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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

902–904

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Riniker, Christian

Titel/Untertitel:

Die Gerichtsverkündigung Jesu.

Verlag:

Bern- Berlin-Frankfurt/M.-New York-Paris-Wien: Lang 1999. 487 S. 8 = Europäische Hoschschulschriften. Reihe XXIII: Theologie, 653. Kart. DM 110,-. ISBN 3-906761-89-4.

Rezensent:

Marius Reiser

Obwohl sich über ein Viertel der synoptischen Logien und Gleichnisse Jesu mit dem Gericht befassen, hat es lange gedauert, bis dieses Thema von der historisch-kritischen Exegese überhaupt aufgegriffen wurde. U. Luz spricht im Geleitwort zu der angezeigten Untersuchung zu Recht von einem "Verdrängungsprozess" in der modernen Jesusforschung. Mit Rinikers Untersuchung liegt nun, nach meiner eigenen (dt. 1990, erweitert und überarbeitet engl. 1997) und der W. Zagers (1996; vgl. meine Rezension in: BZ 42, 1998, 135 f.) bereits die dritte Monographie vor, die sich eine historische Rekonstruktion und Würdigung der Gerichtsverkündigung Jesu vorgenommen hat. Ihre Publikation hat sich durch persönliche Umstände leider verzögert; nach 1989 erschienene Literatur ist darum kaum berücksichtigt.

Das 1. Kapitel (15-61) bietet eine gediegene Forschungsgeschichte und methodische Überlegungen. Das 2. Kapitel (63-94) behandelt "absolute Gerichtsankündigungen Jesu", d. h. apodiktische Gerichtsansagen, denen eine explizite Begründung fehlt (Lk 17,34 f. par. 37 par; Mt 8,11 f. par). Das 3. Kapitel (95-196) behandelt Texte, in denen das menschliche Verhalten eine Gerichtsansage begründet (Lk 11,39-52 par; Lk 6,24 f.; Mk 10,25.31 par; Lk 17,26-30 par; Lk 13,1-5; Mt 5,29 f. und andere Mahnworte). Das 4. Kapitel (197-271) ist den Parusiegleichnissen gewidmet. Das 5. Kapitel (273-456), "das eigentliche Zentrum der Arbeit" (14), behandelt Texte, die das angekündigte Gericht mit dem Verhalten zu Jesu Wirken und Person begründen (Lk 6,47-49 par; 11,31 par; Mt 11,21-24 par; Lk 12,8 f. par; Lk 7,31-34 par; 13,34 f. par; Mt 25,32b-46; dazu einige Logien anhangsweise). Der Vf. schließt - allzu knapp - mit "Zusammenfassung und Ausblick" (457-461). Es folgt noch ein Abkürzungs- und Literaturverzeichnis.

Die Untersuchung hat sich zum Ziel gesetzt, "sämtliche Gerichtstexte Jesu zu untersuchen" (Geleitwort). Dabei wird auch das Menschensohnproblem nicht ausgeklammert (vgl. 333-351. 375-380). Es fehlen freilich einige Gerichtsgleichnisse (z.B. Mt 18,23-35; Lk 16,1-8); darauf weist der Vf. am Schluss selbst hin (461). Sieht man davon ab, ist das Material mit bewundernswerter Umsicht und Gründlichkeit untersucht.

Obwohl sich der Vf. nicht dazu entschließen konnte, in der Frage der Echtheit die Beweislast dem Zweifler aufzuerlegen (51), kommt er fast immer zum Ergebnis, dass die von ihm behandelten Überlieferungen in der ältesten rekonstruierbaren Fassung mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit auf Jesus selbst zurückgehen. Ausnahmen sind die Wehesprüche gegen die Reichen (Lk 6,24 f.), die sich "leider nicht als authentisches Jesusgut sichern" lassen (133) und Lk 11,49-51 par, wo der Vf. keine eindeutige Lösung sieht (436). Dabei macht er sich die Entscheidung in keinem Fall leicht; im Gegenteil, in den Abschnitten, die jeweils die Traditionsgeschichte und die Echtheitsproblematik diskutieren, liegt die eigentliche Stärke der Arbeit. Vorbildlich ist etwa die Echtheitsdiskussion zum Gerichtswort über die galiläischen Städte (Mt 11,21-24 par) (315-329) - es geht "fast sicher auf Jesus zurück" (329) - oder die zum Gleichnis von den spielenden Kindern (Lk 7,31-34 par) (380-387) - es "ergeben sich sehr starke Indizien für Echtheit" (387).

