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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1235–1237

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Huber, Martin und Gerhard Lauer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bildung und Konfession. Politik, Religion und literarische Identitätsbildung 1850-1918.

Verlag:

Tübingen: Niemeyer 1996. VI, 175 S. gr.8 = Studien und Texte zur Sozialgeschichte in der Literatur, 59. Kart. DM 68,-. ISBN 3-484-35059-8.

Rezensent:

Jan Bauke

Der 60. Geburtstag des ehemals Münchner, jetzt Bonner Germanisten und langjährigen Präsidenten der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) (163.171) Wolfgang Frühwald - bekannt vor allem aufgrund seiner zahlreichen Arbeiten zur deutschsprachigen Literatur des 19. Jh.s (Novalis, Brentano, Eichendorff, Görres, Stifter) und der ersten zwei Drittel des 20. Jh.s (Toller, Reinhold Schneider, Frisch) - war Anlaß für ein Kolloquium vom 20. bis 22. September 1995 in Augsburg. Die dort gehaltenen Referate sind nun unter dem Titel "Bildung und Konfession. Politik, Religion und literarische Identitätsbildung 1850-1918" von Martin Huber und Gerhard Lauer herausgegeben worden. Schon Titel wie Untertitel signalisieren, daß der Band durchaus divergente Aufsätze versammelt, die sich folgendermaßen gruppieren und systematisieren lassen:

a) Klassische Literatur (im Sinne der schönen Literatur) und ihre Funktion für die Ausbildung nationalen Selbstbewußtseins und nationaler Identität behandelt Roger Paulins (Cambridge) Aufsatz ",Shakespeare’s allmähliches Bekanntwerden in Deutschland’. Aspekte der Institutionalisierung Shakespeares 1840-1875" (9-20), der die Grunddaten der ",Nostrifizierung’" (10) und Kanonisierung Shakespeares zum "Muster einer neuen Humanität" (15), zum "Lehrer der Menschheit" (12), ja sogar zum "Dichter des Protestantismus" (14) in der deutschen Literatur seit Lessing und Herder nachzeichnet.

b) Nach den (exemplarischen) Ausführungen Paulins über die Kanonizität von Literatur und ihre Relevanz für die Genese neuer Literatur - in gewisser Weise das Prooemium des vorliegenden Bandes - thematisiert ein erster umfangreicher Block von drei Aufsätzen die Frage der politisch-gesellschaftlichen Identitätsbildung und -förderung in der und durch die Literatur. Alle drei Aufsätze wählen dabei als Paradigma Literatur der deutschsprachigen Schweiz. Michal Böhler (Zürich), "Nationalisierungsprozesse von Literatur im deutschsprachigen Raum. Verwerfungen und Brüche - vom Rand betrachtet" (21-38) verfolgt die "Schwierigkeiten der Dichter mit dem Zusammenhang von Nation und Literatur" (22) zunächst anhand zweier Texte von Robert Walser und Gottfried Keller und rekonstruiert anschließend ein Komplementaritäts- (29-34), Totalitäts- (34-36) und Ambiguitätsmodell (36-38) des Verhältnisses von Nation und Literatur (vgl. 29). Jörg Schönert (Hamburg), "Die ,bürgerlichen Tugenden’ auf dem Prüfstand der Literatur. Zu Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, Die Leute von Seldwyla und Martin Salander" (39-52) und Werner Hahl (München), "Zur immanenten Theorie und Ästhetik des Erlebens in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (erste Fassung 1854/55)" (53-78) wenden sich ausschließlich dem Werk Gottfried Kellers zu. Bemerkenswert ist insbesondere der Essay Hahls, der anhand ausgewählter Passagen aus Kellers "Grünem Heinrich" und ausgehend von der Frage, ob Kellers Roman als Bildungsroman zu bezeichnen ist, für den die Kategorie des Erlebnisses basale Funktion hätte, die Nähe Kellers zum junghegelianischen (56 f.) und feuerbachschen (57 f.) Erlebnisbegriff nachzeichnet. Da nach Feuerbach das Erlebnis am ursprünglichsten im Ritual zur Darstellung kommt (58), richtet der Vf. sein interpretatorisches Augenmerk auf die fiktionalen Rituale im "Grünen Heinrich" (59-61.62-77). Deutlich wird dabei nicht nur, wie stark religiöse und religionsphilosophische Traditionen auf literarisches Schaffen einwirken, sondern auch, welche Relevanz religiöse und theologische Fragestellungen für die literaturwissenschaftliche Arbeit haben.

