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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

751–756

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg

Titel/Untertitel:

Die johanneische Eschatologie. I: Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus. II: Das johanneische Zeitverständnis.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997/98. XIX, 550 S. u. XVI, 369 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 96 u. 110. Lw. DM 188,- u. Lw. DM 178,-. ISBN 3-16-146716-7 u. 3-16-146845-7.

Rezensent:

Klaus Wengst

Grundlage dieser Rezension sind die ersten beiden Bände eines zunächst auf eben zwei Bände angelegten und dann doch drei Bände umfassenden Gesamtwerks zur johanneischen Eschatologie, wobei sich der dritte Band der Auslegung der einschlägigen Texte widmen soll.

Der erste Band enthält eine ebenso umfassende wie anspruchsvolle Forschungsgeschichte. Frey geht es dabei um das Gesamtverständnis des JohEv im Horizont der Frage nach der Eschatologie. Auch er macht die Erfahrung, "daß die Diskussion eines theologischen Einzelthemas wie der Eschatologie nur im Rahmen eines Gesamtverständnisses der johanneischen Literatur in angemessener Weise erfolgen kann" (401). Die Aufgabe seiner Forschungsgeschichte erblickt er darin, "scheinbare Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und gängige Problembeschreibungen und Fragestellungen durch den kritischen Rekurs auf ihre Genese und ihre Konstitutionsbedingungen durchsichtiger zu machen" (5). So schreibt er Forschungsgeschichte "als Problemgeschichte" (6). Das ist ihm in meinen Augen gut gelungen. Er hat, von Reimarus an, eine umfangreiche Literatur bearbeitet - natürlich mit klarem Schwerpunkt im deutschen Sprachbereich, der angelsächsische ist weit einbezogen, auch der französische kommt vor. Wer sucht, wird gewiss etwas vermissen. F. ist sich bewusst, "nicht mehr als eine möglichst begründete Auswahl der relevanten Beiträge und der erkennbaren Linien der vielschichtigen Diskussion" bieten zu können (6). Für meinen Geschmack ist eher zu viel aufgenommen und zu umfänglich dargestellt. Aber wenn man z. B. einen abgelegenen Teildruck aufgestöbert und sich vergeblich um die ganze Dissertation bemüht hat, muss man das offenbar dokumentieren (214, Anm. 28). Herausgekommen ist so ein sehr umfangreiches Werk, das aber lesenswert und auch gut lesbar ist. Auf die unschöne Wortbildung "präsentisieren" hätte F. allerdings besser verzichtet.

Der 1. Teil ("Die Konstitution des Forschungsproblems": 9-84) umfasst die Zeit von Reimarus bis zum frühen Bultmann. Als Problem gilt die Verhältnisbestimmung von präsentischen und futurischen Aussagen. Es tritt in der Form auf, dass von der Aufklärung an Aussagen des JohEvs dazu benutzt werden, traditionelle Ausführungen über die Endzeit so umzuinterpretieren, dass sie ganz in den Horizont der Gegenwart zu stehen kommen. So führt die "neuzeitliche Kritik an der traditionellen Eschatologie" zur Bevorzugung des 4. Evangeliums (27 f.). Die exegetischen Fragestellungen werden von Baur bis zur liberalen Theologie präzisiert, als sich bei der Rückfrage nach dem "historischen" Jesus eine Alternative zwischen Johannes und den Synoptikern ergibt, was die Darstellung einer eigenständigen johanneischen Theologie ermöglicht. In einer ersten Zwischenbilanz stellt F. heraus, dass die Auslegung des JohEvs "unter den Zwang verhängnisvoller Alternativen (geriet): zwischen Äußerlichem und Innerlichem, Partikularem und Universalem, Orts- und Zeitgebundenem und Ewigem etc." (49), Alternativen, die "bis in die Gegenwart" weiter wirken und vor denen F. auch im Blick auf "den latenten Antijudaismus" warnt. Der zeigt sich bei den im folgenden Paragraphen dargestellten älteren literarkritischen Versuchen manifest vor allem bei Wellhausen und Hirsch. Im letzten Paragraphen dieses Teils wird "die johanneische Eschatologie in wechselnden religionsgeschichtlichen Horizonten" (Bousset, Schlatter, Bauer und früher Bultmann, Odeberg) dargestellt, wobei Odeberg als zukunftsweisend über Bultmanns Kommentar hinaus beurteilt wird.

