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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

816 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Kohlschein, Franz, u. Peter Wünsche [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Heiliger Raum. Architektur, Kunst und Liturgie in mittelalterlichen Kathedralen und Stiftskirchen.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1998. XXVII, 394 S. gr.8 = Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, 82. Kart. DM 128,-. ISBN 3-402-04062-X.

Rezensent:

Gerlinde Strohmaier-Wiederanders

Dass mittelalterlicher Kirchenbau in engem Zusammenhang mit der mittelalterlichen Liturgie gestaltet wurde, ist heute allgemeine Überzeugung. Doch wie dieser Zusammenhang konkret aussah, bleibt meistens offen. Das kann nicht verwundern, denn um zu schlüssigen Aussagen zu kommen, ist penible Detailarbeit nötig, die sich zunächst auch nur jeweils auf einen bestimmten Ort, eine bestimmte Kirche beziehen kann. Die als 82. Band der "Liturgiewissenschaftlichen Quellen und Forschungen" erschienenen und hier zu besprechenden Untersuchungen machen sich an diese Arbeit. Grundlage - und das gilt für alle Autoren dieses Sammelbandes - ist der mittelalterliche Liber Ordinarius, der für sehr viele Kathedralen und Stiftskirchen heute noch erhalten ist, wenn auch nicht immer editiert. Die Anlage des Bandes ist ausgesprochen benutzerfreundlich. Ein ausführliches Quellenverzeichnis ist vorangestellt, alle Aufsätze sind gleich gegliedert, und die Gliederung ist auch jeweils vorangestellt. Das macht das mögliche Vergleichen leichter. Untersucht wurden die LO von Bamberg, Trier, Münster, Köln, Essen, Breslau, Prag. Abgeschlossen wird alles durch eine sehr umfang- und deshalb hilfreiche Auswahlbibliographie von C. Kosch zu Liturgie, Bildender Kunst und Architektur des MA.

Den einleitenden Aufsatz verfasste einer der beiden Herausgeber, F. Kohlschein. Er verweist auf die wesentlichen und grundsätzlichen Aspekte, die sich bei der Untersuchung der LO bei aller Verschiedenheit ergeben. Dazu gehört, was die LO als Quellen betrifft, die Rolle der Domkapitel bei der Abfassung und weiter die volkssprachlichen und volkstümlichen Elemente, worin sich die LO von anderen liturgischen Büchern unterscheiden. Das macht ihren besonderen Quellenwert für die Geschichte der Frömmigkeit aus. Das begründet auch den Zusammenhang mit der Architektur mittelalterlicher Kirchenbauten, die in Korrespondenz mit der Liturgie Anschaulichkeit theologischer Zusammenhänge vermitteln sollten. K. gebraucht dafür den Begriff "Gedächtnisfigur" bzw. "kulturelles Gedächtnis" (11). Edgar Lehmanns 1962 veröffentlichte Untersuchungen zur "Kirchenfamilie" haben dafür bereits wichtige Grundlagen geliefert, an die hier angeknüpft wird. Für Architektur und Liturgie gleichermaßen bedeutsam als Gedächtnisfiguren erscheinen Jerusalem und Rom. Das ist zwar schon lange bekannt, aber es erfährt hier nicht nur eine erneute Bestätigung, sondern kann durch viele Einzelnachweise in den LO so herausgestellt werden, dass man sie zum Grundmuster mittelalterlicher Religiosität machen muss. Dazu gehört noch der Topos der Grabeskirche, denn die mittelalterliche Liturgie und Frömmigkeit lebt immer noch entscheidend vom Osterereignis her. Dies wird auch durch alle folgenden Untersuchungen bestätigt. In welcher Stadt auch immer, ob Kathedrale oder Stiftskirche, die Osterliturgie nimmt überall den Charakter eines geistlichen Osterspiels an. Selten bekommt die Liturgie einen so umfassend szenischen Charakter wie zu Ostern unter Einschluss der vorangegangenen Karwoche und des Palmsonntags.

