Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

769–771

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilckens, Ulrich

Titel/Untertitel:

Das Evangelium nach Johannes. Übers. u. erkl. 17. Aufl. (Erstauflage dieser neuen Bearbeitung).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. VIII, 353 S. gr.8 = Das Neue Testament Deutsch, 4. Kart. DM 64,-. ISBN 3-525-51379-8.

Rezensent:

Lothar Wehr

Angesichts der Vielzahl der Methoden und Zugänge in der modernen Johannesexegese richtet sich das Interesse bei der Lektüre eines neuen Kommentars zum vierten Evangelium vor allem auf zwei Fragen: 1. Welches Bild hat der Verfasser von den Quellen, der Entstehungsgeschichte und den Entstehungsbedingungen des vierten Evangeliums? Hieraus ergeben sich Konsequenzen für die Wahl der Methodik der Auslegung. 2. Mit welchem theologischen "Schlüssel" will der Verfasser dem Leser diese Schrift erschließen? Diese zweite Frage zielt auf die inhaltliche Mitte der johanneischen Theologie und Christologie.

Wilckens gibt in seinem Kommentar dem Leser schon gleich in der Einleitung (1-17) präzise Rechenschaft über seine Entscheidung in diesen beiden wichtigen Punkten.

In der Beurteilung der Entstehungsgeschichte setzt er sich scharf von der radikalen Richtung einiger Literarkritiker ab, die im Johannesevangelium mehrere Autoren am Werk sehen, die einander widersprechende theologische Strömungen repräsentierten (Bultmann u. a.). In dieser Frage kann er geradezu polemisch werden (7: Vorwurf der "Blindheit"; 212: im Hinblick auf die Annahme einer antisakramentalen Einstellung des Evangelisten, die später durch eucharistische Einschübe von einer "kirchlichen Redaktion" korrigiert worden sei: "Von solcher Art Reserve aber ist im ganzen Urchristentum nichts zu finden ... Antisakramentale Tendenzen gibt es erst in Kreisen moderner protestantischer Theologie"; vgl. auch 9). Spannungen und Brüche im Text seien zumeist anders zu interpretieren. Der Evangelist setze z. T. bewusst Zäsuren als Signale für den Leser (7); im Übrigen denke er in Gegensätzen, die man nicht als Widersprüche missverstehen dürfe (9).

W. tendiert also deutlich dahin, den vorliegenden Text als nicht nur sprachliche, sondern auch theologische Einheit zu interpretieren. Trotzdem verzichtet W. nicht völlig auf Literarkritik (5-7): Joh 21 hält er mit einem breiten Strom der Forschung für eine Anfügung des Herausgebers des vierten Evangeliums; auch plädiert er für die Vertauschung von Kap. 5 und 6 und verschiebt 7,15-24 ans Ende von Kap. 5 (5 f.). Joh 15-16 - nicht aber Joh 17 (dazu unten)! - sei eine spätere Ergänzung, die vom Evangelisten selbst als Fortsetzung von Joh 14 verfasst worden sei und die seine Schüler unverändert eingefügt hätten (7, 235).

Auch in der Frage nach den Quellen des Joh distanziert sich W. von Bultmann und dessen Nachfolgern. Die Annahme einer Semeia- und einer Redenquelle lehnt er im Konsens mit neueren Entwicklungen in der Johannesforschung ab. Allerdings bestreitet er auch die Existenz eines eigenen vorjohanneischen Passionsberichtes; vielmehr habe der Evangelist die synoptischen Evangelien (3: Mk und Lk sicher, evtl. auch Mt) gekannt und daraus seine Darstellung der Passion entwickelt (9, 270). Überhaupt habe der Evangelist die Synoptiker benutzt und setze mehrfach bei seinen Lesern deren Kenntnis voraus (4 f.). Im Übrigen seien für ihn das AT und - besonders gottesdienstliche - jüdische Traditionen äußerst wichtige Quellen (10 f.). Wegen der Vertrautheit seiner Leser mit ihnen könne er sich oft mit Anspielungen begnügen. W. sucht in seiner Kommentierung, dem heutigen Leser diese Hintergründe neu zu erschließen.

Der theologische Schlüssel zum Johannesevangelium ergibt sich nach W. aus dem konkreten Anlass, der den Evangelisten zur Abfassung seiner Schrift bewegte. Wie die Gespräche Jesu mit "den Juden" zeigten (s. Joh 5,18; 10,33.36; 19,7), gehe es um eine christliche Antwort auf den jüdischen Vorwurf der Blasphemie, also um die Frage, wie sich das Bekenntnis zu Jesus Christus mit dem Glauben an den einen Gott vertrage. Johannes schreibe sein Evangelium, weil die synoptischen Evangelien dieses theologische Problem in seiner Tiefe nicht erkannt und erst recht nicht beantwortet hätten (335).

