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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

904–906

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Walter, Nikolaus, Reinmuth, Eckart, u. Peter Lampe

Titel/Untertitel:

Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon. Übers. u. erkl.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 232 S. gr.8 = Das Neue Testament Deutsch, 8,2. Kart. DM 44,-. ISBN 3-525-51381-X.

Rezensent:

Günter Haufe

Der neue Teilband der NTD-Reihe kommentiert vier kleinere kanonische Paulusbriefe, deren letzte Auslegung in dieser Reihe einheitlich durch G. Friedrich (1962/1990) erfolgt war. Die neue Kommentierung verantworten drei verschiedene Autoren, die jeweils ihre eigenen Akzente setzen. Für diese Autorenvielfalt wird der Leser dankbar sein, gewinnt doch der Band dadurch an Farbe und Anziehungskraft.

An erster Stelle steht die Auslegung des Philipperbriefes durch N. Walter. Natürlich ist von Interesse, in welcher Weise W. zu den klassischen Auslegungsproblemen des unbestritten echten Paulusbriefes Stellung bezieht. Hinsichtlich der Frage nach dem Ort der Gefangenschaft des Apostels schließt sich W. jenen Auslegern an, die mit guten Gründen an eine Haft in Ephesus denken, wo der Brief etwa im Jahre 55 geschrieben sein dürfte. Freilich bleibt offen, ob der ganze Brief dort entstanden ist. Anders als jene Ausleger, die für die Einheitlichkeit des Briefes plädieren, verweist W. mit Nachdruck auf den unterschiedlichen Situationshintergrund von Kap.1/2 und 3 sowie des Abschnittes 4,10-20, so dass er sich mit anderen zur Annahme von ursprünglich drei Philipperbriefen des Paulus gedrängt sieht.

Die schwierige Frage nach dem Motiv ihrer sekundären Kompilation wird mit dem Hinweis auf die Leserinteressen des beginnenden 2. Jh.s. beantwortet. Die von der Forschung mehrfach vertretene Meinung, Phil 1,21-23 liege eine Endstufe der eschatologischen Erwartung des Apostels vor, teilt W. nicht. Die Aussage ist durch die Todeserwartung bestimmt und tritt wieder zurück, wo diese nicht mehr aktuell ist (3,10 f.20f.). Das von Paulus betonte Leidensthema (1,27-30) spricht die Leser nicht auf erfahrenes Leiden an, sondern will sie auf mögliches Leiden vorbereiten. Den vieldiskutierten Text 2,6-11 bezeichnet W. nicht mehr als "Hymnus", sondern als "Lehrgedicht" bzw. "Lied", für dessen Gliederung er auf E. Lohmeyer zurückgreift. Entgegen dem Vorschlag von R. Brucker, in dem Text eine auf Paulus selbst zurückgehende "epideiktische Passage" zu sehen, hält W. mit guten Gründen an seinem nichtpaulinischen Ursprung fest.

Die beiden Thessalonicherbriefe erfahren durch E. Reinmuth eine differenzierte Auslegung. Der 1Thess gilt nach wie vor als der älteste erhaltene Paulusbrief. Die Gliederung nach klassischen Begriffen der Rhetorik lehnt R. ab. Teilungs- und Interpolationshypothesen unterbleiben. Zum Typus der Briefform äußert sich R. leider nicht. Die Bedeutung des vorherrschenden Wir-Stils für die drei Absender wird mit Recht hervorgehoben. Problematisch bleibt die Annahme, dass wenigstens ein Teil der ehemals heidnischen Gemeindeglieder vor ihrer Bekehrung bereits "Anrainer der Synagoge" waren. 1Thess 1,9 spricht doch wohl dagegen. Der Rückblick auf das Anfangswirken in Thessalonich (2,1-12) will dieses vor Fehldeutung schützen. Die exegetisch umstrittene Paränese von 4,1-8 bezieht R. einerseits auf die sexuellen Beziehungen in der Ehe, andrerseits auf den geschäftlichen Bereich. Die eschatologische Belehrung von 4,13-18 setzt voraus, dass auf dem Hintergrund intensiver Naherwartung mit dem etwaigen Tod von Gemeindegliedern nicht gerechnet wurde. Das Herrenwort 4,15b versteht R. als prophetisches Wort des Paulus, V. 16 f. dagegen als ein apokalyptisches Bildmaterial, mit dem der Apostel die Gemeinde bereits bekannt gemacht hatte. Hier wird mancher Leser ein Fragezeichen machen.

