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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

764–767

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stuhlmacher, Peter

Titel/Untertitel:

Biblische Theologie des Neuen Testaments. II: Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung. Der Kanon und seine Auslegung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. XI, 372 S. gr.8. Kart. DM 72,-. ISBN 3-525-53596-1.

Rezensent:

Jürgen Roloff

Dem 1992 in Erstauflage erschienenen Bd. I seines theologischen Entwurfs (21994), der Jesus und Paulus als den beiden Zentralbereichen neutestamentlicher Theologie gewidmet war, hat Stuhlmacher nun einen abschließenden zweiten Band folgen lassen. Damit wird die Gesamtkonzeption dieses großen Werkes erst voll erkennbar: in ihrem eigenständigen Profil, ihrer inneren Konsequenz und Geschlossenheit, ihrem nachgerade einschüchternden Materialreichtum - aber auch in ihrer Querständigkeit gegenüber gegenwärtig vorherrschenden Forschungstendenzen.

Der Ansatz St.s ist an einer programmatischen Grundentscheidung orientiert: Neutestamentliche Theologie wird als eine in sich geschlossene einheitliche Größe verstanden, wobei sich diese Einheitlichkeit gleichsam auf zwei Pfeilern gründet. Der eine ist die durch das Urchristentum aufgenommene und im Licht des Christusbekenntnisses entfaltete alttestamentlich-biblische Tradition, der andere die - zuversichtlich auf die Tatsache eines gepflegten Traditionskontinuums zurückgeführte - überlieferungsmäßige Konstanz der neutestamentlichen Schriften. Der Titel "Biblische Theologie des Neuen Testaments" darf also beim Wort genommen werden. Das gilt hinsichtlich der Zuordnung seiner beiden Komponenten: Neutestamentliche Theologie ist gesamtbiblisch verwurzelte Theologie. Es gilt aber auch für den Singular: Das NT enthält eine in sich weitgehend einheitliche Theologie, nicht jedoch ein buntes Nebeneinander verschiedener Theologien.

Dieser Ansatz gibt der Darstellung ihr Profil. Die Traditionslinie zurück zum AT tritt geschärft hervor, während der Einfluss außerbiblischer Traditionen wenn nicht völlig bestritten, so doch als nur marginal beurteilt wird. Besonders markant wirkt sich solche einlinige Interpretation beim Hebräerbrief aus, bei dem nicht nur die Möglichkeit gnostisierenden Einflusses, sondern sogar die (m. E. unbestreitbare) Beeinflussung durch hellenistisch-jüdische alexandrinische Exegese außer Betracht bleibt. Hierin erweist sich St. als treuer Sachwalter einer durch A. Schlatter begründeten Tübinger Tradition. Vor allem aber ergibt sich aus dem Bemühen um den Aufweis der Einheitlichkeit der neutestamentlichen Theologie die Dominanz einer ganz bestimmten Fragestellung: Was verbindet die verschiedenen Schriften mit Jesus und Paulus, den beiden Zentren des NT? Was ist das sich in allen situationsbedingten Veränderungen durchhaltende Proprium des neutestamentlichen Zeugnisses? Über solcher Betonung des Gemeinsamen muss die Frage nach dem spezifischen Eigenprofil der jeweiligen Schriften notwendigerweise zurücktreten. An die Stelle der Herausarbeitung des diesen je eigenen spezifischen theologischen Ansatzes tritt der Aufweis ihrer sachlichen und inhaltlichen Rückbindung an die gemeinchristliche Überlieferung. Insofern hat Diachronie Vorrang vor der Synchronie.

