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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

760–763

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Meier, Hans-Christoph

Titel/Untertitel:

Mystik bei Paulus. Zur Phänomenologie religiöser Erfahrung im Neuen Testament.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 1998. X, 342 S. gr.8 = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 26. Kart. DM 86,-. ISBN 3-7720-1877-7.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

1. Die Heidelberger Dissertation versteht sich als Beitrag zu "bestimmte(n) Aspekte(n) paulinischen Denkens und paulinischer Religiosität ... Dabei dient der Begriff Mystik als Suchbegriff, der unser Interesse auf unterschiedliche Formen religiöser Erfahrung lenkt" (2). Meier trägt also entschlossen den Religionsbegriff an die paulinischen Briefe heran und fragt nach dem Erfahrungsaspekt von Religion bei Paulus. Dieser Aspekt scheint ihm mit dem Begriff "Mystik" am besten bestimmt: Er definiert Mystik anhand der Brockhaus-Enzyklopädie als "eine Form von Religiosität, in deren Zentrum die unmittelbare Erfahrung göttlicher Wirklichkeit steht" (20). Den Religionsbegriff selbst versteht er von der "Wirklichkeit des Heiligen" her (20 f.).

Da der Vf. mit den Begriffen "Religion" und "Mystik" zentrale Begriffe der Religionswissenschaft verwendet, darf man eine Auseinandersetzung mit dem Religions- und Mystikverständnis der Religionswissenschaft erwarten. Der Vf. beschränkt sich aber auf das Religionsverständnis der Religionsphänomenologie, ohne dies deutlich zu machen oder weiter zu diskutieren. Das gegenwärtige leitende Religionsverständnis der Religionswissenschaft ist allerdings ein sehr anderes: "Auch in abstraktester Verfremdung, wie es die Kategorie des ,Heiligen' ist, bleiben die religiösen Kategorien religiös und damit ungeeignet für die wissenschaftliche Begriffssprache. Für die Religionswissenschaft ist Religion eine ausschließlich kulturelle (d. h. vom Menschen gemachte) Erscheinung" (G. Kehrer, Art. Religion, Definition der, HrwG IV, 1998, 424 f.). Meiers theologisch gemeinte positive Überlegungen zur Wirklichkeit subjektiver mystischer Erfahrung (22-24) wirken angesichts der gegenwärtigen Religionswissenschaft eher harmlos und veraltet. Dadurch ist vom Ansatz her ein wirklich aktueller Austausch religionswissenschaftlicher und theologischer Beobachtungen zu Paulustexten nur sehr begrenzt eröffnet. So steht am Beginn auch Forschungsgeschichte statt einer theoretischen Bemühung um den Dialog religionswissenschaftlicher und innertheologisch-neutestamentlicher Wahrnehmungs- und Untersuchungssprache. Religionswissenschaft tritt nur in dem ganz begrenzten Aspekt antiker Religionsgeschichte in den Blick. Daraus ergibt sich ein zweites vorweg zu benennendes Defizit: Die gundlegende Differenz zwischen religionswissenschaftlicher und theologischer Fragestellung ist dem Vf. nicht bewusst. Insofern bleibt seine Darstellung von einzelnen Zügen paulinischer Religiosität innertheologisch und ist religionswissenschaftlich nur schwer vermittelbar.

Das gilt des Näheren auch für sein Mystikverständnis, das ganz auf intensive religiöse Erfahrung bezogen ist. Folgende Elemente machen für den Vf. Mystik aus: (1.) Mystik "ist eine Form von Religiosität" (20). (2.) "Im Zentrum von Mystik steht unmittelbare Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit" (21). (3.) "Mystische Erfahrung übersteigt das alltägliche Bewußtsein und die verstandesmäßige Erkenntnis" (21). (4.) Sie "ist Erfahrung einer vagen Verbundenheit der Gläubigen mit der himmlischen Welt" (24). (5.) "Die konkreten Erscheinungsformen der mystischen Erfahrung ... sind in den geschichtlichen und kulturellen Rahmen einer Religion eingebunden" (25). Die gegenwärtige Religionswissenschaft kann demgegenüber präzisieren: "Mystik ist ein Sammelbegriff für Erfahrungen, in welchen Grenzen aufgelöst werden" (Metzler Lexikon Religion Bd. 2, 1999, 509; vgl. Meier 274 f., wo er dieser Definition nahekommt). Einen weiteren religionswissenschaftlichen Aspekt hat der Vf. übergangen: Mystik als "die schwer zugängliche, geheimnisvolle Lehre oder Schriftdeutung" (HrwG IV, 176), bzw. als "Konzepte, Lehren und Literaturgattungen, die solcherart immanente Transzendenz oder transzendente Immanenz bezeugen, erzählen, beschreiben" (MLR a. a. O.). Die Frage nach spezifisch mystischer Theologie als Reflexion mystischer Erfahrung in sprachlicher Artikulation und literarischer Gestaltung müsste von hier aus thematisch selbständig für Paulus erörtert werden.

