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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

831–833

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Orth, Stefan

Titel/Untertitel:

Das verwundete Cogito und die Offenbarung. Von Paul Ricur und Jean Nabert zu einem Modell fundamentaler Theologie.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1999. 507 S. gr.8 = Freiburger theologische Studien, 162. Kart. DM 98,-. ISBN 3-451-26918-X.

Rezensent:

Hans-Christoph Askani

In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren trat P. Ricur in der französischen intellektuellen Landschaft aus dem Schatten, den nicht ein anderer (z. B. C. Lévi-Strauss, M. Foucault, J. Derrida, E. Lévinas), ja nicht einmal in erster Linie die eine oder andere philosophische Strömung, den vielmehr die Differenziertheit seines eigenen Denkens auf ihn geworfen hat. "Compliquons, compliquons encore!" Zu wenig schlagworthaft ist diese Philosophie, zu wenig einordenbar, zu wenig polemisch auch - selbst jenen Denkern gegenüber, von denen sie sich abgrenzt. "Aux frontières de la philosophie" heißt einer der in den 90er Jahren erschienen Bände der "Lectures". Das ist ein Titel, der auf das Ricursche Denken insgesamt zutrifft: Philosophie ist bei sich selbst und kann in unserer Zeit gar nicht mehr anders bei sich selbst sein, als wo sie auf der Grenze - den Grenzen - ist.

Ricur hat dies durchexerziert in Begegnung mit Symbol und Mythos, in Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, mit dem Strukturalismus, mit der Semiotik; innerhalb der Philosophie mit Strömungen, die seinem Denken zunächst fernlagen: der Sprachanalyse etwa, außerhalb der Philosophie mit der christlichen Tradition, vor allem mit der Welt und Sprachwelt der Bibel.

Was Adorno einmal in Bezug auf Tillich dessen "nahezu unbegrenzte Impressionabilität" genannt hat, trifft in fundamentaler Weise nicht nur auf den Umfang der Themen des Ricurschen Denkens, sondern auf die Haltung, die Anstrengung und - mit einem merkwürdigen Wort - die Ehrlichkeit seiner Durchführung. In der Tat, wenn mit einem Wort diese Philosophie zu charakterisieren wäre, dann wäre wohl dies Wort- nicht als moralisches, sondern als Übersetzung des "compliquons, compliquons encore" - das treffendste.

In Deutschland verlief die Rezeption Ricurs anders. Hier gilt er seit langem als einer der wichtigen Hermeneutiker und als Sprachphilosoph, der zur Metapherntheorie ein wegweisendes Werk geschrieben hat. Auch die drei Bände von "Zeit und Erzählung" haben Eingang in die Diskussion gefunden. Die Bedeutung der Husserlschen Phänomenologie und der Reflexionsphilosophie für Ricurs Denken tritt demgegenüber zurück, und das Spätwerk "Das Selbst als ein Anderer" ist in seinem Anspruch, die verschiedenen Stadien der eigenen Entwicklung noch einmal aufzunehmen und in eine Art Synthese zu bringen, unterschätzt.

Mit der Dissertation Stefan Orths liegt eine Darstellung der Ricurschen Philosophie vor, die sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt hat, auch die vernachlässigten Aspekte in die Interpretation aufzunehmen. So ist ein großer Abschnitt nicht nur der in Deutschland am ehesten bekannten mittleren Phase (3. Teil: "Die Hermeneutik Ricurs"), sondern auch dem Spätwerk (4. Teil: "Ricurs Hermeneutik des Selbst") und den frühen Schriften (2. Teil: "Die Verwundungen des Cogito bei Ricur") gewidmet. Eines der Verdienste der Arbeit O.s ist, dass die Philosophie Jean Naberts immer wieder herangezogen wird, nicht nur, um Ricurs eigene Entwicklung besser zu verstehen, sondern um überhaupt einen in Deutschland nur wenig bekannten Denker zu Gehör zu bringen, der in exemplarischer und origineller Weise der Grenzen der philosophischen Rationalität eingedenk diese zum Gegenstand philosophischen Nachdenkens gemacht hat. Es ist bei Nabert nicht zuletzt das Problem des Bösen, an der der Philosophie ihre radikale Heteronomie aufgeht. In Ricurs Philosophie wird dies ein Thema und ein Stachel bleiben, die sein Denken in allen Phasen nicht nur beunruhigen, sondern auch antreiben.

O.s Darstellung der Philosophie Ricurs ist von erstaunlicher Kenntnis des Gesamtwerks - übrigens nicht nur der französischen und ins Deutsche übertragenen Texte, sondern nicht zuletzt auch der auf englisch veröffentlichten - getragen. Die Interpretation zeigt die inneren Zusammenhänge, die offenen Fragen, die immer wieder unter anderer Perspektive behandelten Themen auf, auch die nie vollendeten Ansätze, wie etwa den einer Poetik des Willens, auf die doch die Philosophie des Willens angelegt war - ein Ansatz, der eine Art innerer Unruhe der Ricurschen Philosophie blieb. Der Vf. lässt sich auf die Denkbewegung, genauer: die Denkbewegungen Ricurs in hohem Maße ein, was am ausdrücklichsten in der Auslegung von "Das Selbst als ein Anderer" zum Tragen kommt.

