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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

899–902

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

(1) Mußner, Franz (2) McKnight, Scot

Titel/Untertitel:

(1) Jesus von Nazareth im Umfeld Israels und der Urkirche. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von M. Theobald.
(2) A New Vision for Israel. The Teaching of Jesus in National Context.

Verlag:

(1) Tübingen: Mohr Siebeck 1999. VIII, 368 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 111. Lw. DM 138,-. ISBN 3-16-146973-9.
(2) Grand Rapids: Eerdmans 1999. XIV, 263 S. gr.8. Kart. $ 12.99. ISBN 0-8028-4212-7.

Rezensent:

Eckhard Rau

Das erste Buch vereinigt 25 Aufsätze, die Franz Mußner in der Zeit von 1960 bis 1998 über den historischen Jesus veröffentlicht hat, ein Thema, das für ihn von Anfang an nicht unabhängig von den Anfängen der Christologie und Jesu Verwurzelung im Judentum behandelt werden kann. Hinzugefügt sind eine informative autobiographische Nachschrift, in der M. seinen theologischen Weg skizziert (344-350), und eine instruktive Würdigung durch den Herausgeber (3-10).

Liest man die Aufsätze in ihrer zeitlichen Abfolge, so fällt auf, wie stark M. bis heute der von Ernst Käsemann angestoßenen "neuen" Frage nach dem historischen Jesus verpflichtet ist. Zwar hat er dabei als einer der ersten die Problematik des Basiskriteriums der doppelten Unähnlichkeit gesehen, wenn er bereits 1974 dessen dogmatische und antijudaistische Implikationen thematisiert und mit Nachdruck betont, auch Jesus gewinne "sein Profil nicht bloß durch Abhebung von der ihn umgebenden Welt, sondern auch durch Identifizierung mit ihr". Doch ist M. gleichzeitig bis heute der Überzeugung, dass das Kriterium "das Sonderprofil Jesu gewiß in aller Deutlichkeit herauszustellen" vermag (27). Allerdings sucht man vergeblich nach einer materialen Füllung dieses methodologischen Postulats an einem der großen Themen der Jesusüberlieferung. Es bleibt bei einer Fülle einzelner Hinweise, die nur einmal in einer knappen Skizze zu einem Gesamtbild zusammengefasst werden (205 f.), das durch den Aufsatz über Mk 1,14 f. lediglich im Blick auf die Verkündigung der Gottesherrschaft etwas konkretisiert wird (223-244). In diesem Aufsatz versucht M. in aller Ausführlichkeit zugleich zu demonstrieren, inwiefern die Exegese "ihre Aufmerksamkeit gegenüber dem Text" durch Berücksichtigung der modernen Sprach- und Literaturwissenschaft schulen kann (347) - auch wenn ich selber hier und bei den Ausführungen über 1Kor 15,3-5 (190-200) und über Lk 1,1-4 (245-259) eine starke Diskrepanz zwischen dem Aufwand an methodologischer Differenzierung und dem exegetischen Gewinn empfinde.

Perspektivreicher scheinen mir zwei andere Thesen zu sein, die sich bei M. finden. Die erste betrifft die Beobachtung, dass sich die Überlieferungsbedingungen der Logien- und der Tatüberlieferung stark voneinander unterscheiden und die historische Auswertung deswegen jeweils ganz eigene Wege gehen muss (17-24). Die zweite These wird in dem Aufsatz "Gab es eine ,galiläische Krise'?" entfaltet (74-84). M. plädiert hier dafür, im Wirken Jesu eine Phase des Angebots des Heils ("galiläischer Frühling") von einer Phase der Ablehnung ("galiläische Krise") zu unterscheiden, die Jesu Verkündigung bedeutend modifiziert habe. Soweit ich sehe, haben beide Thesen kaum ein Echo gefunden.1 Was die Anknüpfung an die Leben-Jesu-Forschung betrifft, mag das angesichts der allgemeinen Tabuisierung verständlich sein, zumal M. selber nicht einmal den Namen dessen erwähnt, von dem seine Kategorien stammen,2 und seine eigenen Überlegungen3 nicht über das Programmatische hinausführen.

