa ein in sich gerundetes und homogenes Lebensbild Luthers, sondern eher eine Charakterisierung des Reformators aus den jeweils unterschiedlichen Bezügen und Aufgaben heraus, in denen er als Briefautor zu stehen hatte. A. kann daher im Rückblick auf seine vorangegangenen, vielfältigen Einzeluntersuchungen an den Briefen Luther zu Recht eine "identité plurielle d'une personnalité riche et contrastée" (593) zusprechen. Dennoch zeichnen sich auch charakteristische Konstanten ab, die freilich in den verschiedenen Briefgenera unterschiedlich stark akzentuiert sein können. So tritt z. B. in den narrativen Briefen Luthers spezifisches Verständnis von der Geschichte als eines fortwährenden Kampfes zwischen Gott und Satan hervor - ein theologisches Motiv, das wie viele andere freilich auch jenseits des jeweiligen Brieftypus virulent ist. A. weist auf, dass Luther, eingebunden in ein apokalyptisches Zeitdenken, stärker als seine Zeitgenossen die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Souveränität Gottes über die Geschichte betont, in die sich der Reformator selbst als Werkzeug Gottes hineingestellt sieht, wenn auch die narrativen Briefe nicht der Ort für den Ausdruck seines spezifischen Selbstbewusstseins seien. Die Bittbriefe wiederum zeigen Luther als einen unnachgiebigen, aber zugleich auch mitleidvollen Bittsteller, der seine Argumentation den Bedürfnissen der jeweiligen Situation anzupassen versteht.

In den Ratschlägen, die sich überwiegend auf Probleme der Politik, des Eherechts und der Abendmahlspraxis beziehen, führt uns A. einen Luther vor Augen, der sich - vor allem im Blick auf die seit der Reformation offenen Fragen des Eherechts- mehr als Seelsorger denn als Rechtstheologe verstand, wenn auch - wie A. mit Michaelis feststellt - die Grenze zwischen Beichtrat und formaljuristischer Kompetenz, die man Luther allein schon durch die Anfrage an ihn beimaß, fließend war. Dass der Reformator in allen Ratschlägen, ob politischer, eherechtlicher, theologischer oder auch ökonomischer Natur auf die Heilige Schrift als Norm rekurrierte, erscheint selbstverständlich, wird aber insofern vom Vf. hervorgehoben, als Luther die Normgebundenheit des Bibelexegeten mit einer stark personalisierten Ausrichtung des situationsgebundenen Beichtrats meisterhaft zu kombinieren verstand. Sprachlich und auch inhaltlich disparat erscheint demgegenüber das polemische und apologetische Briefcorpus Luthers. Die Studie macht deutlich, wie neben Ehrenbezeugungen und argumentativen Passagen durchaus auch aggressive Äußerungen und Unverschämtheiten stehen können. Dem entspricht in gewisser Weise der Konflikt zwischen der festen Überzeugung Luthers, dass sich die Wahrheit des Wortes Gottes auch ohne menschliche Hilfe schon selbst durchsetzen werde, und dem polemisch bzw. apologetisch geleiteten Willen, den Gegner mit allen Mitteln zum Akzeptieren des eigenen, als recht erkannten Standpunkts zu bringen. Die Trostbriefe schließlich zeigen Luther in herausragender Weise als evangelischen Seelsorger, der von der regelrecht sakramentalen Kraft des Trostworts überzeugt ist. Es soll in dieser Ausrichtung der göttlichen Tröstung den Weg bereiten und die Brücke zwischen Trostbedürftigem und handelndem Gott schlagen. Und dies - so macht A. deutlich - spiegelt sich nicht zuletzt in dem persönlichen Charakter seiner dem Adressaten Nähe vermittelnden Sprache. - Luthers Korrespondenz erweist sich demnach in hohem Maße zweckgebunden, zumal - wie der Vf. ausführt - Luther nicht selbst die Initiative zu Briefwechseln ergriffen habe.

Seine Briefe seien nicht so variantenreich, sprachlich brillant und europäisch orientiert wie die Korrespondenzen eines Erasmus, Melanchthon, Bullinger oder Bucer, sie tragen aber - und dies hält A. gegen die literaturwissenschaftliche Betonung des 17. Jh.s als Umbruch in der Briefkultur fest - schon im 16. Jh. die neuen Charakteristika der natürlichen Lebendigkeit und Individualität in das literarische Genus des Briefs ein. Dies in akribischen Einzelanalysen aufgezeigt zu haben, ist eines der Ergebnisse der Untersuchung. Ihr zweifellos größtes Verdienst aber ist die umsichtige Einordnung der Korrespondenzen in biographische und historische Zusammenhänge, die Frage nach den wiederkehrenden und sie bestimmenden theologischen Motiven bzw. Anliegen und den historischen und theologischen Bewertungen, die der Reformator in den jeweiligen Zusammenhängen vornimmt. Zwar folgt die Studie darin keiner bestimmten, bisherige Forschungsmeinungen in Frage stellenden, korrigierenden oder ergänzenden Leitthese, so dass es schwierig ist, ein zusammenfassendes Endergebnis der voluminösen Arbeit zu formulieren. Aber im Blick auf das zu Grunde liegende Arbeitsziel, nämlich die Gesamterschließung der literarisch, sprachlich und theologisch vielfältigen Korrespondenz Luthers, dürfte das auch kaum möglich sein. Dementsprechend erfolgt die Auseinandersetzung mit der Lutherforschung überwiegend im Sinne eines rezipierenden Dialogs, zumal an einzelnen Punkten gewichtige neuere Forschungsbeiträge zur Verfügung standen (vgl. z. B. zu den Trostbriefen).

Die Stärke dieser Untersuchung liegt deshalb darin (und das kann nicht genug betont werden), den Briefwechsel Luthers erstmals in seiner Gesamtheit und umfassend gesichtet, gruppiert und analysiert zu haben, wobei im Übrigen auch die zahlenmäßige Erfassung für den Vf. eine Rolle gespielt hat. Er kann mehr als 950 informative bzw. narrative Briefe nachweisen, insgesamt 536 Bitt- oder Empfehlungsbriefe und ca. 450 Ratschläge. Interessant ist zu erfahren, dass sich die polemischen und apologetisch gehaltenen Briefe auf nur vier hauptsächliche Adressaten konzentrieren (Johann Eck, Albrecht von Brandenburg, Georg von Sachsen und Joachim I. von Brandenburg). Weniger wissenswert ist demgegenüber der zahlenmäßige Umfang der vom Vf. am Ende der Untersuchung angefügten Auswahlbibliographie. Aber auch darüber erhält man Auskunft. Sie bietet stolze 520 Titel und weist damit - dies bemerkt der Vf. ausdrücklich - nur einen Teil jener Forschungsliteratur aus, die insgesamt auf- und eingearbeitet worden ist. Denn in den Anmerkungen seien immerhin mehr als 600 Studien zitiert. Eine rundherum beachtliche Leistung.