Das Bemühen um Zusammenschau spiegelt sich im Aufriss des Bandes. Er setzt ein mit einem Kapitel "Die Verkündigung in der Zeit nach Paulus", in dem neben den Schriften der Paulusschule (Kol, Eph, Past) auch Jak, Hebr sowie die beiden Petr behandelt werden. Ein Abschnitt über den 2Thess (den St. zwar zögerlich, aber nach einigen Umschweifen letztlich doch) für authentisch paulinisch erklärt, wird als Exkurs eingeblendet. Durch diese Anordnung ist die leitende Fragestellung vorbereitet: Wie rezipieren diese Schriften die Theologie des Paulus bzw. das von ihm tradierte christologische Bekenntnis sowie den Ansatz paulinischer Ekklesiologie und Ethik? Den Deuteropaulinen wird eine weitgehende Treue zur paulinischen Tradition attestiert: Sie haben in der Christologie "die vom Apostel begründete Schultradition ... aufgenommen, fortgeführt und in eine Form gebracht ..., die sie zum festen Bestandteil christlicher Tradition hat werden lassen" (27); in der Ekklesiologie haben sie sich intensiv "um die Konsolidierung der Gemeinden nach Maßgabe des paulinischen Evangeliums" bemüht und dabei "deutliche Fortschritte über Paulus hinaus erzielt" (41); in der Paraklese schließlich ist ihnen eine Bündelung und Weiterinterpretation der Paulustradition gelungen (53). Auch für den 1Petr und den Hebr will St., obwohl er feststellt, dass sie auf außerpaulinischen Traditionen beruhen, zentrale Übereinstimmungen mit Paulus festhalten. Paulusferne wird lediglich in gewissem Maße für Jak, Jud, 2Petr konzediert, zugleich aber im Fall des Jak durch die Feststellung bleibender Gemeinsamkeit im christologischen Bekenntnis relativiert (67), während die theologische Bedeutung des 2Petr darin gesehen wird, dass er "den ersten ganzheitlich durchgeführten Entwurf einer kirchlichen Hermeneutik der christlichen Bibel" vorlegt (113).

Auch im folgenden Kapitel über die "Verkündigung der synoptischen Evangelien" ist der Nachweis von deren ungebrochener überlieferungsmäßiger Rückbindung an die mündliche apostolische Tradition der ersten Generation das zentrale Anliegen. Den Ansatzpunkt bietet die bekannte These St.s, wonach das Apg 10,36-43 im Munde des Petrus erscheinende Summarium der Jesusgeschichte die alte Traditionsgrundlage für die Strukturierung der ursprünglichen Jesusüberlieferung gebildet habe, der Markus bei seiner Schaffung der literarischen Gattung Evangelium gefolgt sei (119 f.). Eine Alternative zwischen kerygmatischer und biographischer Zielsetzung dieser Gattung wird (m. E. zu Recht) abgelehnt. Darüber freilich, ob die Intention der synoptischen Evangelisten so einseitig auf dem Sammeln und Tradieren gelegen hat, wie St. das sehen möchte, wird man unterschiedlicher Meinung sein können. Jedenfalls treten für ihn deren jeweilige theologische Konzeptionen samt deren Bezug auf konkrete gemeindliche Situationen und Probleme weitgehend in den Hintergrund. Er führt das Eigenprofil der Evangelien auf traditionsbestimmte Vorprägungen zurück:

Jeder Evangelist hatte eine bestimmte Traditionssammlung vor Augen: Markus die Lehrvorträge des Petrus, Matthäus die der Säulenapostel von Jerusalem, und Lukas schließlich die Materialien aus dem Archiv der Missionsgemeinde von Antiochia. Keiner von ihnen hat sich nur an eine jeweils bestimmte Adressatengruppe bzw. Gemeinde gewandt. Sie alle schrieben vielmehr mit gleichsam ökumenischer Intention, ihre Bücher waren dazu bestimmt, "vielen Menschen an mehreren Orten vorgelesen zu werden" (116). Es handelte sich um weitgehend "offene Texte", die zwischen den Kirchen zirkulieren sollten und sich an einen weiten, sehr allgemeinen christlichen Leserkreis wandten (129).

