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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

788–791

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Esser, Thilo

Titel/Untertitel:

Pest, Heilsangst und Frömmigkeit. Studien zur religiösen Bewältigung der Pest am Ausgang des Mittelalters.

Verlag:

Altenberge: Oros Verlag 1999. 467 S. m. Abb. 8 = Münsteraner Theologische Abhandlungen, 58. Kart. DM 80,- ISBN 3-89375-174-2.

Rezensent:

Martin Ohst

Sogar am Ende des 20. Jh.s steht die Pestepidemie der Jahre 1347-1352 unübertroffen da: Keine der folgenden Großkatastrophen hat je wieder einen so hohen Anteil der europäischen Bevölkerung hinweggerafft. - In seiner von der kath.-theol. Fakultät Münster angenommenen Dissertation untersucht der Vf. nun nicht die unmittelbaren religions- und kirchengeschichtlichen Wirkungen dieses tiefen geschichtlichen Einschnitts (Judenpogrome, Geißlerzüge), sondern er zeigt die Langzeitfolgen auf. Methodisch und in der Fragestellung an seinen Lehrer A. Angenendt anknüpfend macht der Vf. klar, dass die Katastrophe nicht eigentlich zu Neubrüchen geführt hat. Die bestürzende Erstbegegung mit der Seuche sowie die folgende Dauerbedrohung durch sie und durch andere ähnliche Epidemien haben vielmehr hergebrachte religiöse Lebensformen durch intensive und extensive Steigerung modifiziert.

Kap. I ("Zur Einführung: Die Pest als religiöse Herausforderung") führt recht großräumig in die real-, wissenschafts- und religionsgeschichtlichen Zusammenhänge ein und stellt dann mit dem "Pesttraktat" ein eigentümliches literarisches Genus dar. Charakteristisch für diese Texte ist - aus neuzeitlicher Perspektive - ihr unentschiedenes Hin- und Herschwanken zwischen solchen Erklärungsmustern, die menschliches Verhalten als Ursache der Katastrophe annehmen (Pest als schuldhaft verwirkte Sündenstrafe) und solchen, die auf vom Menschen unbeeinflussbare Schicksalsmächte rekurrieren (Gestirne). Alle Modelle kommen jedoch darin miteinander überein, dass sie dem Menschen angesichts der Drohung seine Verantwortung für sein zeitliches Wohl wie für sein irdisches Heil einschärfen: Werktätige Buße, die die Strafen Gottes abzuwenden oder abzumildern trachtet, und die angelegentliche Benutzung der von Gott gewährten immanent-medizinischen Möglichkeiten zur Bekämpfung bzw. Eindämmung der Seuche stehen in dieser Perspektive nicht im Widerspruch zueinander (exemplarisch 46-48).

Die beiden folgenden Hauptteile ("Die Bewältigung der Pest in der gemeinschaftlichen Frömmigkeit", "Die Bewältigung der Pest in der privaten Frömmigkeit") gelten den unterschiedlichen religiösen Strategien der Pestbewältigung. Die Bilder, die der Vf. hier malt, sind von faszinierendem Reichtum an Farben und Details: Die Menge der ungedruckten Quellen, die er verarbeitet hat, ist eindrucksvoll (323-334); die von ihm anhangsweise edierten (359-410) sind nur ein winziger Ausschnitt. Die Einheit in der Mannigfaltigkeit stiftet, so zeigt der Vf. leitmotivisch immer wieder, das allenthalben wirksame religiöse Grundschema: Durch eigenes verdienstliches Handeln oder durch ein Handeln, das die Betätigung der Verdienste Dritter zu ihren Gunsten ermöglicht, bemühen sich Menschen, Gott, der seiner eigenen Gottheit Abbruch täte, wenn er eine sündhafte Einzeltat ungesühnt ließe (233 u. ö.), dazu zu bewegen, von seinem gerecht strafenden Handeln abzulassen oder es doch zu verkürzen. Die von der hohen Theologie erarbeiteten subtilen Verhältnisbestimmungen zwischen menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade sind durchgängig absent. Auch bei Männern wie Gabriel Biel oder Geiler von Kaysersberg sind sie vollständig verschattet durch jene allgegenwärtige Logik, die den Verkehr des Christen mit Gott anhand eines ganz ungebrochenen Lohn-Verdienst- bzw. Schuld-Strafe-Schemas bedenkt.