Im 2. Teil führt F. Bultmanns Johannesauslegung als "Synthese der älteren Forschung" vor - geht dabei auch intensiv auf seine Begrifflichkeit in ihrer Beziehung zu Heideggers Philosophie ein - und destruiert sie (85-157). Diese Destruktion erfolgt so gründlich, dass von Bultmanns Voraussetzungen und Ergebnissen in religionsgeschichtlicher, literarischer und theologischer Hinsicht so gut wie nichts bleibt. Daher sei "das 4. Evangelium noch einmal neu nach dem zugrundeliegenden Zeitverständnis bzw. seinem Umgang mit dem Faktor ,Zeit' zu befragen" (149; vgl. auch die S. 156 angeführten fünf Punkte für eine Arbeit am JohEv "nach Bultmann").

Der 3. Teil stellt "die Diskussion um die johanneische Eschatologie unter dem Eindruck der Interpretation Bultmanns bis etwa 1970" dar (159-263). Nach Bultmanns Schülern - es sei auf die Zusammenfassung S. 199-203 verwiesen - werden die übrige deutschsprachige evangelische (nennenswert vor allem Stählin sowie Cullmann und Ricca) und katholische Diskussion (Blank, Schnackenburg) und die Diskussion in der angelsächsischen Forschung angeführt. Warum der Entwurf von Dodd "hier keine hinreichende Diskussion erfahren kann" (249) und Barrett sich mit zwei Seiten begnügen muss, bleibt angesichts der Ausführlichkeit in der Besprechung mancher recht unbedeutender Beiträge unerfindlich.

Im 4. Teil ("Die neuere Diskussion um das Johannesevangelium und seine Eschatologie": 265-387) stellt F. zunächst "die neuere Literarkritik" (besonders Richter und Becker) vor und legt einleuchtend ihr Dilemma dar, das "in eine interpretatorische Sackgasse führt" (so im Urteil über Becker, 287). Der nächste Paragraph fasst Arbeiten "im Lichte von Linguistik, Literaturwissenschaft und Soziologie" zusammen. Hier werden Thyens Arbeiten nach seiner "methodologischen Wende" gewürdigt, L. Schenkes Verständnis des Johannesevangeliums als "dramatische Inszenierung" hinterfragt, ein interessanter kleiner Beitrag in Reader-Response-Perspektive von Adele Reinhartz vorgestellt und unter den soziologisch orientierten Ansätzen besonders der von Onuki hervorgehoben.

Der letzte Paragraph dieses Teils führt "neueste Interpretationsmodelle" an, zunächst die Arbeit von Stimpfle. Aus deren ausführlicher Darstellung und Kritik (12 Seiten!) ist nicht ersichtlich, dass sie auch nur einen weiterführenden Gedanken provoziert hätte. An der "Neufassung der redaktionsgeschichtlichen Fragestellung" durch Strecker und Schnelle hebt F. als hermeneutisch bedeutsam hervor, dass isolierbare Traditionsstücke "im Gesamtrahmen des Evangeliums verstanden und nicht gegen diesen ausgespielt (werden)" (365). Schließlich stellt er die Arbeiten von Koester und Schmithals als je unterschiedliche Versuche vor, das Bultmannsche Interpretationsmodell unter veränderten Grundannahmen wieder aufzunehmen, und argumentiert - für mich überzeugend - gegen diese Grundannahmen.

Im abschließenden 5. Teil (389-470) versucht F., eine Zusammenfassung und einen Ausblick zu geben. Nach Bultmann sei die Diskussion "freier geworden - aber auch beliebiger: Man kann fast alles behaupten und ,irgendwie' begründen" (393). Sämtliche historischen Grundannahmen sind strittig (395-401). Das lässt F. aber nicht resignieren. Als "Kernproblem" stellt er "das harte, unvermittelte Nebeneinander präsentischer und futurischer Aussagen" heraus (418), dem es sich zu stellen gelte. Deren "schroffe Alternativsetzungen" wie auch die von Eschatologie und Apokalyptik, von linearzeitlichem und zyklischem, von temporalem und spatialem Denken hatte er vorher schon begründet zurückgewiesen (407-416) und davor die interessante Beobachtung gemacht, daß mit der "doppelten Eschatologie" diejenigen "am wenigsten Schwierigkeiten" haben, "die das 4. Evangelium vor dem Hintergrund palästinisch-jüdischen bzw. judenchristlichen Denkens interpretieren" (405).