Sorgfältig bemüht sich der Vf. um die Deutung der jeweiligen Überlieferung im Kontext der Gesamtverkündigung Jesu, wobei er sich des hermeneutischen Zirkels von Ganzem und Teil ebenso bewusst ist wie der stets lauernden Gefahr einer petitio principii. Er sieht klar, dass nicht nur die Deutung, sondern auch die Entscheidung für oder gegen Authentizität vom jeweiligen Jesusbild als leitendem Vorverständnis oder Vorurteil abhängig ist. "Ist Jesus lediglich ein freundlicher ethischer Prediger gewesen, der - Parabeln erzählend und manchmal einen Dämonischen heilend - durch Galiläa zog?" Wer das annimmt, wird die Echtheit eines Logions, wie es das Südkönigin-Ninivitenwort (Lk 11,31 f. par) ist, "als problematisch empfinden müssen" (298 f.).

Aus R.s Untersuchungen ergibt sich ein ganz anderes Jesus-Bild: "Jesus ist ein Prophet des Gerichts gewesen, wie seit den Tagen der alttestamentlichen Gerichtspropheten, an die Jesus sich anschließt, offenbar keiner mehr aufgestanden ist in Israel, selbst nicht der Täufer" (91). Er will mit seiner Botschaft alle aufrütteln, spricht aber bestimmte Gruppen besonders an: "Das sind einmal die Reichen, vor allem aber die am Zentrum des Willens Gottes oft vorbeigehenden Frommen und der Gelehrtenstand"; Römer und Heiden nimmt er nicht aufs Korn (195). Im Bekenner-Verleugner-Spruch (Lk 12,8 f. par) hat Jesus "in unüberbietbarer Prägnanz das Verhalten ihm selbst gegenüber, die Stellungnahme zu seiner Person, zum Kriterium von Heil und Unheil erhoben" (351; Hervorhebung vom Vf.). Das gilt jedoch grundsätzlich von allen in Kapitel 5 behandelten Logien. Hier liegt das Spezifische und Neue gegenüber dem üblichen jüdischen Denken, in dem das Gericht mit den Werken des Gesetzes verbunden wird. Dieses Neue ist begründet im "Hoheitsanspruch" Jesu und seinem "Sendungsbewusstsein". Die Parusiegleichnisse wollen "die rechte Erwartung des Gerichts", genauer: des Richters veranschaulichen, nicht anders als "der Noah-Lot-Vergleich" (Lk 17,26-30 par) (269 f., vgl. 158f.). Die Annahme, diese Gleichnisse - die größte überlieferte Gleichnisgruppe überhaupt (270) - setzten die Parusieverzögerung voraus, beruht "auf einer Verkennung der narrativen Funktion des Verzögerungsmotivs ... oder auf dem exegetischen Trugschluß, daß jede Mahnung zur Wachsamkeit die Parusieverzögerung voraussetze" (267). Aber Jesus hat "den kommenden Menschensohn-Weltrichter nicht nur angekündigt, sondern schon sein eigenes Auftreten im Zusammenhang dieses seines eschatologischen Amtes gesehen" (ebd.). Ablehnungserfahrungen ließen den Umkehrruf in der letzten Phase des Wirkens Jesu zurück- und den Hoheitsanspruch noch deutlicher hervortreten (458).

Sachlich erscheint "das Gericht in der Botschaft Jesu als die negative Kehrseite seiner positiven Praxis und Verkündigung" (459, Hervorhebung vom Vf.). Sie bewahrt "die Botschaft selbst davor, im Zusammenhang menschlicher Wirklichkeit beliebig und manipulierbar zu werden" (ebd.). Diesen Ergebnissen kann der Rez. ganz zustimmen, auch wenn er vielleicht manchen Akzent anders setzen würde. Das Apodiktische einiger Gerichtsworte könnte durch Einordnung in das Ganze der Verkündigung Jesu und die Zuordnung zur Reich-Gottes-Verkündigung in ein anderes Licht treten. Im Übrigen aber wird man R.s Ergebnisse nur schwer ernsthaft in Frage stellen können. Dass dies auch Konsequenzen für die kirchliche Verkündigung heute haben müsste, ist evident.

Am Schluss berührt der Vf. ein Desiderat: Es wäre noch "darzustellen, daß auch Jesu Handeln, wie es uns abschließend im Zug nach Jerusalem und in Jesu Auftreten im Tempel sichtbar wird, darauf hinweist, daß das kommende Gericht für ihn eine zentrale Bedeutung hatte" (461, vgl. auch 299). Er denkt vor allem an die Tempelworte Jesu und seine Tempelaktion. Hier deutet sich eine Konzeption an, wie sie bei Ben F. Meyer (The Aims of Jesus, London 1979) und N. Thomas Wright (Jesus and the Victory of God, London 1996) zu finden ist. Im Hinblick auf die Gerichtspredigt Jesu wird, wenigstens unter den Exegeten, ein ökumenischer Konsens sichtbar.