Gleich mehrfach ist dieser Grundgedanke in den Pestmessen ausgeprägt (60-118): Einmal ist das Messopfer überhaupt ein Werk, das bei Gott Verdienste erwirbt. Zum anderen werden in den besonderen Pestmessen bestimmte Heilige - prominent Sebastian, der, schon länger verehrt, im späten MA zum "Pestheiligen" wird, und Rochus, der bzw. dessen Kult überhaupt erst im Gefolge der Pest entsteht - zur wirkmächtigen Fürbitte bei Gott motiviert. Ermächtigt sind sie dazu durch ihre während ihres Erdenwandels erworbenen besonderen Verdienste (prägnant z. B. 87 f.).

Das Bruderschaftswesen (119-179), das im späten Mittelalter aufblüht, lässt sich in geschichtlicher Perspektive als Ausgreifen der seit dem frühen MA geübten Praxis der Gebetsverbrüderungen in monastischen und adligen Kreisen verstehen: Durch zuverlässig geregelte Fürbitte für die Verstorbenen wird stellvertretend deren Last an im Fegefeuer zu erduldenden Sündenstrafen abgebüßt. Wer hienieden in dieser Weise für die Toten eintritt, erwirbt nach dem Versicherungsprinzip damit das Anrecht auf die Hilfsleistungen seitens derer, die nach ihm leben werden (vgl. 138). Nun taucht in den Gründungsurkunden solcher Brüderschaften die Pestthematik meist gar nicht auf. Aber sekundäre Indizien, so die Patrozinien der einschlägigen Heiligen Rochus und Sebastian, machen die Annahme des Zusammenhanges zwingend. Das Schweigen von der Pestthematik ist aus der Scheu davor zu erklären, sich schon durch deren bloße Erwähnung die grauenhaften Krankheit auf den Hals zu ziehen (127-129). Auch die wohltätigen Aktivitäten der Bruderschaften waren in deren Primärintentionen eingebunden: Das Almosen ist religiös bedeutsam als "Gutes Werk" (150-154); dieselbe Verdienstlogik und nicht primär im modernen Sinne karitative Erwägungen zu Gunsten von Pestopfern lag auch der Stiftung von Pestspitälern zu Grunde (173-179). So sind die den Bruderschaften reichlich verliehenen bischöflichen und päpstlichen Ablässe (157-160) ganz stimmige Elemente innerhalb ihres Selbstverständnisses, das am Grundanliegen spezifisch mittelalterlicher Seelsorge, der leistungsförmigen Fürsorge für das eigene jenseitige Ergehen und das Anderer, orientiert ist.

Die private Bewältigung der Pest ist um das Gebet zentriert. Die in Gebetbüchern überlieferten Pestgebete (180-221) richten sich - neben Jesus Christus - nicht nur an die "klassischen" Pestheiligen, sondern auch an andere (weibliche) Heilige: Maria, Ursula, Anna (die höchst wichtigen Arbeiten von A. Dörfler-Dierken zum Annenkultus sind dem Vf. leider entgangen). Die Einzeltexte kreisen in immer neuen Varianten um die Themen "Verdienst" und "Fürbitte". Eine Sonderstellung nehmen "Thau-Gebete" ein: Das Thau-Zeichen (bekannt z. B. aus dem Signet des Gießener Töpelmann-Verlages) gilt wegen unterschiedlicher alttestamentlicher Reminiszenzen und seiner Nähe zum Kreuzeszeichen als schützendes Amulett gegen die Pest: "Die Gebete dienten dazu, eben dieser Schutzwirkung teilhaft zu werden" (220).

Die sog. "Pestblätter" (222-314), Einblattdrucke zum Thema, knüpfen zum einen als Popularisierungen an die einschlägigen Texte der Gebetbücher an; vielfach sind die auf ihnen abgedruckten Gebete mit besonderen Ablassversprechen verbunden. Sie enthalten darüberhinaus noch weitere Elemente: Das Thau-Zeichen und dessen Wirkungen erklärende Texte; Bilder, die Gottes strafendes Richten als Ursache der Pest vor Augen malen sowie Heiligenbilder, die Schutz- und Hilfsmöglichkeiten ins Bild setzen (besonders interessant die Ausführungen zur Schutzmantelmadonna, 244-247).

Soweit ein kurzer Überblick, der von dem faszinierenden Material- und Detailreichtum des grundgelehrten Buches natürlich gar keinen hinlänglichen Eindruck zu geben vermag. Der Vf. hat eine eindringliche Studie vorgelegt, die unsere Kenntnis individueller und institutionalisierter Frömmigkeitspraxis im späten MA erheblich bereichert; auch durch die Fülle der von ihm ans Licht gezogenen Quellen wird seine Arbeit weiterer Forschung unentbehrliche Dienste leisten.