Der letzte Paragraph zieht "methodologische Folgerungen" und stellt "Perspektiven" heraus. Hier geht F. ausführlich auf die Frage nach dem corpus interpretandum ein und votiert - unter Zurückweisung der gegen Ruckstuhl vorgebrachten Einwände und Heranziehung der erneuerten Stilanalysen von Ruckstuhl und Dschulnigg - für die Einheit des ganzen JohEvs. Dennoch vertritt er zu Joh 21, im Unterschied zu Thyen, keine ",glatte' Lösung" (448). Er nimmt es ernst und hält es nicht für Fiktion, dass die Sprecher von 21,24 f. sich vom Autor des Werkes unterscheiden, und meint daher, dass dieses Kapitel nicht Zielpunkt des ganzen Evangeliums und Schlüssel für seine Interpretation sei (451). Das ist für die Frage nach der Eschatologie wohl nicht so entscheidend. Wichtig wird es sein, ob es gelingt, die unterschiedlichen eschatologischen Aussagen im Zusammenhang miteinander zu interpretieren.

Ansätze dafür werden sichtbar, wenn F. in 15 Punkten "thesenhafte Folgerungen zur Perspektive der Interpretation" gibt (455-465), die als Ertrag für die Weiterarbeit angesehen werden können, deren Basis bilden und in den beiden folgenden Bänden ausgearbeitet werden sollen. Was hier vorgelegt wird, ist respektabel und solide begründet.

Ich will nur noch auf einen Problempunkt eingehen. F. stellt fest: "Methodologisch gibt der Gang durch die Forschungsgeschichte Anlaß zur Ernüchterung" (427). Demgegenüber hofft er auf "eine bessere Grundlage ..., wenn den philologischen Untersuchungen, d. h. der präzisen und möglichst umfassenden Analyse der Gestalt der vorliegenden Texte, das gebührende Gewicht eingeräumt wird" (429). Wenn er in diesem Zusammenhang das Insistieren Schlatters auf das "Sehen" hervorhebt (428, Anm. 6), kann das den Optimismus dämpfen. Denn es hat diesen nicht davor bewahrt, die johanneischen Texte immer wieder massiv judenfeindlich auszulegen. Nach F. "muß die philologische Beobachtung, die präzise Analyse und Deskription dessen, was die vorgegebenen Texte tatsächlich sagen, vor der Interpretation der erhobenen Sachverhalte stehen" (458; die zweite Hervorhebung von mir). Die Philologie kann jedoch nur beschreiben, was dasteht; eine Interpretation, die das vernachlässigt, wäre gewiss schlecht beraten. Aber was die Texte sagen, ist doch nur, wie F. in seinem zweiten Punkt zu Recht anführt, in ihrer "Funktion als Kommunikationsmittel zwischen dem Autor und seinen Adressaten zu begreifen" (456). Dazu aber müsste etwas über deren Situation eruiert werden können. Denen, die das versuchen, sollte man nicht vorwerfen, dass sie den Text "unmittelbar" als Widerspiegelung der Abfassungssituation lesen. Die simple Einsicht, dass die "Dialoge und Reden Jesu ... unmittelbar auf die im Text erwähnten Gesprächspartner (zielen) und nur mittelbar ... auf die Leser des Evangeliums" (457), ist auch ihnen erschwinglich. Wie schnell man im Glashaus sitzt, zeigt F., wenn er in Band II "die ,vergegenwärtigende' Wirkung der ausgedehnten Jesusreden im 4. Evangelium" anführt, "die die Leser besonders unmittelbar mit dem Wort Jesu konfrontieren" (81; Hervorhebung von mir). Reicht es im Übrigen, hinsichtlich der Situation der Adressaten so allgemein von "Bedrängnis durch Anfechtung und Sünde, Welt und Tod" zu reden (463)?