Zumindest als Korrektiv gegenüber der vorherrschenden Neigung, den einzelnen Evangelisten mehr oder weniger konsistente theologische Systeme zuzuschreiben und deren Rekonstruktion zu betreiben, verdient diese Sichtweise Beachtung. Sie wirkt sich bei der Darstellung des MkEv insofern entlastend aus, als die den Blick auf dessen Inhalt oft verstellenden Hypothesengerüste der neueren Forschung von dieser Voraussetzung aus schlicht ignoriert werden können. Gleiches gilt erst recht für die nur am Rande besprochene Logienquelle. St. hält sie - im Anschluss an J. Jeremias- lediglich für eine in verschiedenen Ausprägungen existierende Traditionsschicht, die auf der aramäischsprachigen Jerusalemer Jesusüberlieferung beruht, nicht jedoch für eine feste schriftliche Größe mit eigenständiger theologischer Intention.

Um so größer ist das auf die personelle Absicherung der Evangelientradition gelegte Gewicht. Dabei geht es - wie schon in Bd. I - nicht ohne etwas gewaltsame Konstruktionen ab. So stützt sich die mit großer Zuversicht vorgetragene doppelte Behauptung, einerseits sei im MtEv die Jesustradition der Jerusalemer Säulenapostel festgehalten, und andererseits sei die Zuschreibung an den Namen "Matthäus" authentisch (156), auf folgende Argumentationskette: Aus dem Papiaszeugnis sei auf eine vom Apostel Matthäus zusammengestellte aramäische Sammlung von Herrenworten zu schließen; der Verfasser des MtEv habe diese Sammlung zum maßgeblichen Ausgangspunkt seines Buches gemacht und deshalb den alten apostolischen Tradenten durch Übernahme von dessen Namen zum maßgeblichen Autor seines Werkes erklärt; aus der ursprünglich aramäischen Fassung dieser Tradition sei zu folgern, dass diese ursprünglich auf die Jerusalemer "Säulen" und deren (primär von Petrus getragenen) Judenmission zurückgehe; schließlich aber habe der Respekt des Evangelisten vor der auf Matthäus zurückgehenden Überlieferung "sein Interesse an der von Markus übernommenen Petrustradition noch überwogen" und deshalb in der (authentischen!) Überschrift seines Buches den Namen "Matthäus" genannt. Hier legt sich die kritische Gegenfrage nahe: Wie ließe sich solche angebliche Treue zu "Matthäus" mit dem Umstand vereinbaren, dass der Evangelist offensichtlich mit der "matthäischen" Logientradition ungleich freizügiger umgegangen ist als mit der von ihm nach Abfolge und Inhalt nahezu unverändert übernommenen markinischen "Petrustradition"? Kurz: dies ist nur einer von zahlreichen exegetischen Hochseilakten, die man bestaunt, ohne sich zum Nachvollzug herausgefordert zu sehen. Ähnliches gilt für den Versuch, das lukanische Doppelwerk trotz seiner vielfachen Verzeichnungen von Geschichte und Theologie des Paulus auf den Arzt und Paulusbegleiter Lukas zurückzuführen und es damit zur historischen Quelle erster Hand zu deklarieren (181-183). Das Argument, Lukas habe Paulus zwar geachtet, sei ihm aber "nie hörig geworden" (196), sondern habe als Vertreter der antiochenischen Position ihm gegenüber innere Distanz gewahrt, wirkt angesichts der unleugbaren Tatsache, dass er ihn zum zentralen Helden seines zweiten Buches macht und sich damit als Paulusanhänger bekennt, doch als etwas weit hergeholt.

An dem folgenden, der Verkündigung des Johannes und seiner Schule gewidmeten Kapitel fällt zunächst der Einbezug der Johannesoffenbarung in die johanneische Schultradition auf. St. beruft sich zur Begründung zunächst auf die umsichtige Analyse von J. Frey, die aus den erheblichen sprachlichen und theologischen Differenzen zwischen der Offb zu den übrigen johanneischen Schriften folgert, der Zusammenhang sei wesentlich durch die Aufnahme älterer, durch die johanneische Schule vermittelter und von deren theologischer Schulsprache geprägten Materialien seitens des Verfassers der Offb zustande gekommen (211 f.). Aber da diese Argumentation den Anforderungen seines - auf Übersichtlichkeit und personale Kontinuität abhebenden - Traditionsprinzips offenbar nicht voll genügt, deklariert er schließlich (M. Hengel folgend) die Offb zu einem "in der Zeit brennender apokalyptischer Enderwartung zwischen 64 und 70" verfassten Frühwerk des Presbyters Johannes, das später von dessen Schülern überarbeitet und herausgegeben worden sei (212 f.).

