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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

791–793

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Vones, Ludwig

Titel/Untertitel:

Urban V. (1362-1370). Kirchenreform zwischen Kardinalkollegium, Kurie und Klientel.

Verlag:

Stuttgart: Hiersemann 1998. XII, 719 S. S. gr.8 = Päpste und Papsttum, 28. Lw. DM 340,-. ISBN 3-7772-9826-3.

Rezensent:

Bernhard Schimmelpfennig

Dickleibig und von imponierender Gelehrsamkeit, ist das anzuzeigende Buch die veränderte Fassung einer Kölner Habilitationsschrift (von der dortigen Philosophischen Fakultät angenommen im Wintersemester 1993/94). Auf die 487 Seiten umfas- sende Darstellung folgen drei Anhänge (489-552), ein umfängliches Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis (553-671) sowie Personen- und Ortsregister (673-719, z. T. seltsame Schreibung der Personennamen); ein Sachregister fehlt leider.

Wie der Untertitel andeutet, handelt es sich nicht um eine Biographie, sondern um den Versuch, Ansätze zu einer Reform der Kirche durch Urban V. deutlich zu machen. Dementsprechend geht der Vf. in der langen Einleitung (1-58) nicht nur auf den Stand der Forschung und die Quellenlage, sondern auch auf die Mitte des 14. Jh.s vorhandenen "Erscheinungsformen des kirchlichen Reformgedankens" ein. Die sich anschließenden drei Teile machen deutlich, dass der Vf. kein Theologe ist, sondern als Historiker besonderen Wert darauf legt, personelle Verflechtungen zu erkennen und diese Erkenntnisse dazu zu nutzen, Reformvorhaben und deren Gelingen oder Misserfolg besser als bislang geschehen zu analysieren.

In manchmal (zumindest den Rez.) ermüdender Ausführlichkeit behandelt der erste Teil (59-145) die Familie Grimoard, der Urban entstammte. Um 1309/10 auf der Burg Grisac geboren, trat Guillaume Grimoard, der spätere Papst, der Benediktiner-Kongregation von Saint-Victor (Marseille) bei, wechselte später - aus Gründen der Karriere? - zu der von Cluny über, erhielt die niederen und höheren Weihen und avancierte zum Professor des Kirchenrechtes in Montpellier, bevor er 16 Jahre lang (1346-1362) in Avignon Zivilrecht lehrte. Seinem dortigen Aufstieg kam zweifellos zu Gute, dass seine Familie mit der von Papst Clemens' VI. (1342-1352) verwandt war und ihn ein anderer Verwandter, der Kardinal Guillaume d'Aigrefeuille, unter seine Fittiche nahm. Auch zum Familien-Clan des folgenden Papstes, Innozenz' VI. (1352-1362), scheint er gute Kontakte gehabt zu haben. Und so verwundert es nicht, dass er dreimal (1352, 1360, 1361) in päpstlichem Auftrag in Italien tätig war und dabei mit den dortigen Problemen vertraut wurde. Seit dem 2.8.1361 amtierte er schließlich als Abt des Marseiller Klosters Saint-Victor. Dort ereilte ihn die Kunde von seiner Wahl zum Papst. Er war also selbst kein Kardinal gewesen.

Lang und ausführlich behandelt der zweite Teil (147-309) Urbans Wahl, die Parteiungen im Kardinalkolleg und die Versuche des neuen Papstes, sich gegenüber den drei bisher dominierenden Kardinälen (Guy de Boulogne, Talleyrand de Périgord und Gil de Albornoz) durchzusetzen und durch neue Kardinalskreationen die Mehrheitsverhältnisse zu seinen Gunsten zu verändern sowie dafür durch eine neue Pfründenpolitik Reichtum und Einfluss der Kardinäle zu verringern. Und schon hierbei wird deutlich, welch außerordentliche Rolle dem Bruder des Papstes, Anglic Grimoard, zukam. Angesichts der stupenden Gelehrsamkeit des Vf.s erstaunt, dass dieser nicht zu wissen scheint, wie ein neuer Papst nach seiner Wahl in sein Amt eingesetzt wurde. Die Behauptung (199) "Der Kardinalbischof von Ostia trat als Coronator in seiner Eigenschaft als prior diaconorum cardinalium in Erscheinung" ist ebenso absurd wie die von der angeblichen Salbung der Tiara durch diesen Bischof (198 Anm. 213). Und dabei wirkt das alles (inclusive der Textkritik liturgischer Ordines) so gelehrt. Hoffen wir beim Weiterlesen, dass die anderen Texte korrekt interpretiert sind!

Überzeugend gelingt die Auswertung der drei Kardinalskreationen: Urban habe dabei vor allem auf gute Verwaltungskenntnisse, auf außenpolitische Kontakte der Kandidaten sowie auf deren Bildung und Ausbildung Wert gelegt. Fraglich erscheint indes, ob daraus bei den neuen Kardinälen eine "Aufgeschlossenheit" (267) für Reformvorhaben gefolgert werden kann. Zu loben ist hingegen die Analyse von Urbans Pfründenpolitik, insbesondere hinsichtlich der päpstlichen Reservationen und der Einziehung von Prokuratorien. (Wieder nur eine kleine Frage: Warum spricht der Vf. auf S. 300 u. S. 477 von der "Schwarzen Pest"?)

