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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

819–822

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Wecht, Martin Johannes

Titel/Untertitel:

Jochen Klepper. Ein christlicher Schriftsteller im jüdischen Schicksal.

Verlag:

Düsseldorf-Görlitz: Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland 1998. XIV m. 2 Taf., 658 S. 8. ISBN 3-930250-11-X.

Diese theologische Dissertation aus Heidelberg (1996) ist auf einer breiteren Quellenbasis erarbeitet worden als die bisherige Klepperforschung sie erschlossen bzw. in Anspruch genommen hat. Das betrifft die umfängliche Auswertung des zu größeren Teilen noch unbearbeiteten Nachlasses von Jochen und Johanna Klepper aus dem Marbacher Literaturarchiv (Tagebücher, Korrespondenz, Manuskripte, Exzerpte, Zeitungsausschnitte, dazu Predigtkonvolute des Vaters Georg Klepper). Das betrifft ebenfalls solche Materialien, die W. in weiteren Archiven und im Kreis der Zeitzeugen aufgespürt hat. Eine Auswahl aus diesem Quellenvorrat bietet W. in einem Anhang, der etwa ein Drittel des ganzen Buches ausmacht (363-587).

Außerdem hat W. der weiteren Forschung durch ausführliche archivalische und bibliographische Verzeichnisse vorgearbeitet: Während man etwa in Rita Thalmanns erster umfassender Klepper-Biographie (1977 u. ö.) ein Verzeichnis der kleinen Zeitschriftenbeiträge, der Rezensionen und der Aufsätze Jochen Kleppers sehr vermisste, ist dieser Teil des Werkes, vornehmlich zur Breslauer Kirchen- und Berliner Funkpublizistik gehörig, jetzt auf neun Seiten bibliographiert (601-610). Dort sind auch die Erstdrucke der geistlichen Lieder nachgewiesen.

Die Hauptquelle für die Deutung von Leben und Werk Jochen Kleppers bleiben freilich seine Tagebücher. Als sie 1956 in der umfangreichen, von Benno Mascher besorgten Auwahl "Unter dem Schatten deiner Flügel" erschienen waren, musste man damit rechnen, dass dort nichts Wesentliches fehle. Aber diese Meinung wurde spätestens durch die zahlreichen Zitate Rita Thalmanns aus den bis dahin unbekannten Tagebuchmanuskripten widerlegt (Siglum bei Thalmann: TBM). Die Dissertation W.s zeigt vollends, dass das Leben Kleppers nur mit Rückgriff auch auf diese unveröffentlichten Tagebuchpassagen differenziert genug nachgezeichnet werden kann (Siglum bei Wecht: TU). Allerdings reicht der freigelegte Quellenbefund als solcher noch nicht aus. Denn natürlich unterliegt er der Deutung, und die ist mitbestimmt durch den Standort, von dem aus die Befragung erfolgt, außerdem durch externe Gesichtspunkte, die dabei zugelassen oder zurückgewiesen werden. W. nähert sich dem Bild und Werk Kleppers als Theologe, und seine Kritik an der viel besprochenen Zwiespältigkeit Kleppers in der politischen Beurteilung des als staatliche Obrigkeit auftretenden, aber die Staatsgrundlagen verhöhnenden Nationalsozialismus ist primär theologisch, nicht politologisch oder psychologisch, angelegt. Hier liegt neben der systematisch erweiterten Quellenbasis der wesentliche Unterschied seiner Arbeit zum Werk von Rita Thalmann. Was die Eleganz der Darstellung angeht, bleibt er allerdings hinter dem berühmten Buch der französischen Germanistin deutlich zurück.

W. bearbeitet seinen Stoff in folgenden Hauptteilen: II. Der familiäre Hintergrund (1892-1921), III. Studienjahre (1922-1926), IV. Aufbau der beruflichen und familiären Existenz in Breslau (1927-1931), V. Vom Vorabend der Machtergreifung bis zu den Nürnberger Gesetzen (1932-1935), VI. Von den Nürnberger Gesetzen bis zum Judenpogrom "Reichskristallnacht" (1935-1938), VII. Vom Vorabend des zweiten Weltkrieges bis zu Jochen Kleppers Zwangsentlassung aus dem Heer (1939-1941), VIII. Die letzten Monate im Leben der Familie Klepper (1941-1942). Gerahmt werden diese biographischen Teile durch die dem Forschungsstand und der eigenen Methode gewidmete Einleitung (I.) und durch eine Untersuchung zur Frömmigkeitsstruktur Jochen Kleppers (IX). Die Würdigung des literarischen Werkes läuft etappenweise in den Hauptteilen V bis VII mit.

