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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

793–796

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Bookhagen, Rainer

Titel/Untertitel:

Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus. Mobilmachung der Gemeinden. I: 1933 bis 1937.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 647 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B, 29. Geb. DM 148,-. ISBN 3-525-55729-9.

Rezensent:

Volkmar Wittmütz

Die außerordentlich detaillierte und umfangreiche Studie, eine überarbeitete Dissertation der Berliner Kirchlichen Hochschule, füllt in der Geschichte der Diakonie während des "Dritten Reiches" eine Lücke, die sich in der vergangenen Jahren zunehmend deutlicher bemerkbar gemacht hatte. Vermutlich wegen der Nähe zur Holocaust-Problematik war bislang die Aufmerksamkeit der Historiker vor allem den Problemen der Sterilisation und der Euthanasie sowie dem Anteil, den die evangelische Vereins- und Anstaltsdiakonie an diesen beiden Maßnahmen hatte, zugute gekommen. Dass die Innere Mission auch in jenen Jahren aber daneben noch auf zahlreichen anderen Arbeitsfeldern tätig war, ist durch diese Konzentration auf das Schicksal von "Behinderten" ein wenig in den Hintergrund getreten. Die Studie Bookhagens zur Geschichte der evangelischen Kinderpflege trägt wesentlich dazu bei, dass die Perspektiven und Proportionen diakonischer Arbeit im "Dritten Reich" wieder zurechtgerückt werden.

Der Vf. bemüht sich mit Erfolg um eine unvoreingenommene Darstellung und Analyse der Kinderpflege, also des evangelischen Kindergartens, im Spannungsfeld von christlicher Gemeinde, freier Wohlfahrtspflege, Nationalsozialistischer Volkswohlfahrt und NS-Staat. Die historischen Fakten der mit dem Gegenstand befassten Einrichtungen, Organisationen und Behörden stehen im Zentrum; die führenden Persönlichkeiten werden gleichfalls ausführlich gewürdigt. Der Vf. lehnt ausdrücklich ab, seine Quellen unter einem bestimmten Blickwinkel, etwa einer "widerstandsgeschichtlichen Perspektive", zu sichten und zu befragen. Allerdings steht dazu in einem gewissen Widerspruch, dass er - zumindest in der Einleitung zu seiner Studie - das volkskirchliche Widerstandsmodell der "Leipziger Schule" Kurt Meiers zu favorisieren scheint, was jedoch seiner materialgesättigten Studie kaum einen Stempel aufdrückt.

Bereits seit dem Ende des 18. Jh.s, seit der Beschäftigung einer "Aufseherin über die zarte Jugend" im Steintal im Elsass, in der Gemeinde Johann Friedrich Oberlins, ist der Kindergarten ein wichtiges Arbeitsfeld der evangelischen Gemeinde. 1929 konnte der 150-jährige "Geburtstag" dieser Einrichtung mit einigem Aufwand gefeiert werden. Der Vf. beginnt seine Analyse mit den Einzelheiten dieser Feier in Dresden, aus denen er konsequent und schlüssig die Position der "Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege", der darin zusammengeschlossenen Verbände, Vorstände und Geschäftsführer sowie der evangelischen Kirche allgemein gegenüber Staat und Gesellschaft, aber auch der Wissenschaft, zum Beispiel der Reformpädagogik der Weimarer Republik, entwickelt. Die evangelische Kinderpflege wie die evangelische Kirche waren geprägt von einer durch starren Konservativismus beeinflussten Reserviertheit gegenüber der 1929 schon gar nicht mehr neuen politischen Ordnung bei gleichzeitiger Inanspruchnahme aller Vorteile, die das soziale System damals den freien Trägern der Wohlfahrtspflege bot. Die wirtschaftliche Not und die darauf erfolgende Reduktion staatlicher Unterstützung in der späten Weimarer Republik verschärfte noch diese Konfrontation zwischen der Kirche und einem angeblich kirchenfeindlichen Staat.

Sehr ausführlich geht der Vf. ein auf den "vaterländischen und weltanschaulichen Aufbruch" 1933, auf seine Auswirkung auf evangelische Kirche, Innere Mission und Kinderpflege, sowohl auf der Leitungsebene in Berlin wie in den Gemeinden auf dem Lande, etwa in den Einrichtungen der Inneren Mission in einzelnen deutschen Städten, die von eifrigen Anhängern der DC oder der NSV gelegentlich "übernommen" wurden. Der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und ihren Auseinandersetzungen mit der Inneren Mission in jenem Jahr 1933 hat der Vf. ein ausführliches und besonders gelungenes Kapitel (158 ff.) gewidmet und dabei zahlreiche Einzelheiten aus vielen evangelischen Gemeinden zu Tage gefördert. Die NSV beanspruchte nicht allein den Führungsanspruch in der sozialen Arbeit, sie war in jener Zeit auch bemüht, sich die anderen freien Träger der Wohlfahrtspflege, vor allem die konfessionellen, gewissermaßen einzuverleiben. Später stand dann eine Aufgabenteilung zwischen der NSV und den konfessionellen Einrichtungen zur Diskussion, wobei erstere die sogenannten "Gesunden" beanspruchte und den kirchlichen Werken die sogenannten "Kranken" überlassen wollte, deren Verschwinden durch die Maßnahmen der NS-Sozialpolitik sich sowieso bald einstellen würde. Diese Einteilung, die sich auch auf die Kinderpflege erstrecken sollte, wurde von der Inneren Mission nie akzeptiert.

