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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1238 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Kuschel, Karl-Josef

Titel/Untertitel:

Im Spiegel der Dichter. Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts.

Verlag:

Düsseldorf: Patmos 1997. XII, 463 S. 8. ISBN 3-491-72378-7.

Rezensent:

Horst Georg Pöhlmann

Die hermeneutische Regel: "Nur am Anderen wird das Eigene bewußt" (J. Moltmann) bewahrheitet sich nicht nur im Dialog mit anderen Religionen, sondern auch mit anderen Weltanschauungen wie der modernen säkularen Dichtung. Die außerkirchliche Rezeption des Christentums in der Dichtung kann uns an biblische Inhalte erinnern, die wir innerchristlich vergessen haben, ähnlich wie nichtchristliche Religionen.

Der Vf. löst diese Aufgabe voll ein, in ein Gespräch mit der heutigen Dichtung und somit mit dem heutigen Menschen zu treten und auf seine neuen Fragen neue Antworten zu finden. Und er fällt keine flinken, flotten Schnellurteile und gibt keine vorgezimmerte apologetische Schubladenantworten, sondern er wagt wirklich neue Wege ins Ungebahnte. Dies geschieht bei dem Vf. in einem fast existentiellen Lernprozeß - sind doch die Zeuten dieser "externen Theologie" "Anstifter" seines Glaubens gewesen. Er gesteht, daß es "weniger Predigten, Katechismus und theologische Traktate, sondern Dichter" waren, die ihm "ein Stück Wahrheit in Wahrhaftigkeit erschlossen" (1). Er lernte von ihnen, "daß es im Namen Gottes einen Widerstand gegen vollmundige Unangefochtenheit gibt, eine Treue zum eigenen Glauben, aber auch eine Treue zu den eigenen Zweifeln".

Der Vf. untersucht die "großen Themen" des Glaubens: A) das "Rätsel Mensch", B) der "Abgrund Gottes", C) die "Gesichter Jesu" (2), wie sie sich in der dichterischen Rezeption gegenspiegeln. Die Dichtung wird in voller Breite analysiert bis hinein ins 19. Jh., was eigentlich gar nicht das Thema war. Schade, daß der Vf. trotz der imponierenden Fülle literarischer Zeugen G. Benn, H. Hesse, A. Gide, H. Miller, R. Musil, H. M. Enzenberger, P. Handke und B. Strauß ausläßt und F. Kafka nur am Rande erwähnt, die doch alle die religiöse Thematik in extenso behandeln.

Interessant sind in A die vielen Facetten des Menschlichen, die die Dichter entdecken: der Mensch, der sich als "Glasmann" im Spiegel sieht und in dieser "Selbstbespiegelung" die "Angst" nicht los wird (K. Tucholsky), der Mensch als Schöpfungsschänder (G. Kunert, W. Hildesheimer, Chr. Wolf, G. Grass) (166), die "Unausweichlichkeit" seiner Schuld (M. Frisch), die mörderische und grauenvolle "Hölle", in die er die Welt verwandelt (R. Hochhuth, A. Solschenizyn) und seine "Selbstvernichtung" (Th. Mann) (168). Die externe Theologie zeigt wieder neu, daß das Böse dem Menschen nicht von der Kirche aufgeredet und ansuggeriert wird, sondern eine Realität in seinem Leben ist, aus dessen Schraubstock er sich nicht selbst befreien kann. Bedauerlicherweise spielt die Rechtfertigung des Sünders in der sonst sehr plausiblen Beurteilung dieses anthropologischen Teils beim Vf. keine Rolle, die doch nach der vieldiskutierten "Gemeinsamen Erklärung" (1997) der Katholiken und Lutheraner ein "unverzichtbares Kriterium" der gesamten Theologie sein soll.