Diese umfangreiche und verdienstvolle Forschungsgeschichte bot F.s eigener Arbeit an den Texten gewiss große Hilfen. Dennoch glaube ich nicht, dass sie dafür conditio sine qua non war, wie er S. 470 andeutet. Sie hat ihren Wert auch in sich selbst. Eine noch so genaue Beachtung der Forschungsgeschichte wird uns nicht hindern, unsere eigenen Fehler zu machen. Mich leitet sie vor allem auch dazu an, bescheiden von unserer Wissenschaft zu denken und ja nicht zu meinen, wir bildeten am Ende einer vermeintlichen Erfolgsgeschichte mit unserer Arbeit den krönenden Abschluss.

Der zweite Band hat sein Spezifikum in philologisch-exegetischen Untersuchungen zur Tempusverwendung und Zeitbehandlung im JohEv. Damit möchte F. das Zeitverständnis des Evangelisten erkennen. Wie schon der erste Band zur Forschungsgeschichte ist auch dieser von einer außerordentlichen Gründlichkeit und Solidität geprägt. Verbunden ist damit auch eine große Ausführlichkeit - nicht ohne Redundanz.

Im zweiten Band ist allerdings wesentlich weniger sorgfältig Korrektur gelesen worden als im ersten, in dem mir kaum Versehen aufgefallen sind. An einigen Stellen sind auch Verweise stehen geblieben, die zeigen, dass ursprünglich nur zwei Bände geplant waren. Mit ihnen wird auf Paragraphen "u." hingewiesen, die es hier nicht gibt, weil sie erst im dritten Band geboten werden.

Den Rahmen des zweiten Bandes bilden die Worte erchetai hora kai uyu estin (Joh 4,23; 5,25). Sie dienen am Beginn dazu, die Ausgangsfrage prägnant zu beschreiben. Am Ende kann sie F. nach den Untersuchungen dazwischen schlüssig beantworten. Die zitierten Worte provozieren die Fragen: "Wie kann die kommende Stunde schon gegenwärtig sein und die gegenwärtige Stunde eine kommende?" (2) "Inwiefern läßt sich die im 4. Evangelium verkündigte Gegenwart der Zoe aionos ... und der krisis ... mit der Erwartung einer künftigen Auferstehung ... und eines Gerichts 'am letzten Tag' ... in ihrem Zusammenhang verstehen?" (3) Zur Beantwortung möchte F. "eine möglichst umfassende Bestandsaufnahme der Elemente" vornehmen, "in denen Zeit und Zeitbezüge sprachlich zur Darstellung kommen" (21).

Im ersten Teil über "die Tempusverwendung in der johanneischen Sprache" gibt er zunächst den statistischen Befund hinsichtlich der Häufigkeit der Tempusformen, differenziert ihn im Blick auf die Tempusverteilung innerhalb des Evangeliums (24-36) und setzt sich dann kenntnisreich mit der neueren Diskussion um Sinn und Funktion der griechischen Tempusformen auseinander (38-57) - mit dem Ergebnis, dass es unter Berücksichtigung lexikalischer und kontextueller Elemente sinnvoll ist, "durch eine Untersuchung der johanneischen Tempusverwendung den johanneischen Umgang mit Zeit und das im 4. Evangelium vorliegende Zeitverständnis zu präzisieren" (57). Für das JohEv weist er an Beispielen nach, dass sein Autor über "eine differenzierte Fähigkeit der Tempusbehandlung" verfügt "sowohl hinsichtlich der impliziten aspektuellen Nuancierung als auch hinsichtlich der temporalen Perspektivierung" (76). Auf ein Referat der Besprechung der einzelnen Tempora (79-129) sei hier verzichtet und nur angemerkt, dass F. besonders hinsichtlich der johanneischen Verwendung des Präsens, Perfekt und Futur zu wichtigen Ergebnissen kommt.