Am interessantesten ist zweifellos der dritte Teil (311-457), der die personellen Grundlagen von Urbans vermeintlichen Reformbestrebungen untersucht. Neben bestimmten Kardinälen - allen voran des Papstes Bruder Anglic Grimoard - war vor allem der engere Berater- und Mitarbeiterstab ausschlaggebend dafür, inwieweit sich der neue Papst an der ihm doch weitgehend unvertrauten Kurie durchsetzen konnte. Zu Recht betont der Vf. den Mangel an geeigneten Personen (346 f.). Bei der Besetzung der Sekretäre (340 ff.), von denen der Florentiner Francesco Bruni am bekanntesten ist, hatte der Papst Erfolg, ebenso mit seinem Verwandten Bernard de Saint-Étienne, der als vertrauter Kubikular mit dem Papst wohl sogar das Schlafgemach teilte. Weniger deutlich wird dies bei anderen Personen (347 ff. u. ö.); das liegt zum Teil daran, dass die Stellen der Skriptoren (Kanzlei und Pönitentiarie) trotz der Forschungen von Brigide Schwarz nicht als Versorgungsstellen interpretiert und die familia eines Papstes zu wenig differenziert dargestellt und gewichtet sind. Dennoch dürfte der Vf. Recht haben, wenn er bei der kurialen Personalpolitik keinen Bruch Urbans mit der von seinen Vorgängern geübten Praxis feststellen kann (358), also keine Kurienreform stattfand.

Außerhalb der Kurie soll Urban vor allem drei "Reformmaßnahmen" verfolgt haben (360): die Neuordnung oder den Ausbau benediktinischer Kongregationen, die Übersiedlung der Kurie nach Rom und den Ausbau von Universitäten oder anderer Bildungseinrichtungen. Hinzu kamen noch Maßnahmen gegenüber Regularkanonikern und die Förderung von Provinzialsynoden als Foren der Reform. Viele Ausführungen sind interessant: zu der Kongregation von Saint-Victor und zu Montecassino bzw. Subiaco, zu den Antonitern und zu Saint-Ruf (Avignon/Valence), zu den neuen Universitäten im fernen Nordosten (Krakau, Pécs, Wien und Prag, mit Kritik an Moraw und Rexroth) sowie zur Förderung des Thomismus im Midi und zu neuen Kollegien.

Im Vergleich zu sonst zum Teil ausufernden Kapiteln ist Rom viel zu knapp behandelt. Natürlich erfreut es gerade den Rez., wie (im Vergleich) relativ ausführlich Urbans zeremonielle Handlungen in Rom berücksichtigt sind. Doch wie der Papst in Rom oder Montefiascone gelebt und regiert hat, bleibt undeutlich. Und selbst die Zeremonien sind in ihrer Bedeutung kaum angemessen dargestellt. Dafür nur ein Beispiel (456): "Als Urban V. am 25. Mai 1368 eine Messe in der Peterskirche zelebrierte, geschah dies angesichts des Schweißtuchs der Veronika, also angesichts des für die Gläubigen authentischen Bildes Christi!" Dem Vf. dient dies als Beweis für die - damals modernen - spirituellen Strömungen aufgeschlossene, marianisch und christologisch bestimmte Frömmigkeit Urbans. Der dieser hochgemuten Deutung zu Grunde liegende, lakonische Vermerk in einem Rechnungsbuch (quando celebravit in basilica s. Petri Rome et vidit Veronicam) lässt sich auch viel prosaischer interpretieren. Auf den 25. Mai fiel das Fest Papst Urbans I., des vom fünften Urban als Martyrer hoch verehrten Vorgängers (199, 483); gerade in den 60er Jahren konzipierte Ablasslisten vermerken für das Zeigen der "Veronica" den höchsten in St. Peter erhältlichen Ablass (12.000 Jahre). Fazit: Der Papst feiert seinen heiligen Vorgänger und sich selbst als dessen Nachfolger; damit ihm dabei möglichst viele Gläubige Gesellschaft leisten, lässt er die "Veronica" zeigen. Dessen ungeachtet: der Orvietaner Bischof Pierre Bohier wird angemessen als wichtiger Mitarbeiter gewürdigt (448 ff.).

In einer "Schlußbetrachtung" (459-487) versucht der Vf., seine Ergebnisse hinsichtlich einer von Urban V. intendierten Kirchenreform zu bündeln, verliert sich aber auch hier wieder manchmal in irrelevante und dazu noch unkritisch dargestellte Einzelheiten (z. B. 477 hinsichtlich der Chinamission, wo der Dynastiewechsel in China überhaupt nicht erwähnt ist). Gut ist die Charakterisierung Urbans als "Abt-Papst", die dessen "benediktinische Geisteshaltung" deutlich macht (480). Zu loben ist auch die am Schluss (487) formulierte Skepsis gegenüber den Chancen einer Kirchenreform durch einen Papst in der avignonesischen Epoche. Gerade diese Skepsis sowie die vielen Seiten des Buches zuvor lassen allerdings den Rez. sich fragen, ob nicht doch Benedikt XII. (1334-1342) - trotz aller Einwände des Vf.s (20 ff.) - eher ein "Reformpapst" gewesen ist als der "Held" des hier kurz vorgestellten Buches.