Wenn in den Aufsätzen manches unausgeführt bleibt, worauf man gespannt wäre, dann deshalb, weil M. es nur bis zu dem Punkt verfolgt, der für sein eigentliches Anliegen von Bedeutung ist. Phasen im Wirken Jesu z. B. interessieren ihn nur insoweit, wie er Jesus in der "galiläischen Krise" die Konzentration auf den engeren Jüngerkreis zuschreiben kann, der dadurch schon vor Ostern zum Repräsentanten Israels, zum ersten Träger der Jesusüberlieferung und vor allem zum Adressaten der Unterweisung wird, dass sich "der mit der Ablehnung des Angebots selbst Abgelehnte" der Einsicht in die Notwendigkeit des Leidens stellen musste (84). Denn das, was seit Jahrzehnten im Vordergrund der Bemühungen M.s steht, ist das Sonderprofil Jesu, und zwar in der Eingrenzung auf das Geheimnis seines Selbstbewusstseins bzw. Anspruchs, "der eschatologische Heilsansager und Entscheidungsrufer zu sein", der "diese Heilsansage und diesen Entscheidungsruf unlösbar an seine Person band" (72). Dieses Geheimnis wird immer aufs Neue umkreist. Anfangs geht es dabei in Anlehnung an Käsemann um die Kategorie des Messias, wenn es etwa heißt, das jüdische Messiasbild der Jünger habe "in der harten Schule Jesu seine Wandlungen durchmachen (müssen), und endgültig ging ihnen das Geheimnis Jesu erst" Pfingsten auf (60). Später werden auch die anderen Titel der Homologese in die Überlegungen einbezogen, ja M. erneuert die These vom Kerygma als Rahmen der Jesusüberlieferung, wenn er meint, die Evangelien wollten die Homologese verifizieren (137-151). Die reifste Gestalt liegt wohl in dem Aufsatz über die Sohneshomologese vor, die für M. "die Einheit aller christologischen ,Entwürfe' im Neuen Testament" markiert (152-189, hier 187). Danach war es bereits der vorösterliche Sehakt der Jünger, der in der nachösterlichen Reflexion "das Leben Jesu als Manifestation seiner totalen bis zur Deckungsgleichheit führenden Aktionseinheit mit Gott erkennen ließ" (186).

Da das Differenzkriterium die methodologische Basis für die Erkenntnis des Sonderprofils Jesu ist, verwundert es nicht, dass auch M. sich gelegentlich der oft damit verbundenen Begrifflichkeit bedient. So kann er die Gegner Jesu als "Musterfromme" bezeichnen (52), von der nachösterlichen Tendenz zur "Rejudaisierung" sprechen (29) oder Logien, die das Sonderprofil zeigen, als "unjüdisch" charakterisieren (71). Dieser Sprachgebrauch ist umso ernster zu nehmen, als er M.s Überzeugung widerspiegelt, Jesus falle mit seinem unerhörten Anspruch "für jüdisches Empfinden ... aus dem Rahmen des Judentums" heraus (113). Er beruft sich dafür allerdings zu Unrecht auf Joseph Klausner, hat dieser doch nicht vom ",Un-Judentum' in Jesus" gesprochen (113), sondern - wie M. im selben Aufsatz korrekt zitiert (101) - betont, dass in Jesus etwas war, "aus dem sich- sc. nach Jesus - ,Un-Judentum' entwickelte"4. Freilich ist es alles andere als zufällig, dass M. an dieser Stelle einen jüdischen Jesusforscher zu seinem Kronzeugen macht. Denn so sehr er um den Nachweis bemüht ist, dass der "nach Ostern in Christologie gefaßte Anspruch (Jesu) ... notwendig ... zu der bis heute währenden Trennung der Kirche von Israel" führte, so sehr ist er von Anfang an auch an der Identifikation Jesu mit seiner Umwelt interessiert. Zunehmend verdichtet sich dies zu der These, dass "der Jude Jesus ... uns Christen (auch) mit Israel" verbindet (113), und zwar so sehr, dass M. die Formel von Chalzedon ergänzen möchte zu "vere deus - vere homo judaeus" (97.114 f.).

