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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

885–888

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Köhlmoos, Melanie

Titel/Untertitel:

Das Auge Gottes. Textstrategie im Hiobbuch.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. IX, 386 S. gr.8 = Forschungen zum Alten Testament, 25. Lw. DM 178,-. ISBN 3-16-147140-7.

Rezensent:

Markus Witte

"Im Buch ist eine zwiefache Scene, im Himmel und auf der Erde. Oben wird gehandelt, unten gesprochen; das Untere weiß den Sinn des Obern nicht, deßwegen räth es hin und wieder ... Diese doppelte Scene, und die unsichtbaren Zuschauer, wie Hiob sein Unglück ertrage? machen den Schauplatz des ganzen Buchs heilig." (J. G. Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie, in: SW, IX, hrsg. v. B. Suphan, Berlin 1879, 316 f.).

Was Johann Gottfried Herder im Blick auf die Komposition des Buches Hiob 1782 skizzenhaft andeutet, versucht K. in ihrer Hamburger evangelisch-theologischen Dissertation von 1997/ 98 umfassend zu erhellen: nämlich die dem Hiobbuch innewohnende Textstrategie, mittels derer das lesende Publikum zur interpretatorischen Mitarbeit befähigt und gelenkt wird. Dabei greift K. freilich nicht auf Herders Anleitung für die Liebhaber der "Ebräischen Poesie" zurück. Vielmehr rekurriert sie auf Umberto Ecos linguistische Werke "Lector in fabula" (dt. 1987) und "Die Grenzen der Interpretation" (dt. 1992) und erzielt mit diesem, so erstmalig in der Hiobexegese angewendeten Ansatz sehr interessante Ergebnisse. Bevor K. ihr Publikum durch das Hiobbuch führt, würdigt sie kritisch Tendenzen der neueren Hiobforschung (10-29).

Diese Sichtung führt nach K. zu dem Ergebnis, dass 1.) das Hiobbuch formgeschichtlich ein Werk sui generis sei, 2.) die Prosaerzählung und die Dialogdichtung eine kohärente Geschehensstruktur aufwiesen, 3.) der Dialog einen dramaturgisch gestaffelten Handlungsablauf biete, 4.) eine gezielte Gattungs- und Traditionsmischung vorliege und 5.) eine mehrfache planvolle Redaktion eines Grundentwurfs stattgefunden habe.

Es folgt eine Einführung in U. Ecos Interpretationskonzept, die auch eine kritische Reflexion der Anwendbarkeit eines der modernen Literaturwissenschaft entstammenden Modells auf einen biblischen Text enthält (30-45). Eine literar- und redaktionskritische Analyse des Hiobbuchs beschließt den Einleitungsteil (46-73).

Die ursprünglich selbständige Hiobnovelle (Hi 1,1-5.13-20.21b; 42,12-17) sei vom Verfasser des Kerns der Dialogdichtung als Rahmenerzählung rezipiert und dabei um Hi 1,6-12. 21a.22; 2,1-13; 42,7-11 erweitert worden. Dieser Grundentwurf des Hiobbuches, der im Zentrum des Interesses von K. steht, sei dann um die Elihureden (Hi 32-37) und schließlich um Hi 24-26; 27,7-28,28 ergänzt worden. Ebenfalls sekundär seien die Prolepse einer abschließenden Hiobantwort und die zweite Gotterede (Hi 40,1-41,26). Als weitere, nicht zum Grundentwurf gehörende Abschnitte werden im Verlauf der Arbeit Hi 29,1.17-20; 30,2-8; 31,1-3.38-40; 39, 13-18 bestimmt.