Besonders aufschlußreich finde ich den Abschnitt B über den Abgrund Gottes: Während die Anklage gegen Gott in der Kirche und Theologie tabuisiert und im Liedgut der Gesangbücher beider Konfessionen ausgeblendet wird, spielt sie in der modernen Dichtung eine zentrale Rolle - wie ja auch in der Bibel (Hiob, Klagelieder Jer.). Der "Protest gegen Gott" artikuliert sich in der Dichtung von drei "Grunderfahrungen" her: der "Zusammenbruch des Weltbildes religiöser Geborgenheit (F. Dürrenmatt, M. L. Kaschnitz), himmelschreiendes unschuldiges Leiden des Einzelnen (H. Heine), schließlich die Erfahrung der Massenvernichtung des Volkes Gottes (E. Wiesel, Z. Kolitz)". Durch diese Erfahrungen "wurde das alte Gespräch" mit Gott "abgebrochen; an seine Stelle trat aber nicht der Atheismus, sondern eine neue Erfahrung von Gott als Ab-Grund" (194).

Der Vf. lernt von diesen Dichtern, daß die Rebellion gegen Gott "eine legitime Form" des Glaubens und nicht "Hybris" und "Blasphemie" ist (271) - eine meines Erachtens ganz entscheidende These. Wenn Gott Mensch und unser Mitmensch und Partner wird, darf ich an ihm Kritik üben, die geradezu ein Essential einer echten Partnerschaft ist. Nietzsche hat mit Recht das Christentum seiner Zeit, das diesen Aspekt illegitimierte, als "gläubige Speichel-Leckerei" und "Schmeichel-Bäckerei vor dem Gott der Heerscharen" apostrophiert. "Menschen greifen Gott an, weil sie nicht von ihm loskommen" und auf seine Verheißung, rettend einzugreifen, hoffen, obschon es allem Anschein nach nicht so ist. Es ist in der Tat wichtig, daß die Theologie Gott als "Abgrund" wiederentdeckt (288) und somit sich seine "Unbegreiflichkeit" und "letzte Entzogenheit" wieder bewußt macht (189). Gott ist weithin in unserem verbürgerlichten Christentum und in unserer flachsinnigen Medienwelt zu einer banalen Selbstverständlichkeit geworden und wir haben seine Abgründigkeit ausgeblendet. Der Vf. plädiert zu Recht dafür, daß wir den "Panzer" der "Unangefochtenheit" ablegen, unsere "vollmundige, selbstgewisse Theologensprache" aufgeben und vor der "Unbegreiflichkeit Gottes" verstummen (286). Das Problem in Verkündigung und Unterricht sind - denke ich - die halben Transzendenzen. Nicht selten ist Gott in ihnen zum harmlosen Märchenonkel oder zum ewig lächelnden Weihnachtsmann verkommen.

Auch die "Gesichter Jesu", wie der Vf. sie in Teil C aus der Dichtung skizziert, sind uns fremd geworden und sie zeigen einen ganz anderen Christus als den, den wir gewohnt sind. "Die Diskrepanz zwischen dem Jesus der Literaten und dem Christus von Kirche und Dogma" fällt auf: "hier der Ketzer und Rebell - dort der göttliche Erlöser" (305) - was an Texten von E. Kästner, I. Aichinger, M. Frisch, P. Huchel, H. Böll, A. Seghers, W. Faulkner, C. Aitmatov u. a. aufgewiesen wird. Sie sehen Jesus als den "Vertrauten und doch uns Fremden" (444). "Da das Geheimnis dieser Gestalt sich aller Begreifbarkeit entzieht", wird der von den Dichtern "nur indirekt", in "Stellvertreterfiguren", dargestellt wie bei Frisch als "Marionette" (444). Jesus ist ganz anders als unsere Jesusbilder, die er alle hinter sich läßt, auch im Neuen Testament. Diese "Andersheit und Unfaßbarkeit Jesu" (452 ff.) gilt es wieder neu zu lernen durch die externe Christologie der Dichter. Es gibt keinen harmlosen Jesus. Entweder war er ein Gotteslästerer oder Gottes Sohn. Der Vf. ist sich freilich selber im Weg, wenn er Jesus als "Poet" und "Archepoet" (450) sowie die Evangelisten als "Christopoeten" (449) bezeichnen kann. Das waren weder er noch sie.