Vor diesem Hintergrund seien ein paar kritische Bemerkungen nicht verschwiegen. Zunächst: Auf S. 164 knüpft der Vf. an die These seines Lehrers an, schon im 12. Jh. sei bußtheologisch die hergebrachte an der "Tathaftung" orientierte Anschauung durch eine neue an der "Gesinnungshaftung" orientierte abgelöst worden (Abaelard) und im Zuge dieser Ablösung sei das krass quantifizierende Rechnen mit austauschbaren, übertragbaren Verdiensten prinzipiell schon überwunden worden.1 So kommen denn die Anschauungs- und Handlungsweisen, die der Vf. so eindringlich schildert, in dieser Perspektive als ",kritiklos weitertradierte' frühmittelalterliche Tradition" (165) zu stehen: In der Bußlehre der Frühscholastik sind sie eigentlich schon längst überwunden. Dass ich die hier obwaltende Deutung des "Umschwungs in der Lehre von der Buße während des 12. Jahrhunderts" (so Karl Müller 1892) für gründlich verfehlt halte, kann ich hier natürlich nicht ausführlich begründen.2 Ich will in diesem Zusammenhang nur darauf hinweisen, dass durch diese Annahme auch die problemgeschichtliche Einordnung der Reformation zwangsläufig irregeleitet wird. Denn wer sich von der Voraussetzung leiten lässt, die Überwindung der die spätmittelalterliche Bußpraxis und auch die religiöse Bewältigung der Pest bestimmenden Vorstellungsmuster sei schon längst vorgreifend im 12. Jh. geleistet worden, der büßt zwangsläufig die Fähigkeit ein, das wirklich Neue in den einschlägigen reformatorischen Aussagen auch nur rein historisch zu registrieren.

Unfreiwillig bezeugt das der Vf. selbst: Er schreibt einmal, Luther habe an den Bruderschaften kritisiert, dass sie die an den Einzelnen gerichteten Leistungsforderungen in illegitimer Weise zurückgeschraubt hätten (vgl. 165) und an anderer Stelle diagnostiziert er als Movens hinter dem reformatorischen Neuaufbruch die "offenkundige(n) Unberechenbarkeit des allmächtigen Handelns Gottes" (320). Liest man jedoch, womöglich noch unter dem frischen Eindruck seines Buches, Luthers Schrift "Ob man vor dem Sterben fliehen möge" (1527; WA XXIII, 338 ff.), dann drängt sich ein ganz anderer Doppeleindruck auf: Zum einen arbeitet Luther auf Schritt und Tritt mit Gedanken- und Vorstellungsmaterial, das in spätmittelalterlicher Literatur zum Thema gängig ist. Zum andern wird deutlich, dass das Material auf höchst signifikante Weise umorganisiert, geradezu umgepolt ist. Es kommt bei Luther hinter einem neuartigen Vorzeichen zu stehen, nämlich hinter einer qualitativ neuen Ausprägung des christlichen Gottesbegriffs: Die auch schon bei Augustin leitende und das ganze Mittelalter, auch Abaelard, prägende Grundanschauung, dass das Gesetz Gottes ursprüngliche und dauerhaft bindende Willenskundgabe ist, zu der sich die Gnade als nachgeordnetes Hilfsmittel verhält, ist überwunden durch die Anschauung, dass Gott zuerst und zuletzt Liebe ist, die sich zeitweilig des Gesetzes als eines uneigentlichen Mittels ihrer Durchsetzung bedient. Hier, im zu Grunde liegenden Gottesbegriff, liegt die letzte religiöse und theologische Tiefenschichtdimension der vom Vf. so eingehend beleuchteten spätmittelalterlichen Pestbewältigung.

Diese Bemerkungen sollen den großen Wert seines Buches in keiner Weise schmälern, sondern lediglich auf ihre Weise hervorheben. - Nicht anders die folgenden: Die Ausstattung und die Aufmachung des Buches stehen zu seinem wissenschaftlichen Wert (und zu seinem Preis) in einem deutlichen Missverhältnis. Durch falsche Sparsamkeit sind die Seitenränder viel zu schmal bemessen; will man bequem lesen, dann muss man beim Aufschlagen dem Buchrücken Gewalt antun. Namen- und Begriffsregister fehlen. Die Brauchbarkeit der vielfach faszinierenden Abbildungen für Studium und akademischen Unterricht ist durch rigoroses Verkleinern erheblich gemindert (Abb. 7 und 22 sind unbrauchbar; in Abb. 32 ist der Text unter dem Bild allenfalls mit der Lupe lesbar). Einem Buch vom hohen Range des vorliegenden hätte eine erheblich großzügigere Ausstattung zugestanden!

Fussnoten:

1) Vgl. A. Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 634-645.

2) Vgl. jedoch M. Ohst, Pflichtbeichte, BHTh 89, Tübingen 1995, 50 ff.