c) Gewissermaßen den Trennungsstrich zwischen diesem Block der Frage politischer Identitätsbildung in der und durch die Literatur und dem der Frage religiöser Identitätsbildung in der und durch die Literatur bildet der Essay von Luigi Forte (Turin), "Lob der Faulheit. Muße und Müßiggang im 19. Jahrhundert" (79-94), der vor allem anhand Friedrich Schlegels "Lucinde" (83-85), Büchners "Leonce und Lena" (85 f.) und Eichendorffs "Taugenichts" (87-89) darzulegen sucht, daß die Muße im 19. Jh. als Alternative zum extremen Arbeitsethos des 18. Jh.s und als utopischer Versuch, das Leben in Kunst und die Kunst in Leben zu verwandeln (85), verstanden wurde.

d) Mit der Frage der Bildung katholischer Identität in der Krise der Modernität befassen sich die nächsten vier Aufsätze. Die Blickrichtung wendet sich dabei weg von der klassischen Literatur und der literaturwissenschaftlichen Methodik (im engeren Sinne) hin zur konfessionell-katholischen Traktat- und Propagandaliteratur und einer eher literatursoziologischen Fragestellung.

In ihrem Aufsatz "Fürsorgliche Obrigkeit und Lebenswirklichkeit. Die katholischen Dienstbotenzeitschriften Deutschlands 1832-1918" (95-106) zeigt Eda Sagarra (Dublin), daß die diversen katholischen Dienstbotenzeitschriften um die Jahrhundertwende "beredtes Zeugnis vom echten Engagement der kirchlichen Obrigkeit für ihre Leser und Leserinnen und große Einfühlsamkeit in die Lebenswelt dienender Menschen" (106; vgl. auch 99.104) im Zeitalter der Moderne sind.

Dieter Langewiesche (Tübingen) "Vom Gebildeten zum Bildungsbürger? Umrisse eines katholischen Bildungsbürgertums im wilhelminischen Deutschland" (107-132) schildert die Versuche des Akademischen Bonifatius-Vereins, dem protestantischen Bildungsbürgertum zu begegnen und katholische Intellektuelle zu Beginn dieses Jahrhunderts an den deutschen Universitäten zu stärken, zugleich aber auch stärker an die Kirche zu binden (113), ein moderater Versuch einer "Versöhnung von [katholischer] Kirche und Wissenschaft" (114).

Heinz Hürten (Eichstätt) thematisiert in seinem Aufsatz "Karl Muths Hochland in der Vorkriegszeit - oder der Preis der Integration" (133-146) die politische Funktion und Haltung der katholischen Zeitschrift "Hochland" im aufkommenden Nationalsozialismus, die gerade weil sie keinen repräsentativen Querschnitt des katholischen Deutschland, sondern ein Sammelsurium unterschiedlichster Strömungen im deutschen Katholizismus bot, trotz rechtslastiger Tendenzen (insbesondere in Gestalt ihres Mitarbeiters Martin Spahn [139-145]) dem Nationalsozialismus letztlich doch nicht erlag.

Anthony W. Riley (Kingston) "Der Volksschriftsteller Joseph Wittig (1879-1949). Ausklang vom 19. oder Weckruf zum 20. Jahrhundert?" (147-161) schließlich unternimmt in seinem Essay eine Ehrenrettung des - z. B. von theologischer Seite meist heftig kritisierten (154-156) - katholischen Volksschriftstellers Joseph Wittig anhand der autobiographischen Schrift "Leben Jesu in Palästina, Schlesien und anderswo" (1923/1925) (152-154.156-160), einer "Vermischung von der Selbstbiographie des Autors mit ausgewählten Episoden aus dem Leben des Heilands" (153).

e) Gänzlich aus dem Rahmen des Aufsatzbandes scheint der erfrischend zu lesende Schlußessay von Werner Welzig (Wien) "Text ohne Kontext oder Germanistik als verhüllendes Geschäft. Referat in zwei Vorbemerkungen, zwei Bemerkungen und zwei Anmerkungen" (162-172) zu fallen, der u. a. anhand Wolfgang Schönes vielgerühmter Edition und Kommentierung von Goethes "Faust" aufzeigt, daß Kommentare oft wenig für die Interpretation eines Textes austragen, weil sie den konkreten Kontext des Textes ausblenden oder vernachlässigen und so ihres "Sitzes im Leben" berauben (166). "Das Vertrackte an solcher Art von Gelehrsamkeit ist, daß dem Leser ein Wissen geboten wird, das zwar für sich korrekt, für den kommentierten Roman aber unbrauchbar ist. Was der Germanist beiträgt, erhellt nicht, sondern verhüllt" (165). In gewisser Weise ist damit eine - zweifelsohne hohe - Meßlatte für alle Aufsätze auch des vorliegenden Bandes benannt. Theologischer Reflexion mag sie zugleich als Hinweis darauf dienen, daß auch und gerade dort, wo das trotz (oder vielleicht gerade aufgrund) zahlloser Veröffentlichungen meist unübersichtliche Geflecht von Religion und Literatur zur Debatte steht, in erster Linie Erhellendes vonnöten ist. Zufriedenstellend geklärt nämlich ist das komplexe Verhältnis von Religion und Literatur auch nach dem vorliegenden Band nicht.