Der folgende Paragraph behandelt "Tempuskontraste" im JohEv (130-146). Im Blick auf scheinbar gegensätzliche Tempusformen, unmittelbar miteinander verbunden, fordert F. "eine Interpretation, die den aspektuellen und ggf. temporal-deiktischen Wert der sprachlichen Ausdrücke ernst nimmt und sachlich zur Geltung bringt" (130). Er führt das in drei Zusammenhängen durch. Ich weise nur auf die Besprechung von 13,31 f. und ähnlichen Sätzen hin, wo Retrospektive und Prospektive zusammenstehen. "In der ,Stunde' Jesu sind das irdische Werk Jesu und das mit seinem Tod beginnende und durch denselben erst ermöglichte nachösterliche Heilsgeschehen miteinander verschränkt" (136). - Am Ende des ersten Teils gibt F. eine "Zwischenbilanz" (147-152), die in acht Punkten die gewonnenen Ergebnisse wiederholt und im neunten Punkt Konsequenzen zieht, die später deutlicher wiederkehren.

Im zweiten Teil zur "Zeitbehandlung" im JohEv widmet sich F. zunächst dem "temporalen Rahmen" und seiner Funktion (154-207). Beim "Aufbau des temporalen Gefüges im johanneischen Text" beobachtet er, dass er grundsätzlich retrospektiv geschrieben ist, aber durch die ausgedehnten Reden Jesu immer wieder den Eindruck erweckt, "unmittelbar in Jesu Gegenwart versetzt ... zu sein" (163), und spricht im Blick darauf - unter Aufnahme einer Anregung Culpeppers - von "temporaler Stereoskopie" (164). Die wird er später weiter entfalten. Hinsichtlich des "temporalen Rahmens der erzählten Geschichte Jesu" hebt er die Verlangsamung des Erzähltempos auf die "Stunde" Jesu hin hervor (172) und bespricht sämtliche chronologischen Notizen. Als Ertrag dieses Paragraphen stellt er "die raum-zeitliche Konkretheit der erzählten Geschichte Jesu" heraus (203) und die "Konzentration auf die integrale ,Stunde' Jesu" (204).

Im folgenden Paragraphen (208-246) wird zunächst die Bedeutung dieser Stunde "als endzeitliches Erfüllungsgeschehen" (216) hervorgehoben, um dann die Unterscheidung der Zeiten vor und nach der Stunde Jesu herauszustellen. Der Evangelist differenziert und schaut doch zugleich zusammen (220. 246). So ist sein Werk "eine programmatisch im Lichte der nachösterlichen Erkenntnis verfaßte Anamnesis der Geschichte und der Worte Jesu" (223). Von daher werden die Modelle abgewiesen, die das johanneische Zeitverständnis durch die Vorstellung vom "Zerfließen" der Zeiten (Holtzmann), von existentialer Zeit (Bultmann, Klein), von der "Mitte der Zeit" (Cullmann) erfassen wollen (243-245). Die gleichzeitige Differenzierung und Zusammenschau von vorösterlicher und nachösterlicher Zeit, die "temporale Stereoskopie", wird weiter entfaltet im Paragraphen über "die Verschmelzung der temporalen Horizonte" (247-268), wo besonders Onuki aufgenommen wird. Als Ertrag dessen gilt vor allem, dass an der konkreten Geschichte Jesu festgehalten und sie zugleich für die Gemeinde fruchtbar gemacht (261) und so "die Einheit von Verkündiger und Verkündigtem" herausgestellt werden kann (266).

Schließlich macht F. diese Horizontverschmelzung für "die Interpretation der prospektiven Aussagen" fruchtbar (269-283). Er stellt die unterschiedlichen Lektüreebenen heraus, dass der Text zugleich als Rede des irdischen Jesus und als Anrede des Erhöhten gelesen werden kann und soll, dass die Lesenden, wenn sie eine Perspektive eingenommen haben, durch den Text auf die jeweils andere hingeführt werden. Für die Aussagen vom Kommen Jesu heißt das, dass sie sowohl auf ein bereits erfolgtes zurück- als auch auf ein noch ausstehendes vorausweisen. Für das Verständnis der zu Beginn zitierten Worte vom Kommen und Dasein der Stunde heißt das, dass sie in doppelter Perspektive zu lesen sind: Aus der Perspektive des Irdischen gelesen, weisen sie einmal voraus auf die nachösterliche Zeit und halten zugleich die vorwegnehmende Verwirklichung im Handeln Jesu fest. Aus der Perspektive der Gemeinde gelesen, bezeichnen sie deren "gegenwärtige pneumatische Wirklichkeit" und zugleich den "nicht aufgehobenen Verheißungscharakter dieser Aussagen" (282). So ist der Boden bereitet, auch die futurisch-endzeitlichen Aussagen im Zusammenhang des JohEv sinnvoll zu verstehen. Das sollen die exegetischen Untersuchungen im dritten Band leisten. Der abschließende dritte Teil dieses zweiten Bandes bietet eine konzentrierte Zusammenfassung (285-298).

