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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1234 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Fischer, Kurt von

Titel/Untertitel:

Die Passion. Musik zwischen Kunst und Kirche.

Verlag:

Kassel-Stuttgart-Weimar: Bärenreiter-Metzler 1997. 145 S. gr.8. Lw. DM 48,-. ISBN 3-7618-2011-9.

Rezensent:

Meinrad Walter

Zu den Merkwürdigkeiten der Musikwissenschaft zählt die Tatsache, daß sie vor dem hier zu besprechenden Werk noch nie eine Gesamtdarstellung der ebenso bedeutsamen wie an Fragen und Perspektiven geradezu überreichen musikalischen Gattung der Passion hervorgebracht hat. Die Geschichte der Passionsmusik umfaßt bekanntlich weit mehr als tausend Jahre, von ersten Zeugnissen des Kirchenvaters Augustinus und der Jerusalempilgerin Egeria bis zu den jüngsten Werken etwa von Oskar Gottlieb Blarr (Jesus-Passion 1985) oder Arvo Pärt (Johannespassion 1982/85). Diese stilistisch komplexe Materialfülle ist in Wort (Bibelwort, Dichtung) und Ton (vokal, vokal-instrumental, aber auch rein instrumental) kaum noch zu überblicken, ja es scheint, daß die Passionsmusik sogar die Meßvertonung an Vielfalt überragt.

Kurt von Fischer, der Nestor der Schweizer Musikwissenschaft, der sich seit den fünfziger Jahren intensiv mit Einzelaspekten der Passionsmusik befaßt, schließt die Lücke einer Gesamtdarstellung der in sich vielschichtigen Gattung nun mit diesem relativ knapp gehaltenen, dabei aber äußerst klaren, gedankenreichen und im besten Sinne interdisziplinären Buch, das mit Recht zum Standardwerk avancieren wird. Er bietet einen wissenschaftlichen Zugang zur Passionsmusik, der mehr einem das Hören und Verstehen bereichernden Durchblick gleicht als einem aufzählenden Überblick. Das Komponieren von Passionsmusik versteht der Vf. als einen rezeptionsgeschichtlichen Vorgang, in dessen Zentrum die biblisch bezeugte Passion Jesu Christi steht und der in allen Epochen eng mit den Entwicklungen in Theologie, Frömmigkeit, Liturgie, Literatur, Kunst und Gesellschaft zusammenhängt. Aus dieser interdisziplinären Grundentscheidung resultiert eine umfassende, den musikalischen Horizont beständig erweiternde und bereichernde Problemgeschichte des Komponierens und Aufführens von Passionsmusik. Bereits der Untertitel "Musik zwischen Kunst und Kirche" deutet an, daß es nicht um eine rein ästhetische Betrachtungsweise geht, deren Darstellung sich in stilistischen Überblicken oder Formanalysen erschöpfen könnte. Vielmehr geht es um die musikalischen Werke mitsamt ihren jeweiligen Horizonten, etwa dem liturgischen oder konzertanten "Sitz im Leben", den Bezügen zur Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte (Christus als Triumphator oder Schmerzensmann), den Wechselwirkungen zwischen Musik und bildender Kunst bis hin zu den Einflüssen der politischen und kirchenpolitischen Situation (Stichwort Antijudaismus) auf die Passionsmusik.

Besonders deutlich wird die Spannung von "Kirche" und "Konzert" etwa bei J. S. Bachs Passionen, die bekanntlich spätbarocke Gipfelwerke der Gattung darstellen. Kurt von Fischer akzentuiert die ursprüngliche liturgische Bestimmung der Matthäus-Passion für den Leipziger Vespergottesdienst des Karfreitags 1727 (oder 1729), um auf diesem Hintergrund den bürgerlich-konzertanten Charakter ihrer Wiederentdeckung durch Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahr 1829 abzuheben. Beim ersten Aspekt wäre jedoch zusätzlich zu überlegen, ob die konkreten Leipziger Umstände, etwa der Verkauf von Textbüchern, nicht bereits auf das Konzert vorausweisen, so daß bereits hier von einem konzertanten Gottesdienst bzw. einem liturgischen Konzert zu sprechen wäre.

Aufschlußreich ist die Darstellung des 20. Jh.s, in dem erstmals eine Fülle höchst divergierender Einzellösungen an die Stelle früherer eindeutiger und allgemeingültiger Typologien tritt. Der Vf. skizziert die Hauptwerke prägnant und verständlich: von retrospektiven (Distler u. a.) über avantgardistische Lösungen (Penderecki) bis zur unmittelbaren Gegenwart der Werke von Penderecki, Blarr, Zacher und Pärt.

Hervorzuheben ist schließlich die erlesene Ausstattung des Buches mit zahlreichen Notenbeispielen und Farbtafeln; verbesserungsfähig wären allenfalls einige wenige Druckfehler und Formulierungen in der speziell theologischen Terminologie (Bach und der Pietismus z. B.). Dieses erste musikwissenschaftliche Werk über die gesamte Entwicklung der Passionsmusik ist ein großer Wurf. Es füllt nicht nur eine Lücke in der Musikwissenschaft, sondern es erschließt auch exemplarisch ein wichtiges Kapitel der musikalischen Bibelauslegung. Und nicht zuletzt setzt Kurt von Fischer mit diesem Alterswerk einen hohen Maßstab für die im interdisziplinären Spannungsfeld von Musikwissenschaft und Theologie sich bewegende Darstellung geistlicher Musik.