2. Was macht für Meier die Mystik in den Paulusbriefen aus? Unter der (verengenden) Überschrift "Formen mystischer Erfahrung" diskutiert er sechs Erscheinungsformen paulinischer Mystik: (1.) die Formel "In Christus", (2.) Visionen, (3.) Auditionen, (4.) Raptus, (5.) Inspiration, (6.) Immanenz. Hier sind heterogene Elemente zusammengestellt. Eine erste Gruppe bilden Vision, Audition, Raptus und Inspiration. Sie sind Formen intensiver religiöser Erfahrung, die in den unterschiedlichsten religionsgeschichtlichen Zusammenhängen auftreten. Für Paulus besonders wichtig sind die frühjüdische Prophetie und die apokalyptische Literatur. Eine zweite Gruppe bilden die Formel "In Christus" und die sog. Immanenzaussagen (Wohnen des Geistes oder Christi in den Gläubigen). Sie führen in das Zentrum paulinischer theologischer Sprache und stellen zugleich genuin mystische Sprachformen im Sinne der Grenzüberschreitung dar. Der Vf. unterscheidet nicht zwischen diesen beiden Gruppen und versteht die Formel und die Immanenzaussagen nicht von ihrer sprachlichen Seite her, sondern nimmt mindestens die Immanenzaussagen als Ergebnis "religiöser Erfahrung" (246) und stellt sie damit neben die religiösen Phänomene der ersten Gruppe. Hier wäre eine Differenzierung notwendig gewesen.

3. Wie stellen sich nun die zentralen Formen mystischer Erfahrung bei Paulus für Meier dar? Die Formel "In Christus" versteht er modal im Sinne von "bestimmt von", "orientiert an", "nach Art des" (38). M. greift also die älteren mystischen Deutungen der Formel nicht auf. Bei dem Thema Vision unterscheidet er zwischen der sog. Damaskusvision und weiteren Visionen (nach 2Kor 12,1.7; Gal 1,12.16). Die Damaskusvision versteht er als Christusvision, die Paulus zum Apostel machte (80). Wichtig und weithin überzeugend sind die kritischen Ausführungen M.s zu der These, die Rechtfertigungslehre sei aus der Vision entstanden, und zum Verständnis der Damaskusvision als sog. Ostererscheinung. Der Vf. verfolgt Spuren visionärer theologischer Sprache bei Paulus: 2Kor 3,18 und 1Kor 13,12 sowie 2Kor 4,6. Dabei betont er den Wirklichkeitsanspruch der metaphorischen Spiegel- und Doxaaussagen des Paulus (94). Die Bedeutung der Vision für Paulus schätzt er sehr hoch: In der Damaskusvision ist das "Ursprungsmotiv für den Glauben und das gesamte Wirken des Christen Paulus zu sehen ... Daher kann die Bedeutung des Visionären für ihn kaum unterschätzt werden" (95). Wenn das so ist, gilt: "Paulus behauptet, Christus begegnet zu sein, und in dieser Begegnung wurzelt sein ganzes weiteres Wirken" (96). Und: "Wenn diese Erfahrung als innerseelisches Geschehen interpretiert würde, müßte sein Apostolat als Größenwahn und seine Predigt vom Kyrios als Wunschphantasie angesehen werden" (ebd.). Es ist ein Verdienst der Arbeit, auf diesen Punkt deutlich hinzuweisen. Ob die Antwort des Vf.s vom Hinweis auf das antike gegliederte Wirklichkeitsverständnis her hier weiterhilft, ist eine grundlegende theologische Frage.

Nach einigen Überlegungen zu indirekten Auditionen (der Ausdruck "berufener Apostel" und die sog. "Herrenworte") untersucht der Vf. "zwei direkte Auditionsberichte" (107): 2Kor 12,4 und 12,9, besonders ausführlich das zweigliedrige Christuslogion 12,9. Der Vf. macht für die "unsagbaren Worte" von 2Kor 12,4 sehr wahrscheinlich, daß es sich nicht um Geheimwissen, sondern um das "Unsagbare" der himmlischen Wirklichkeit handelt. Das Christuslogion der persönlichen Audition von 2Kor 12,9 interpretiert der Vf. überzeugend als "eine relativ getreue Wiedergabe der Ursprungserfahrung" (113). M. kommt zu dem Ergebnis, "daß Paulus mystische Erfahrung als etwas betrachtet, worauf er zu Recht stolz ist und wofür ihm Anerkennung durch andere zusteht ... Irdische Schwäche erweist sich als Resultat der Teilhabe an himmlischer Stärke" (118). Auditionen bedeuten Teilhabe am himmlischen Geschehen, das für Paulus nach jüdischer Offenbarungsliteratur "kein stummes Bild ist, sondern auch Stimmen und Geräusche umfaßt" (118).