Zu dieser Ergänzung sieht M. sich durch das Grauen des Holocaust genötigt, und es ist bewegend zu lesen, wie er von da aus in immer neuer Weise das Judesein Jesu zu erfassen versucht. Man vergleiche dazu besonders die beiden späten Aufsätze "Die Schoa und der Jude Jesus" (297-306) und "JHWH, der sub contrario handelnde Gott Israels" (335-343). Was die exegetischen Beiträge im engeren Sinne betrifft, so bleiben M.s Ausführungen freilich schon insofern unbefriedigend, als sie sich auf die Ausarbeitung der Beziehungen zum Israel des Alten Testaments beschränken (z. B. 89-97). Ansätze zur Einzeichnung Jesu ins zeitgenössische Judentum sucht man dagegen vergeblich. Man mag mit dem Herausgeber deswegen zwar der Meinung sein, M. habe der "Third Quest" den Weg gebahnt (3). Er selber aber hat diesen Weg nicht betreten, sondern bewegt sich bis heute in den Bahnen der "neuen" Frage nach dem historischen Jesus. Die Konzentration auf die Anfänge der Christologie hat jedenfalls eine Begrenzung der Fragestellungen zur Folge, die nie überschritten wird.

Scot McKnight betont im Vorwort seiner Monografie (VIII-XI), sein Interesse an den synoptischen Evangelien habe sich verschoben "away from the redactional and literary and toward the historical" (X). Er versteht sich deshalb prononciert als Vertreter der "Third Quest", meint allerdings zugleich, den Lesenden die Konfrontation mit der schwierigen Authentizitätsdebatte ersparen zu können (IX), so dass die methodologische Basis seines Buches nicht recht durchsichtig wird. Das historische Interesse hat aber auch zur Folge, dass hermeneutische und praktische Implikationen, wenn auch nur aus pragmatischen Gründen, nicht thematisiert werden (IX f.). Erst der allerletzte Absatz des Buches zeigt, in welch problematischer Richtung McK. sein Jesusbild der Gegenwart ans Herz legen möchte (dazu s. u.).

Der Sache nach geht es dem Autor um die These, Jesu Lehre müsse im Horizont seiner Sendung "to the nation of Israel" verstanden werden (VIII). Die Vision, die Jesus dafür hatte, wird nach einer ersten Skizze (1-14) an seinem Gottesbild (15-69), an seinem Verständnis des Reiches Gottes (70-155) und an seiner Ethik (156-237) entfaltet. Ausgangspunkt ist dabei die Überzeugung, dass Jesus ein in Interaktion mit vielen Strömungen seiner Zeit geformter Jude war, "whose vision of the proper religious life centered on the restoration of the Jewish nation and on the fulfillment of the covenants that God had made with the nation". Denn "Jesus' hope was ... the fulfillment of the promises of Moses to national Israel, and the hope of God's kingdom ... on earth" (10 f.). Zugang dazu erhalte aber nur, wer den Weg der Umkehr einschlage. Er werde dafür belohnt mit der Teilhabe an der "grand and glorious revitalization of Zion, the flocking of Gentiles to Jerusalem to acknowledge Israel's God, the defeat of Israel's national enemies, the total restoration of Jewish society, and the complete moral transformation of the people of Israel, so that every Israelite would do the will of God from the inside out" (233). Wer die Umkehr verweigere, werde dagegen dem Gericht verfallen, das, eingeleitet durch die Zerstörung des Tempels und der Heiligen Stadt, von den Zwölf, von Engeln oder auch von Jesus als dem Menschensohn durchgeführt werde (bes.139-149).

Es ist beeindruckend, mit welcher Konsequenz McK. den Rahmen seiner Sicht der Vision Jesu im einzelnen ausfüllt. Besonders gelungen scheint mir die Darstellung der Reich-Gottes-Verkündigung zu sein (70-155), soweit sie sich nicht über den Horizont der klassischen Entwürfe etwa von Werner Georg Kümmel oder Joachim Jeremias, auf die sich McK. neben anderen beruft, hinaus bewegt. Aber auch die Entfaltung des Gottesbildes (15-69) oder der Nachfolgeethik (166 ff.) fasst vieles sachgemäß zusammen. Beeindruckend ist schließlich die Kohärenz der Gesamtdarstellung. Sie hat allerdings einen hohen Preis:

Erstens: So richtig es ist, den Gerichtsaspekt der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu ernst zu nehmen, so schief wird die Darstellung, wenn man Jesus umstandslos mit Johannes dem Täufer zusammensieht und so die Umkehr angesichts der Nähe des Zornes Gottes zum zentralen Anliegen beider macht. Zweitens: So sehr es Jesu Überzeugung treffen wird, dass das Reich Gottes die Erfüllung der Hoffnungen Israels bringt, so wenig darf die Unexpliziertheit des Ausdrucks zum Einfallstor für die unkontrollierte Eintragung von Motiven werden, die sich in jüdischen Texten dazu finden. Drittens: So sehr das zeitgenössische Judentum eine pluriforme Größe ist und Jesus im Schnittfeld mehrerer Faktoren steht, so unbefriedigend ist es, seinen Tod zu erklären "from a desire on the part of the Jerusalem establishment to put away a threat to Jewish piety and the Jewish nation" (9). Viertens: So wenig McK. die Konflikte leugnet, die Jesu Wirken begleiten, so unzureichend ist es, wenn er z. B. zu Jesu Mahlgemeinschaft mit Sünderinnen und Sündern lediglich bemerkt, Pharisäer hätten wegen ihrer anderen Auffassung von levitischer Reinheit dagegen protestiert (bes. 47-49). Eine Einzeichnung Jesu ins zeitgenössische Judentum, die seiner Partizipation genauso gerecht wird wie seiner Sonderstellung, lässt sich daraus jedenfalls ebensowenig gewinnen wie aus dem Hinweis auf den Zusammenstoß mit dem Jerusalemer "establishment". Fünftens: So berechtigt die Frage ist, ob und wie Jesus seinem Weg in den Tod ins Auge gesehen hat, so problematisch ist es, dafür undiskutiert die Leidensweissagungen, das Wort vom Lösegeld und die Paradosis vom letzten Mahl in Anspruch zu nehmen und zur Weissagung der Zerstörung des Tempels in Beziehung zu setzen, wenn es heißt (117): "Jesus saw the current temple as impure, and he offered his meal, and himself, as a revolutionary alternative to the current sacrificial system ... so that God would forgive the sins of Israel and restore the nation."

Und schließlich: So begründet mir die Annahme zu sein scheint, dass Jesus die Zerstörung des Tempels als Ausdruck des Gerichts über Israel geweissagt hat, so befremdlich mutet an, was McK. im letzten Absatz seines Buches dazu bemerkt (237). Man könne, heißt es dort, bei Josephus nachlesen, dass 70 n. Chr. das Gericht, verbunden mit "war, destruction, captivity, and exile", "for those who refused to accept his (sc. Jesu) offer ... did come in many of the ways that he had anticipated". Die Hoffnung derjenigen dagegen, die Jesu Vision von "deliverance, peace, righteousness, an obedient community, and most especially the kingdom as God wanted it to be" folgten, hatte bis dahin "a life of its own" gewonnen. "And it is that very hope that sustains the vision of countless Christians who live under Jesus' lordship in the prayer, 'May your kingdom come!'" Eine solche Verifikation der Gerichts- und Heilsperspektive der Botschaft Jesu ist entschieden zurückzuweisen und vermag gegenüber einer Position wie der von M. nicht zu bestehen. Das darf allerdings nicht dazu führen, zugleich das berechtigte Interesse an einer Materialisierung der Eschatologie Jesu zu decouvrieren, auch wenn McK.s Entwurf methodologisch und sachlich an vielen Punkten zu problematisch ist, um als ein Beitrag zur "Third Quest" gelten zu können, der die Engführung der "neuen" Frage nach dem historischen Jesus überwindet.

Fussnoten:

1) Vgl. jedoch - vorläufig - E. Rau: Jesu Auseinandersetzung mit Pharisäern über seine Zuwendung zu Sünderinnen und Sündern. Lk 15,11-32 und Lk 18,10-14a als Worte des historischen Jesus (ZNW 89, 1998, 5-29).

2) Vgl. Theodor Keim, Geschichte Jesu nach den Ergebnissen heutiger Wissenschaft übersichtlich erzählt, 3. Aufl. 1873.

3) Sie basieren auf A. Polag, Die Christologie der Logienquelle, WMANT 45, 1977.

4) J. Klausner, Jesus von Nazareth, 1930, 573.