Im Mittelpunkt der Monographie von K. stehen drei umfangreiche Kapitel zu den diskursiven und narrativen Strukturen des ursprünglichen Hiobbuches (Hi 1,1-23,17; 27,1-6; 29,2-31,35*; 38,1-39,30; 42,1-2.3b.5-6). Eine entscheidende Rolle für K.s Argumentation spielen zum einen der Nachweis der inneren Kohärenz der vom Dichter zur Rahmenerzählung umfunktionierten Novelle und der Dialogdichtung, zum anderen die Beschreibung der dramaturgischen Muster des Grundentwurfs (74-143). Zentrales Thema des Hiobbuches sei die bereits in Hi 1-2 angelegte Frage nach der Gegenwart Gottes, die sich inhaltlich und formal mit dem Symbol vom Auge Gottes beschreiben lasse. Das Publikum, das wie der allwissende Autor den Akteuren der Erzählung stets einen Schritt voraus sei, habe die Aufgabe, die im Text bewusst angelegten Leerstellen interpretatorisch zu füllen und in jeder Phase des Dramas zu den Fragen nach der Gegenwart Gottes und der des Menschen Stellung zu beziehen. Die "Gegenwart Gottes" bilde in erzählerischer, theologischer und räumlicher Hinsicht das Grundmotiv des gesamten Werks: erzählerisch, insofern Hiob sowohl unter der als Dämonie erfahrenen Nähe als auch unter der als Rechtsentzug erlebten Ferne Gottes leide; theologisch, weil sich in diesem Motiv die Kernfrage des Hiobbuches nach Gottes Wesen und nach Gottes ambivalentem und personalem Handeln in der Schöpfung reflektiere; räumlich, insofern der Grundentwurf als ein stetes, dabei das Publikum einbeziehendes Geschehen zwischen Himmel und Erde strukturiert sei.

Der aus drei thematisch unterschiedlich geprägten Akten bestehende Dialog zwischen Hiob und seinen Freunden (Hi 3-14; 15-20; 21-31*) kreist nach K.s Auslegung, der eine gründliche Exegese ausgewählter Abschnitte der Dichtung beigegeben ist, vor allem um die Frage nach dem Ort Gottes (144-320). Hingegen konzentriere sich der Dialog zwischen Jahwe und Hiob (Hi 38,1-42,6*) auf die Frage nach dem Ort des Menschen (321-354). Zum Verständnis der Textstrategie gehört nach K. neben der Wahrnehmung der Knotenpunkte, die das Publikum in die Interpretation integrieren, die Erkenntnis zentraler Leitworte und intertextueller Bezüge. In Anlehnung an neuere Darstellungen zum juridischen, kultischen, mythologischen und weisheitlichen Hintergrund des Hiobbuches, bestimmt K. als dessen wichtigste intertextuelle Bezüge die Komplexe "Monotheismus", "Tempeltheologie", "Schöpfung", "Anthropologie" und "Theonomie der Gerechtigkeit". Als ausdrückliche Intertexte werden, allerdings ohne einen entsprechenden literargeschichtlichen Nachweis zu führen, Deuterojesaja für den "Monotheismus", Ps 104 für die "Schöpfung" und Ps 8 für die "Anthropologie" angesprochen. Gerade diese Intertextualität charakterisiere das Hiobbuch als ein typisch nachexilisches Werk. Dabei setze sich der Dichter kritisch mit der nachexilischen Theologie, zumal mit ihrer von der heilvollen und heilsgeschichtlich erfahrbaren Nähe Gottes und der Theonomie der Gerechtigkeit, auseinander. Die nachexilische Präsenztheologie konfrontiere der Verfasser mit seinem Theologumenon vom nahen und fernen Gott, die Vorstellung einer gottgesetzten Gerechtigkeit kontrastiere er mit der These, dass Gerechtigkeit keine auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch anzuwendende Kategorie sei. Diese Überzeugung spiegele sich zum einen in der Frage, ob der Mensch "gerechter sei als Gott" (so die m. E. fragwürdige Übersetzung der Vfn. von Hi 4,17a [vgl. 184 u. 194 f.]), die das Publikum nach dem Verlauf des Dialogs nur bejahen könne, zum andern in der vollständigen Ausblendung des Themas Gerechtigkeit aus der Rahmenerzählung und aus der Gottesrede. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch lasse sich gemäß dem Hiobdichter nur schöpfungstheologisch bestimmen, wobei für den Hiobdichter im Gegensatz zu anderen theologischen Entwürfen des Alten Testaments Schöpfung nicht zielgerichtet sei. Schöpfer und Schöpfung seien für ihn "amoralische Größen" (352).