Teil II setzt schon 1892 ein. Damals übernahm Georg Klepper sein Pfarramt in Beuthen an der Oder, das er fast 40 Jahre lang innehatte. Im Marbacher Nachlass Jochen Kleppers befinden sich drei Bände mit handgeschriebenen Predigten seines Vaters, und W. fordert zu Recht, sie müssten unter der Frage eines möglichen theologischen Einflusses von Georg auf Jochen Klepper untersucht werden. Er selbst tut es ansatzweise anhand einer Predigt zum Kaisergeburtstag 1892. W. resümiert: Die Predigten lassen nicht auf eine judenfeindliche Gesinnung des Vaters schließen (17). Das durch die Ehe Jochen Kleppers mit der Jüdin Johanna Stein geb. Gerstel ausgelöste Zerwürfnis mit der Familie in Beuthen hat also keinen theologischen Antijudaismus zum Hintergrund. Auch die politische Einstufung der Predigten als "deutsch-national" (17) meint W. ausschließen zu können: Das Wissen des Predigers um die Verantwortung der Obrigkeit vor Gott dulde keinen "Aufruf zur kritiklosen Unterordnung" (20). Insoweit sei die Obrigkeitssicht des Sohnes durch die Einstellung des Vaters positiv vorgeprägt worden. Doch ich bezweifele, dass der Prediger Georg Klepper hinsichtlich seiner politischen Haltung damit schon genau genug charakterisiert ist.

Die Kaisergeburtstagspredigt 1895 (zu finden in einem vierten Predigtkonvolut Georg Kleppers, das sich noch nicht im Marbacher Literaturarchiv befindet und das W. bisher auch nicht einsehen konnte) geht so weit, dass sie die Respektierung der göttlichen Autorisierung des Monarchen und damit die Treue zu Kaiser und Reich zum Kriterium für alles Kämpfen macht, das sich auf den Namen Gottes berufen könnte. Wer nicht kaisertreu kämpft, kämpft auch nicht im Namen Gottes! Ähnlich aufschlussreich ist im gleichen Konvolut eine Predigt über die Zinsgroschenperikope. Die bürgerlichen Pflichten, die der Prediger in großer Ausführlichkeit behandelt, stehen in Deutschland, im wohl "bestorganisierten Staate der ganzen Erde", den Pflichten gegen Gott nicht entgegen: Der Welt geben, was der Welt ist - und Gott das Herz! Diese auf nationale Eintracht bedachte Predigt hat Georg Klepper von 1895 bis 1926 sechsmal gehalten! Nun sind mehrfache Wiederholungen des einmal sorgfältig Ausgearbeiteten bei ihm die Regel. Ist das an sich schon eine bezeichnende Praxis - im Falle der Zinsgroschenpredigt, die über Kaiserzeit, Weltkrieg und Revolution hinweg bis in die Weimarer Republik die unverändert gleiche bleibt, ist es doch wohl eine homiletische Katastrophe. Will man überhaupt voraussetzen, die Predigtpraxis des Vaters habe das Urteil des Sohnes beeinflusst, so muss man schließen: Kleppers Abneigung gegen politisch aktuelle Predigten von BK-Pfarrern in Berlin, und seien es die von Helmut Gollwitzer, hat auch mit der Mitgift aus Beuthen zu tun.

Eine andere Linie, auf der der Vater für den Sohn wichtig geworden ist, führt auf die herrenhutische Tradition zurück. Kleppers persönlicher Bibelumgang wurzelt in der Frömmigkeit der Brüdergemeine, die schon in der Biographie des Vaters eine Rolle gespielt hatte. Vor allem aber geht es W. um die Prägungen, die Klepper durch drei theologische Lehrer aus der Breslauer Studienzeit erfuhr: Erich Schaeder, Ernst Lohmeyer und Rudolf Hermann. Der Einfluss Hermanns hat in der Klepperliteratur von Anfang an Aufmerksamkeit gefunden und ist dann immer detaillierter erfragt worden (F. Buschbeck, J. Henkys, H. Assel). W. vertieft diesen Zusammenhang, indem er besonders auf Hermanns Verständnis der Theologie Luthers und seiner simul-Formel eingeht. Hermanns Akzente in der reformatorischen Lehre von Sünde und Rechtfertigung (349 ff.), Lohmeyers Zugang zum Judentum und seine Forschungen zur Idee des Martyriums (340 ff.) und schließlich - bisher für diesen Zusammenhang nicht beachtet - Schaeders "Theozentrische Theologie" (334 ff.) haben in Klepper die Momente der biographischen Mitgift verstärkt, die für Einkehr und Beugung sprachen. "Im Mittelpunkt seines theologischen Denkens, wie es das Tagebuch wiedergibt, steht nicht die Gnadenverkündigung des im Kreuzestod Jesu Christi sich vollziehenden ,für uns' und auch nicht die österliche Freudenbotschaft, sondern das geradezu erdrückende Sündenbewußtsein ...". (337)