In welcher Weise der mittelalterliche Kirchenbau und seine Ausstattung in einer Wechselbeziehung zur Liturgie stehen, wird bei P. Wünsches Darlegung der Bamberger Kirchentopographie deutlich. Drei Punkte mögen hier erwähnt werden: 1. Konstitutives Element des mittelalterlichen Gottesdienstes sind die Prozessionen. Die Art ihrer Durchführung, Beginn, Ziel, Zwischenstationen differenzieren sie nicht nur nach Kirchenjahr und liturgischer Rangordnung, sondern schaffen die Voraussetzungen für unterschiedliche Portale, Standorte der Altäre, Kapellen und der Chöre. 2. Die Prozessionen der mittelalterlichen Liturgie beschränken sich nicht auf den Kirchenraum in seiner Gänze, sondern beziehen andere Kirchen und den ganzen Stadtraum mit ein. 3. Westanlagen, die wir uns angewöhnt haben, ausschließlich mit dem weltlichen Herrscheramt in Verbindung zu bringen, gründen sich in erster Linie in ihrer liturgischen Funktion und erhalten von daher ihre Aufgaben. Daraus folgt, dass die gängige These von der Verbindung Herrscher-Westanlage neu untersucht und differenziert werden muss. Das Aachener Modell, wovon in der Regel ausgegangen wird, kann nicht systematisch auf andere Bauten übertragen werden.

Es lassen sich nicht alle Aufsätze hier behandeln. Nur auf einige Aspekte, die zur Weiterarbeit am Thema besonders herausfordern, soll hingewiesen werden. F. Ronig weist für Trier mit seiner berühmten Doppelanlage von Dom und Liebfrauen nach, dass es eine liturgische Topographie gab, für die nicht nur die einzelnen Kirchen im Stadtbereich, sondern ihre Gräber und Reliquien die Struktur gaben. Im Westchor des Münsteraner Domes (B. Kranemann) befand sich seit dem 14. Jh. das Taufbecken (124). Westanlagen als Orte der Taufe sind auch aus anderen Kirchen bezeugt, aber das heißt nicht, dass das überall der Fall sein muss. Statt dessen kann man von sehr unterschiedlichen Funktionen ausgehen. In der Stiftskirche von Essen (J. Bärsch) begann im Westwerk die Vorprozession zu Palmsonntag. Außerdem befand sich auf der Westempore das Heilige Grab, das den Ausgang der Osterprozession bildete. Bei vielen liturgischen Handlungen wurde auch der um die Kirche angelegte Friedhof mit einbezogen, so in Münster und Essen.

Einen Zusammenhang zwischen Liturgie und Landesherrschaft gibt es, wenn Landespatrone eine besondere und zu einer bestimmten Zeit verstärkte kultische Verehrung genießen. Das scheint bei St. Veit in Prag der Fall zu sein, wo die Intensivierung der Verehrung des Heiligen Adalbert zur Stiftung neuer Feste und Sängerkollegien im 14. Jh. geführt hatte (F. Machilek). Für Prag wird auch der Anteil dargelegt, den die einzelnen Erzbischöfe im 14. Jh. an Reformbewegungen hatten, die sich dann eben liturgisch auswirkten. Etwas mehr hätte wohl dabei auf Johann von Jenstein eingegangen werden können, dessen Theologie während der Herrschaft der Luxemburger sich auf die künstlerische Gestaltung des Veitsdomes ausgewirkt hat.

Ein Schlussaufsatz (A. Gerhards) versucht, aus liturgiegeschichtlichen Untersuchungen Anregungen für die Gegenwart zu entwickeln. Die wichtigste Erkenntnis ist wohl, dass es einen Zusammenhang von Raum und Liturgie geben muss, um Inspiration und Kommunikation, ein wichtiges Bedürfnis der Gegenwart, zu ermöglichen. Das ist ein Ansatz, der auch im Protestantismus reflektiert werden könnte.