Die vorgelegte Interpretation des Hiobbuches verfügt über eine eindrucksvolle konzeptionelle Geschlossenheit. Indem K. literarhistorische Fragen nicht ausblendet und eindeutige Kriterien ihrer textstrategisch orientierten Interpretation benennt, sind einer grenzenlosen Interaktion zwischen Text, Leser und anderen Texten angemessen Schranken gesetzt. Das Werk bietet auch auf Grund seiner zahlreichen (wenn auch den Rez. nicht immer überzeugenden) philologischen und kompositionellen Detailbeobachtungen einen wichtigen Beitrag zur Auslegung des Hiobbuches. (Philologisch - und in der Folge dramaturgisch und theologisch - problematisch ist m. E. die präsentische Wiedergabe von Hi 42,5 und die Übersetzung von wenih.amtî [42,6] mit "und ich bin getröstet" [342 f.].)

Das "Auge Gottes" lädt nicht nur die alttestamentliche Forschung zu einer intensiven Auseinandersetzung ein. Die angezeigte Monographie regt dazu an, 1.) weitere Leerstellen des Hiobbuches zu entdecken und theologisch auszuloten, 2.) die Tragfähigkeit des Interpretaments der "Gegenwart Gottes" an den von K. aus ihrer Darstellung ausgeklammerten Textkomplexen der Elihureden (vgl. Hi 34,21; 36,7) und des Weisheitsliedes (vgl. Hi 28,23 f.) durchzuspielen, und 3.) die vorgeführte Textstrategie auch rezeptionsgeschichtlich zu bedenken. Selbst wenn das Publikum textstrategisch nicht zur Identifikation, sondern zur Wahrnehmung angehalten werde, wie es K. unter Hinweis auf fehlende ideologische Strukturen in der ursprünglichen Hiobdichtung zu zeigen versucht, so weisen doch schon die jüngsten redaktionellen Bearbeitungen der Hiobreden und die älteste Rezeptionsgeschichte darauf hin, dass das Hiobbuch identifikatorisch als ein Buch von der Bewältigung des Leidens gelesen und der leidende Gerechte als Identifikationsfigur verstanden werden kann.

In redaktionsgeschichtlicher Hinsicht scheint mir trotz der richtigen Hinweise von K. auf die begrifflichen und motivischen Querverbindungen zwischen der Dichtung einerseits und dem Rahmen, zumal den Himmelsszenen, andererseits die Frage nach dem Verhältnis beider Textkomplexe nach wie vor offen. Dass "die Dialogdichtung niemals ohne ihren erzählenden Rahmen vorgelegen hat" (48), ist ein Postulat. Das von K. selbst aufgezeigte Phänomen exklusiver Schlüsselbegriffe für den Rahmen ("Segen") und für die Dichtung ("Gerechtigkeit") sowie formgeschichtliche Analogien im vorderorientalischen und im klassisch-antiken Bereich (vgl. zum einen die "Babylonische Theodizee" [in: TUAT III, 140ff.], zum andern die griechischen Tragödien, wobei K. auf letztere bei ihrem Nachweis des dramatischen Charakters des Hiobbuches leider nicht eingeht), machen die Annahme einer ursprünglich selbständigen Dichtung weiterhin sehr bedenkenswert. Außerdem scheint mir die These der redaktionellen Entstehung von Hi 4,12-21 und 15,11-16 durch die Analyse von K. nicht widerlegt zu sein. Die Vision des Eliphas in Hi 4,12-21 hat, wie K. zutreffend herausarbeitet, nicht zuletzt wegen ihrer Bezüge zu 1,6-12; 19,25-27 und 42,1-6, eine Schlüsselfunktion für das gesamte Hiobbuch- aber erst im Stadium des redaktionell erweiterten Grundentwurfs. Dass sich das Urteil Jahwes über Hiobs Freunde in 42,7 auf die gerechtigkeitstheologische Fehlinterpretation der Gotteserscheinung in 4,12-21 durch Eliphas rückbeziehe, überzeugt angesichts der kompositionellen Stellung von 4,12 ff. und der die Freundesreden insgesamt bewertenden Wendung in 42,7 nicht. Gottes Zorn ist über die entbrannt, die theologisch eindimensional geredet haben, ohne die Ambivalenzen von Gotteserfahrungen, ja Gottes selbst, zuzulassen.

Beigegeben sind dem klar strukturierten, exegetisch und argumentativ breit angelegten Werk ein knappes Stellen- und Sachregister.