Um so überraschender der Grundton und die Wirkung der "Kyrie"-Lieder: "Trotz seines geängsteten Glaubens gelang es Klepper gerade in seinen Kirchenliedern, diese Ängste und damit verbunden auch seine theologische Fundamentierung zu überwinden" (338). Die Besonderheit seiner Liedersprache besteht darin, "daß er dem Leser seine eigenen, aus der Not der Zeit geborenen Ängste und Fragen anvertraut". Wer sich darin wiederfindet, vernimmt auch den Trost, der von diesen Versen ausgeht (339). Allerdings kann ich W. nicht folgen, wenn er im gleichen Zusammenhang resümiert: "Lob und Klage werden in der Kirchenlieddichtung Kleppers zu gleichgewichtigen Glaubenszeugnissen des Christen, mit denen er sich vorbehaltlos an Gott ... wenden darf." Das Urteil "gleichgewichtig" scheint mir den Sachverhalt zu vereinfachen. Kleppers Liederlob trägt die Spuren verarbeiteter, besser: überwundener Klage an sich, aber die Klage selbst bleibt meist ausgeschlossen. Eine genauere Untersuchung der Klepper-Lieder unter der Frage nach dem Verhältnis von Klage und Lob - ebenso von Zeit und Heil - könnte wohl verständlicher werden lassen, inwiefern die Texte, trotz ihrer breiten Repräsentanz im Gesangbuch, heute bei einigen Kirchenliedliebhabern auch auf Vorbehalte stoßen.

W.s Buch ist durchweg Bericht und Deutung: Bericht über Kleppers Lebensweg und über sein literarisches Werk, jeweils begleitet von Interpretationen, gelegentlich auch von Wertungen. Es kann nicht Aufgabe dieser kurzen Besprechung sein, weitere Einzelheiten aufzugreifen und zu kommentieren. Ich hebe stattdessen zwei Gesichtspunkte aus W.s "Rückblick und Ausblick" hervor.

Der erste ist ein literarisch-zeitgeschichtlicher. An Kleppers vehementer und von Anfang an auffälliger Ablehnung des Nationalsozialismus kann gar kein Zweifel sein. Neben die bekannten Belege aus den veröffentlichten Tagebüchern treten in W.s Buch zahlreiche weitere aus den unveröffentlichten. Wie ist aber zu erklären, dass er bis zu seiner Soldatenzeit, die ja mit der Entlassung wegen Wehrunwürdigkeit endete, hoffte, er könne Frau und Tochter auch ohne Emigration vor dem Mahlstrom der Vernichtung bewahren? Eine der hier möglichen Deutungen besagt: Der außerordentliche Erfolg des Romans "Der Vater" bis hinein in die staatstragenden Kreisen trübte sein Urteil hinsichtlich der Wandlungsfähigkeit des politischen Systems (360). Das wohlwollende nationalkonservative Echo galt aber nichts gegenüber der nationalsozialistischen Machtmaschinerie, die, einmal in Schwung gekommen, gerade mit Hilfe oder Duldung auch der ,guten' Deutschen bis zum bösesten Ende funktionierte.

Der andere Gesichtspunkt ist ein biographisch-theologischer: W. hat genau nachgezeichnet, mit welch erschöpfender Energie Jochen und Hanni Klepper 1941/42 versuchten, der Deportation der Tochter Renate, die den gelben Stern trug, durch die Auswanderung Richtung Schweiz oder Schweden doch noch zuvorzukommen. Von einer bloßen Ergebung in das seit 1941 Unvermeidliche kann nicht die Rede sein. Überhaupt, so W., war das Leben Kleppers "von einer unglaublichen Aktivität getrieben" (359). Aber er hat den Seinen und sich selbst das Leiden unter dem Judenhass des NS-Systems einmal so gedeutet: "Als Gott in Christus Mensch wurde, wollte er den Juden gleich sein. Wer als Christ, der nach ihm heißt, unschuldig leidet in dem ,Gleichwerden' seines Schicksals mit dem Christi unter [d.h. an und mit] dem Judentum, erlebt ein in die letzten Tiefen reichendes Ähnlichwerden mit Christus; ihm ähnlich zu werden- nicht in Gewolltem, sondern von Gott Auferlegtem - ist allein der Sinn unseres Daseins." (Brief an Hanni Klepper vom 15.9.1941; zitiert 359, 361.) Diese Sätze sind für W. ein abschließender Schlüsseltext (vgl. auch die Formulierung des Untertitels), und mit Berufung darauf nimmt er Jochen Klepper, der kein Widerstandskämpfer, sondern ein ,Stiller im Lande' war, der "an der Seite der unschuldig leidenden, verfolgten, geschändeten und millionenfach ermordeten Juden" in dem ,Gleichwerden' des eigenen Schicksals mit dem Christi den Sinn seines Daseins erkannte, als ein bis heute beredtes Beispiel der "Nachfolge Jesu Christi" (361) in Anspruch.