Der Raptus, d. h. die Entrückungsbeschreibung in 2Kor 12,2-4, wird vom Vf. sorgfältig im Zusammenhang von 2Kor 12,1-10 untersucht. Der Vf. versteht die Entrückung als einen einzigen, aber in sich differenzierten Vorgang. Der vertikalen Entrückung in den dritten Himmel folgt eine horizontale Entrückung ins Paradies als den Ort der Gerechten. Der Modus der Entrückungserfahrung: leiblich oder außerleiblich, ist für Paulus nicht eindeutig. Eine differenzierte traditionsgeschichtliche Analyse führt den Vf. zu dem Urteil, Paulus sei "nicht als ein früher Vertreter rabbinischer Mystik" zu betrachten (152). Vielmehr lassen sich die "Ähnlichkeiten, die zwischen neutestamentlicher und späterer jüdischer Mystik bestehen, ... aus gemeinsamen Wurzeln in den Entrückungsberichten frühjüdischer Apokalyptik" erklären (152). Diese deutliche Verortung des persönlichsten Zuges paulinischer "mystischer" Religiosität in der frühjüdischen Apokalyptik stellt einen der wesentlichen religionsgeschichtlichen Erträge des Buches dar. Zugleich macht der Vf. deutlich, in welch hohem Maß die frühjüdische apokalyptische Literatur selbst "mystisch" geprägt ist (153).

Inspiration tritt in den paulinischen Briefen in den bekannten Phänomenen der Glossolalie und der Prophetie auf. Die Glossolalie leitet der Vf. aus der jüdisch-hellenistischen Popularfrömmigkeit her (180) und versteht das Phänomen als "massive(n) ... mit einem Rausch vergleichbaren Zustand" (189), wobei er die "profane Inspirationserfahrung" der Korinther nicht übersieht (190). Die Prophetie versteht der Vf. als "inspirierte ... Äußerung ..." mit "Offenbarungsqualität" (224). Beide Phänomene sind Grenzübergangsphänomene im Sinne einer "Teilhabe an der himmlischen Welt" (224). Die eigene mystische Komponente beider Größen sieht der Vf. einmal in der aktiven "Beteiligung des Mystikers am mystischen Geschehen" (227), zum anderen in der Unabhängigkeit dieser Form von Inspiration und Autorität.

Die sog. Immanenzaussagen sind für die Mystik bei Paulus besonders wichtig. Subjekte der Einwohnung sind der Geist und Christus selbst. Die Einwohnungsaussagen hält der Vf. nicht nur für einen Lehrgegenstand bzw. eine religiöse Theorie, sondern versteht sie als Ausdruck religiöser Erfahrung. Als Erfahrungen interpretiert er vor dem Hintergrund der Inspirationsmantik Motive der folgenden Texte: (1.) "Eigentum der Gottheit werden" (260) zu 1Kor 6,15 ff.; (2.) "Das Leben verlieren und gewinnen" (260) zu Gal 2,19 f.; (3.) "Einwohnung am Ort der Schwäche" (262) zu 2Kor 4,7; (4.) "Erleuchtet werden" (263) zu 2Kor 4,6; (5.) "Organon werden" (264) zu 1Kor 9,16 f.; (6.) "Schädliche Immanenz" (266) zu 2Kor 12,7 und Röm 7,17-23.

Überall sieht der Vf. "Erfahrungen" bzw. "empirische(n) Hintergrund" (269). Hier wird man - auch abgesehen von der unglücklichen Empirie-Formulierung - skeptisch bleiben. Auch wenn der Vf. die "reflexive Dimension" dieser Aussagen durchaus erwähnt (269), wird doch die Frage nach der Rolle der Sprache im Verhältnis zur sog. Erfahrung nicht genügend reflektiert. Wohl beschreibt Paulus religiöse Thematik in Erfahrungssprache. Wie aber dringt man im Bereich historischer Rekonstruktion durch die Sprache zur Erfahrung? Ist dies überhaupt eine sinnvolle Fragestellung? Damit steht die Erfahrungskategorie selbst in Frage.

Am Schluss fragt man: Was hat der heuristische Begriff "Mystik" geleistet? In der Tat eignet er sich besser als "pneumatische Phänomene" oder "Enthusiasmus" (279), um religiöse Grenzüberschreitungserfahrungen zu beschreiben. Fraglich ist dagegen, auf welche Erfahrung Paulus sich in mystischer Sprache bezieht und wieweit "Wirklichkeit" hinter der Sprache mystischer Religiosität aufscheint. Immerhin hilft der Begriff, einen Teilbereich von Religion des Paulus speziell herauszugreifen und zu beschreiben. - Der Schlussparagraph 23 will eine Verhältnisbestimmung von Mystik als einem Teilaspekt paulinischer Religion und Soteriologie als einem Teilaspekt paulinischer Theologie vornehmen. Evangelium, Kreuz, Rechtfertigungslehre und Eschatologie: Der Vf. sieht in diesen vier entscheidenden Bereichen paulinischer Theologie zugleich religiöse Erfahrung. Rechtfertigungslehre und Mystik versteht er als "kompatible Elemente des paulinischen Glaubens" (295).

Das Buch enthält wichtige exegetische Ausführungen, bedeutsamer aber scheint mir die Thematik selbst zu sein. Die "Religion" des Paulus steht angesichts der neuen Religionswissenschaft aber anders zur Disposition, als der Vf. auf Grund seiner Beschränkung auf die Religionspsychologie erfasst. Hier muss weitergearbeitet werden.