Da W. seine Kommentierung konsequent aus diesen Vorgaben entwickelt, ergibt sich eine zielgerichtete und abgerundete Auslegung, deren Lektüre leicht fällt und die dem Leser auch neue Aspekte johanneischer Theologie vor Augen führt.

So vertritt W. den Standpunkt, dass der Prolog (Joh 1,1-18) und das große Gebet Jesu (Joh 17) aufeinander bezogen seien und sich gegenseitig interpretierten. Sie gehörten zusammen "wie die Fundamente einer Brücke" (20). Der Prolog handle von der Herkunft Jesu (Präexistenz und Inkarnation) und entspreche damit thematisch dem ersten Teil des Evangeliums (Kap. 1-12), der vom Offenbarungswirken Jesu erzähle; das Gebet Jesu thematisiere die Zukunft Jesu und auch der Glaubenden (Erhöhung, Auferstehung, Geistsendung) und fasse damit den zweiten Teil des Evangeliums zusammen (Joh 13-20), der die Vollendung des Weges Jesu als Ermöglichung der Teilhabe aller Glaubenden an der Gemeinschaft mit Gott zum Inhalt habe (20 f.).

Bemerkenswert sind auch die Linien, die W. von der johanneischen Christologie zu den späteren frühkirchlichen christologischen Dogmen auszieht (20, 33, 348 u. ö.). Die Streitpunkte auf den ersten ökumenischen Konzilien seien zwar eigener Art und verursacht durch die Übernahme antiker philosophischer Terminologie, die Problematik und die gefundenen Lösungen seien aber vorbereitet und grundlegend behandelt durch den Johannesevangelisten.

Auch die hermeneutische Frage nach den Voraussetzungen für eine gelingende Rezeption des vierten Evangeliums durch den heutigen Leser wird mehrfach angesprochen. Insbesondere hebt Wilckens auf den konkreten sakramentalen Erfahrungshintergrund ab, vor dem das Johannesevangelium entstanden sei und vor dem es auch heute nur wirklich verstanden werden könne (243, vgl. auch 97, 134 f., 266 f., 269 f. u. ö.).

Obwohl das Johannesevangelium in scharfer Auseinandersetzung mit dem Judentum entstanden sei, mache es auf die tiefe Gemeinsamkeit zwischen Juden und Christen aufmerksam, die in dem Glauben an den einen Gott bestehe. Diese Erkenntnis bilde eine wesentliche Grundlage eines echten christlich-jüdischen Dialogs (125 f., zur Identität des Glaubens an Gott und des Glaubens an Jesus nach dem Joh vgl. 222, 224).

Eine hilfreiche Abrundung und Zusammenfassung der Einzelexegese bietet das Kapitel "Grundlagen johanneischer Theologie" am Ende des Kommentars (332-348). Hier bündelt W. die Ergebnisse der Auslegung, und er stellt die theologischen Kernaussagen des Joh heraus.

Einige Fragen sind allerdings dennoch an die Auslegung zu richten: Reicht es zur Erklärung der inhaltlichen Spannungen (z. B. in der Eschatologie) aus, dem Evangelisten ein Denken in Gegensätzen zuzubilligen, oder geht man nicht besser mit neueren Ansätzen von einem Prozess der Relecture durch mehrere Autoren innerhalb der johanneischen Schule aus? So würde man die Fehler radikaler Literarkritik vermeiden, die Spannungen im Evangelium aber leichter erklären.

Lässt sich die Deutung des Lieblingsjüngers als reiner Symbolgestalt (16: der Evangelist verstehe ihn als ",idealen' Repräsentanten aller Jünger der ganzen Kirche aller Zeiten"; es sei weder der Zebedaide Johannes gemeint noch irgendeine andere Einzelperson; 329: die Gemeinde habe ihn aber mit dem Evangelisten identifiziert) mit Joh 21,23 (Tod dieses Jüngers als Gemeindeproblem) und mit der mehrfachen Zusammenstellung mit der "realen" Gestalt des Petrus vereinbaren?

Insgesamt liegt in diesem Werk ein sehr anregender Kommentar zum vierten Evangelium vor. W. entwirft ein überzeugendes Gesamtbild johanneischer Theologie, das dem wissenschaftlich Interessierten neue Einsichten bietet und dem Prediger und jedem, der über den Glauben Auskunft zu geben hat, geistliche Perspektiven eröffnet und manchen Denkanstoß bereitstellt.