Der 2Thess wird von R. - mit der Mehrzahl der neueren Ausleger - unter der Voraussetzung nichtpaulinischer Verfasserschaft interpretiert: ein uns unbekannter, von R. als "Pseudo-Paulus" bezeichneter Autor "hat auf der Folie des ersten Briefes eine akute eschatologische Problemlage seiner Zeit bearbeitet" (159). Anhaltspunkte für diese Annahme bilden vergleichende Beobachtungen, die vor allem W. Wrede und W. Trilling mit Nachdruck herausgearbeitet haben. Der 2Thess steht exemplarisch für die Produktion pseudepigrapher Texte im NT. Der Autor will seinen Brief als "Leseanweisung für den ersten Brief verstanden wissen", weil die Leser die neue eschatologische Unterweisung (2,1-12) unter Abweisung falscher Schlussfolgerungen aus dem ersten Brief begreifen sollen (161). Mit anderen Worten: das neue Schreiben ist "ein fiktionaler Text" (162). Die neuerdings mehrfach vertretene Hypothese, dass der 2Thess den 1Thess geradezu verdrängen bzw. ersetzen will, wird im Blick auf 2,2 und den fingierten Gruß 3,18 nur kurz berührt und ohne Diskussion abgewiesen. Wesentliches Ziel des Briefes ist die Zurückweisung einer überspannten Naherwartung (2,1-12) auf dem Hintergrund der Erfahrung von Verfolgung und Leid (1,4-10), die ihrerseits einen Teil der Leser - die "Unordentlichen" (3,6-15) - zur Ablehnung der Arbeit verführten. R. betont den inneren Zusammenhang der drei Phänomene: Verfolgung, Nähe des Endes, Aufgabe der Arbeit. Freilich will beachtet sein, dass dieser sehr wohl denkbare Zusammenhang vom Text selbst nicht direkt angesprochen wird. Der von den meisten Kommentaren angeführte analoge Problemfall aus einer Gemeinde in Pontus, von dem Hippolyt (Danielkommentar 4,19) berichtet, findet leider keine Erwähnung.

Die Auslegung des wie der Philipperbrief wahrscheinlich ebenfalls in ephesinischer Haft abgefassten Philemonbriefes durch P. Lampe geht von einer überzeugenden Rekonstruktion des Situationshintergrundes aus: Onesimus ist antiken Rechtsquellen zufolge kein flüchtiger Sklave, der die Freiheit sucht, sondern ein Sklave, der seinem Herrn Philemon irgendeinen materiellen Schaden zugefügt hat (18 f.) und nach dessen Vorhaltungen zu Paulus eilt, um ihn als Fürsprecher zu gewinnen. Das differenzierte Dreiecksverhältnis von Paulus - Philemon - Onesimus mit seinen Elementen von Statuserniedrigung und Statuserhöhung wird exegetisch sorgfältig analysiert. Was es für einen christlichen Hausherrn konkret bedeutet, einen mittlerweile ebenfalls zum Christen gewordenen Sklaven als "geliebten Bruder ... im Fleisch" anzunehmen (16), verdeutlicht L. an Hand von Texten aus der Umwelt. Leider unterbleibt ein Vergleich mit der Haustafel-Paränese des NT. Überaus anregend ist der Versuch, den Brief abschließend als klassisches "Modell der zwischenmenschlichen Aggressionsbeschränkung" zu interpretieren, ohne durch solchen "psychologischen Kommentar" die theologischen Inhalte herunterzuspielen.

Alle drei Kommentatoren haben solide und weiterführende Arbeit geleistet. Der Rez. ist überzeugt, dass sie dankbare Leser finden wird.