Dieser Presbyter ist zwar nicht mit dem Zebedaiden Johannes identisch, wohl aber mit dem Lieblingsjünger des vierten Evangeliums; vor allem aber war er, wie St. zuversichtlich aus dem Papiaszeugnis (Euseb, KG III 39,4) deduziert, ein persönlicher Jünger des Herrn, zwar nicht als Glied des Zwölferkreises, aber doch immerhin als Schüler des Zebedaiden mit diesem eng verbunden (so die Folgerung aus der altkirchlichen Identifikation mit dem Zebedaiden). Mittels dieser historischen These gelingt es dann doch noch, das JohEv trotz seines idiomatischen Sprach- und Denkstils für die authentische Jesusüberlieferung zu reklamieren: In der Johannesschule sei jener Denk- und Lehrstil fortgeführt worden, der vorösterlich "die internen Lehrgespräche Jesu mit Petrus, Jakobus und Johannes" bestimmt hat und der auch synoptisch in Mt 11,25-27 seine Spur hinterlassen hat (207). Spiegelt sich in den Synoptikern der nachösterliche Stil der apostolischen Unterweisung nach außen, so im JohEv die interne Erörterung des Offenbarungsgeheimnisses der Selbsterschließung Gottes in Jesus, wie sie im Schulkreis unter der Erfahrung der Gegenwart des Geist-Parakleten möglich geworden ist.

Sehr klar wird der esoterische und elitäre Charakter dieses johanneischen Christuszeugnisses herausgearbeitet und zugleich gezeigt: Dieses bedarf, um als Höhepunkt der neutestamentlichen Traditionsbildung gelten zu können, des gemeinsamen Gegengewichtes der Synoptiker, der Paulusbriefe und der übrigen Heiligen Schriften (281).

Unter der Überschrift "Das Problem des Kanons und der Mitte der Schrift" behandelt der ungemein dichte, material- und thesenreiche Schlussteil die dem vorliegenden Gesamtentwurf zu Grunde liegenden kanonsgeschichtlichen und hermeneutischen Voraussetzungen. Zentrale Bedeutung hat hier vor allem der Gesichtspunkt des kanonischen Prozesses. Dieser war für das AT zur Zeit der Entstehung des NT noch keineswegs abgeschlossen; weder die hebräische Bibel noch vor allem die für das Urchristentum entscheidend wichtige LXX hatten damals schon ihre kanonische Endgestalt erreicht, ja die LXX gewann erst im Zuge der Herausbildung eines christlichen Kanons kanonischen Rang. Von da her lässt sich weder das AT als eine in sich geschlossene Größe begreifen, noch ist die unter Absehung vom NT gestellte Frage nach der Mitte des AT sinnvoll. Hingegen erschließt sich das NT nur, wenn man es vom AT her liest und versteht. Nötig und legitim ist es jedoch, nach der "Mitte der Schrift" zu fragen. Allerdings wäre der Versuch einer Herausstellung eines Kanons im Kanon keine mögliche und legitime Antwort. Vielmehr ist die Mitte der Schrift nach dem Vorgang der Alten Kirche in der christologisch zentrierten regula fidei zu suchen, wobei allerdings eine soteriologische und rechtfertigungstheologische Konzentration dieses christologischen Zentrums unerlässlich ist.

Insgesamt beeindruckt dieses Werk als Zusammenfassung des Ertrags einer großen wissenschaftlichen Lebensleistung. Darüber hinaus setzt es, trotz mancher positionell bedingter Überzeichnungen und Einseitigkeiten, wichtige und nötige Impulse für die weitere Diskussion.