Andere könnten vielleicht mit F. grundsätzlich kontrovers diskutieren. Da ich ihm im Wesentlichen zustimme, vermag ich das nicht. Das schließt natürlich nicht eine Diskussion an vielen Einzelpunkten aus. Ich will hier nur auf einen Zusammenhang eingehen. F. betont massiv - und ausschließlich - den temporalen Charakter der Präexistenzaussagen: Der Evangelist bringe Jesu "Präexistenz vor dem Bestand der Welt ... (zur Sprache) unter Einschluß der Vorstellung, daß der präexistente Sohn Anteil hat am zeitunbegrenzten Wesen ... des Vaters" (232). Aber was ist damit gesagt? Am Beginn des Evangeliums hätte jedenfalls nicht formuliert werden können: "Am Anfang war Jesus usw." Natürlich ist Jesus von vornherein im Blick; aber es liegt keine glatte Identität vor, sondern ein differenzierter Zusammenhang. Bei der zusammenfassenden Wiederholung auf S. 286 fügt F. unter Verweis auf Joh 1,1 f.18; 20,28 noch hinzu: "ja er ist ... Gott". Beachtet man, wie der Evangelist bei  den Artikel gebraucht und weglässt und dass es sich bei 20,28 um eine bestimmte Anrede handelt, wird man sich vor einer solchen glatten Identifizierung hüten. Mir scheint, daß auch das Pochen auf Philologie nicht davor schützt, daß Rückprojektionen aus der Christentumsgeschichte auf die Auslegung einwirken. Wenn der Evangelist Jude war, müsste m. E. viel stärker gefragt werden, wie die von ihm wahrgenommenen Sprachmöglichkeiten im jüdischen Horizont verstanden werden können. Eine eher nebenbei gemachte Formulierung reißt in meinen Augen in dieser Hinsicht Unabgeklärtes auf, wenn von "(zumindest) einem Teil" der Gemeinde als "Christen (entspricht diese Bezeichnung dem Selbstverständnis jüdischer Menschen, die im 1. Jh. Jesus für den Messias halten?) mit ehemals (?) jüdischem Hintergrund" (?) gesprochen wird (259). Noch ein letzter Hinweis: Im Rahmen der Ausführungen zur Präexistenz findet sich folgender - vielleicht "nicht zufällig" (eine bei F. beliebte Wendung) verunglückter - Satz: "Seine (Christi) personale Präsenz Christi umgreift auch die Geschichte des Gottesvolkes" (236). Ich glaube nicht, dass man die Aussagen des Evangeliums, auf die F. sich hier bezieht, so verallgemeinern darf. Aber selbst wenn der Evangelist so gedacht hätte, dass F. meint, im nächsten Satz folgern zu können: "Deshalb kommt dieser Geschichte keine eigenständige ,heilsgeschichtliche' Dignität mehr zu" - darf ein Ausleger am Ende des 20. Jh.s, der eine inzwischen erfolgte lange Geschichte von Juden und Christen überblickt, diesen Satz so stehen lassen?

Meine - durchaus vermehrbaren - Anfragen stellen den großen Wert dieser Arbeit nicht in Frage, die von gründlichen philologischen Beobachtungen ausgehend die Linien zur Interpretation auszieht. Sie macht deutlich, daß die verschiedenen eschatologischen Aussagen im JohEv im Zusammenhang verstanden werden können - und dass es ein Gewinn ist, sie im Zusammenhang zu verstehen.