Die Ausrichtung der Dissertation ist aber mit dieser Präsentation des Ricurschen und Nabertschen Denkens nicht erfasst. Der Ansatz ist ein systematischer: Naberts und Ricurs Philosophie sollen in ihrer möglichen Bedeutung für eine Fundamentaltheologie untersucht werden. Der Vf. geht dabei von den fundamentaltheologischen Ansätzen Hansjürgen Verweyens und Thomas Pröppers aus, die jeder auf seine Weise die Notwendigkeit einer Fundamentaltheologie - gegenüber dem, wie sie meinen, zu weitgehenden hermeneutischen Relativismus- hervorheben und ausarbeiten. Der Vf. ist diesen Ansätzen gegenüber kritisch, zeigt insbesondere, dass sie der Hermeneutik jedenfalls in ihrer Ricurschen Spielart - nicht gerecht werden, hält aber doch an der Aufgabe der Ausarbeitung einer Fundamentaltheologie fest, die in gewisser Weise den Rahmen abgibt, innerhalb dessen die Hermeneutik ihren Ort hat oder anders gesagt, die die Hermeneutik - und eben nicht nur die Hermeneutik, sondern die gesamte Philosophie Ricurs - auf die Frage einer möglichen Fundamentaltheologie hin liest und interpretiert. Dieser Aufgabe ist der 5. und 6. Teil des Buches gewidmet.

Im 5. Teil ("Die Philosophie Ricurs angesichts der Offenbarung") werden die im Vorhergehenden durchlaufenen Werke Ricurs in systematischer Absicht wieder aufgenommen und unter zentralen Fragestellungen: Freiheit, Kontingenz, Zeugnis, Offenbarungsverständnis ... auf die Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie hin ausgerichtet. Wie ist Ricurs Insistieren auf der nicht aufhebbaren Differenz eines philosophischen und eines theologischen Diskurses zu vermitteln mit dem Anspruch, "daß es um der Kommunikabilität des Glaubens willen sinnvoll und theologisch unverzichtbar ist, eine philosophische Bestimmung Gottes auszuarbeiten" (444)? Auf einer anderen Ebene gefragt: Wie ist - entgegen einer radikalen Geschichtlichkeit, Kontextualität, in der alles Verstehen nicht nur seine Grenze, sondern auch seine Möglichkeit findet - Letztgültigkeit, universale Geltung zu denken, und wie sind Kriterien zu finden, die ihrerseits das Verstehen leiten und orientieren und die dem Handeln seine eindeutige Ausrichtung geben? Dem Vf. nach bietet Ricurs und vielleicht mehr noch Naberts Philosophie Ansätze, diese Fragen nicht nur anzuerkennen, sondern, wenn auch nicht direkt, so doch in Ausarbeitung des schon Geleisteten, als Projekt einer Fundamentaltheologie zu beantworten.

Dabei werden transzendentalphilosophische und -theologische Ansätze in gegenseitiger Relativierung (oder soll man sagen: Abschwächung?) einander angenähert. Das Vorgehen des Vf.s ist hier, wie mir scheint: notwendig, schwankend. Er versucht an Ricur eine Fragestellung heranzutragen, die nicht die Ricursche ist: das Streben nach einer Letztbegründung, und er zeigt andererseits immer wieder auf, dass von Ricurs Philosophie her die Antwort so einfach nicht gegeben werden kann. Nicht umsonst ist der Ertrag der Interpretationsarbeit in den fünften und sechsten - systematischen - Teil eingegangen. Ja, man kann wohl sogar sagen, dass umgekehrt die Interpretationsleistung des Buches nicht möglich gewesen wäre, wenn sie sich auf eine reine Darstellung Ricurs beschränkt hätte und ihm nicht eine Fragestellung, die ihm äußerlich ist, aufgedrängt hätte. Ist aber eben diese Stärke des Buches nicht gegen Ende auch seine Schwäche?

Muss letzten Endes eine systematische Ausrichtung, die Ricur - trotz aller Vorkehrungen - im Resümee gegen den Strich liest, nämlich unter einer Fragestellung, auf die Ricur ausdrücklich und philosophisch begründet verzichtet, die Komplexität des Ricurschen Denkens hinter sich lassen? Sind denn wirklich Transzendentalphilosophie und -theologie und die Philosophie Ricurs, die auch, wo sie die Grenzen der Hermeneutik anerkennt, noch hermeneutisch vermittelt ist, miteinander zu versöhnen? Kann übergeschichtliches Apriori und radikale Geschichtlichkeit zusammen gedacht werden? Kann Hermeneutik zugleich Hilfswissenschaft und selber fundamental sein? In Bezug auf diese Problemstellungen versucht Orth vereinfachenden Oppositionen und falschen Alternativen nicht zu verfallen. Wie aber sind sie in diesem Fall zu vermeiden?

Der Vf. stellt am Ende des Buches die Frage, "ob eine Hermeneutik des handelnden Selbst ohne die theologische Perspektive überhaupt vollständig wäre" (464). Ricur würde darauf wohl eine doppelte Anwort geben: 1. Nein, sie wäre ohne die theologische Perspektive nicht vollständig und 2. Sie wäre eben eine "Hermeneutik des handelnden Selbst" nicht mehr, wo sie von einer theologischen Perspektive her begründet wäre. - Genau in der unaufhebbaren Differenz dieser beiden Antworten hat der philosophische und der theologische Begriff des "Zeugnisses" seinen Ort, und in ihr hat die nicht nachlassende Komplexität des Ricurschen Philosophierens ihren Antrieb.