In dem Maße, in dem die Deutschen Christen nach der Sportpalastkundgebung im November 1933 an staatlichem und parteilichem Rückhalt verloren, wurde die NSV gegenüber der Inneren Mission fordernder und "angriffslustiger", so dass diese sich in verstärktem Maße des Rückhalts der verfassten Kirche versichern musste, also nicht allein die konfessionellen, sondern vor allem die ekklesiologischen Grundlagen ihres sozialen Handelns zunehmend stärker betonte. Diesen Prozess hat der Vf. deutlich herausgearbeitet; ob er allerdings schon ausreicht, um eine "Ähnlichkeit des theologischen Denkens" zwischen der Inneren Mission, etwa bei ihrem umstrittenen Direktor Schirmacher, und den theologischen Erklärungen der Bekennenden Kirche von Barmen und Dahlem festzustellen, in denen die Ekklesiologie ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt - diese angebliche "theologische Ähnlichkeit" (187) zu behaupten, scheint mir doch etwas gewagt.

Es ist besonders verdienstvoll, dass der Autor die zahlreichen Auseinandersetzungen um eigenständige evangelische Kindergärten nicht nur auf der Ebene der "leitenden Männer" Profil gewinnen lässt, sondern bis in zahlreiche Gemeinden hinein verfolgt hat. Häufig war dort die Bereitschaft, sich gegen die Forderungen der NSV, etwa zur Schließung eines konfessionellen Kindergartens und Unterstützung der entsprechenden NSV-Einrichtung, zur Wehr zu setzen, stärker ausgeprägt als in den von taktischen und politischen Erwägungen durchsetzten Verbänden und dem Central-Ausschuss. Die Gemeinden waren zunehmend bereit, sich auch finanziell dafür zu engagieren. Sie und die Innere Mission suchten - ganz generell - den Schutz und die Hilfe der Kirche, einer Kirche, die seit 1935 von den Kirchenausschüssen regiert und repräsentiert wurde. Denn die Innere Mission arbeitete eng mit den Kirchenausschüssen zusammen; schon die Person des Vorsitzenden des Reichskirchenausschusses legte dies nahe - Zoellner war ehemaliger Vorsteher von Kaiserswerth und Vorsitzender des westfälischen Provinzialausschusses für Innere Mission. Der Vf. macht aber auch in diesem Verhältnis und bei den "Außenstehenden", den DC und der 2. VKL der BK, unterschiedliche Positionen deutlich und spürt mit großer Akribie Gegensätzen, aber auch Gemeinsamkeiten bis in persönliche Beziehungen hinein nach.

Die evangelische Kinderpflege genoss seit 1935 den Schutz des Reichskirchenausschusses. Im letzten und umfangreichsten Kapitel der Studie (275-445) wird dieses Schutzverhältnis an Hand einer geradezu überbordenden Fülle von einzelnen Auseinandersetzungen aus allen Teilen Deutschlands zwischen Innerer Mission und NSV, vertreten durch Bürgermeister, Landräte und lokale Parteiobere wie Gauleiter und Frauenführerinnen, um einen eigenständigen evangelischen Kindergarten dargestellt. Dessen Verteidigung wurde von Seiten der Inneren Mission ausschließlich mit dem Hinweis auf die staatlicherseits zugesagte Gewährung kirchlicher Arbeit geführt.

Der Vf. erwähnt auch zahlreiche Fälle, in denen christliche Eltern sich für den Erhalt des evangelischen Kindergartens einsetzten - eine Erfahrung, die allen Mühen um den evangelischen Kindergarten sicherlich Auftrieb verlieh, denn das zuständige NS-Reichskirchenministerium unterstützte naturgemäß die NSV. Fraglich bleibt, ob die politische Einsicht in das Anti-Christliche von NS-Staat und -Partei irgendwo festzustellen ist. Manchmal meint man, es in Andeutungen zu spüren (z. B. 444), aber auch der Autor ist zu Recht in dieser Hinsicht skeptisch.

Wie alle Studien dieser Reihe verfügt auch B.s Buch über ein vorzügliches Register, besonders hervorzuheben sind die biographischen Angaben des Autors zu jeder Person, die in seinem Werk Erwähnung gefunden hat; die Mühen, die in diesen fast 100 Seiten des Anhangs stecken, kann nur derjenige ermessen, der selbst einmal ein derartiges Register erstellt hat.