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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

747–751

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Beck, Norman A.

Titel/Untertitel:

Mündiges Christentum im 21. Jahrhundert. Die antijüdische Polemik des Neuen Testaments und ihre Überwindung. Aus dem Amerik. übers. von Chr. Kock, Th. Krapf und Chr. Münz.

Verlag:

Berlin: Institut Kirche und Judentum 1998. XIV, 448 S. 8 = Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum, 26. Lw. DM 34,80. ISBN 3-923095-28-7.

Rezensent:

Kristlieb Adloff

Es ist dem Institut Kirche und Judentum zu danken, dass es das 1994 in zweiter Auflage mit einer Einführung von Christopher M. Leighton erschienene Buch von Norman A. Beck (Texas Lutheran College): "Mature Christianity in the 21st Century. The Recognition and Repudiation of the Anti-Jewish Polemic of the New Testament" der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht hat. Peter von der Osten-Sacken hat ein Geleitwort (,Neuer Wein in neuen Schläuchen': IX-XIV) beigesteuert, in dem er das Buch als "Pionierarbeit", als "bisher umfassendsten Versuch, dem Problem des Antijudaismus im Neuen Testament zu begegnen" (XII), würdigt.

Was ist mit ,antijüdischer Polemik' gemeint? B. unterscheidet drei Kategorien (383-386): 1.) Die christologische Polemik. Sie gehört, bei nötiger (theozentrischer) Selbstkritik und Selbstbegrenzung zum Wesen des Christentums und zu seinen unaufhebbaren, unter Umständen fruchtbaren Antinomien im Verhältnis zum Judentum. 2.) Die enterbungstheologische Polemik. Sie lässt sich der Jugendzeit (Adoleszenz) der entstehenden christlichen Religion zuordnen und sollte sich bei zunehmender Kenntnis und einfühlsamer Wahrnehmung des Judentums für ein reif gewordenes Christentum relativieren bzw. erledigen. 3.) Die diffamierende Polemik. Sie, die nach Meinung B.s keineswegs für das ganze Neue Testament (z. B. nicht für Apk, Hebr, Jak, 1Petr, Jud und 2Petr) typisch ist, muss als "schädlich für das jüdische Volk und entmenschlichend für uns Christinnen und Christen" (385 f.) bekämpft und von Grund auf überwunden werden. B. (220 f. Anm. 21; 387) hält es für eine unerlaubte Verharmlosung, hier mit manchen Forschern von einem innerjüdischen ,Familienkonflikt' zu sprechen.

Lässt sich das Phänomen für B. mit den genannten Kategorien einigermaßen erfassen, so findet sich in seinem Buch eine auf Vollständigkeit bedachte Bestandsaufnahme in den einzelnen Schriften des Neuen Testaments (Recognition). Sein Hauptanliegen aber ist es, Wege für einen neuen Umgang der Kirche mit dem ohne Wenn und Aber als (freilich nicht überall ,bösartig'!) antijüdisch zu kennzeichnenden Neuen Testament zu suchen, Überwindung (Repudiation) ererbter Judenfeindschaft bis hin zu Folgerungen für Einzelfragen der Übersetzung und der gottesdienstlichen Lektionspraxis. Dass er damit ebenso grundsätzliche theologische Fragen - etwa im Blick auf die Autorität des Neuen Testaments ("written code": 75-78.94-101; auch Leighton 51-53) - wie übersetzungstheoretische und liturgische Fragen aufwirft und eine Fülle von exegetischen Detailproblemen berührt, die einer weiterführenden gründlichen und kritischen Diskussion bedürfen, ist dem Autor bewusst. Sollen dabei nicht "Ketzerhüte ... verteilt werden" (von der Osten-Sacken X f.), so wäre zu wünschen, dass die von B. mit Recht geforderte hochnotwendige "ernsthafte und verantwortliche Selbstkritik" (57) des Christentums durch solche Diskussion gefördert wird.

Der Aufriss des Buches im Anschluss an Leightons hilfreiche Einführung (1-55) ergibt sich aus dem Vorhaben des Autors. Nach einer die Rolle der Polemik in heiligen Schriften am Beispiel der jüdischen Bibel, des Neuen Testaments, des Korans, des Buchs Mormon, der ,Göttlichen Prinzipien' der Vereinigungskirche beleuchtenden Einleitung (61-72), die das Identitätsproblem werdender religiöser Gemeinschaften thematisiert, und einem kurzen Aufriss der Problemstellung (73-83) durchmustert B. die einzelnen Schriften des Neuen Testaments, beginnend mit den ,echten' Paulinen (83-134). Es folgen die paulinischen Pseudepigraphen (135-151), das Markusevangelium (155-197), ,Q' als mutmaßliche Quelle für Matthäus und Lukas (199-204) sowie das Matthäusevangelium (205-233). Auffällig ist der Raum, den B. dem lukanischen Doppelwerk widmet: Es sind 102 Seiten, mehr als ein Drittel dessen, was für das gesamte Neue Testament (83-381) beansprucht wird (Lukasevangelium: 235-284, Apostelgeschichte 285-337, s. u.). Gemessen daran wird die Polemik des Johannesevangeliums und der johanneischen Briefe (339-371) relativ kurz behandelt, gefolgt von den restlichen Schriften des Neuen Testaments (373-381). Der letzte Abschnitt (383-392) bringt Konklusionen im Blick auf ein ,mündiges' Christentum des 21.Jh.s, das, wie der Autor hofft, die jahrtausendealte christliche Judenfeindschaft hinter sich lässt. Sollte der Leser aus Titel und Einleitung des Buches den Eindruck gewonnen haben, es handele sich beim Antijudaismus des Neuen Testaments um eine sozusagen normale, mit den Jahren sich auswachsende Jugendsünde des Christentums, so wird dieser Eindruck im Schlussabschnitt (wie im ganzen Buch) zurechtgerückt. Es fragt sich dann freilich, aus welchen Quellen sich der Optimismus B.s speist. Wird es der Markt richten (101; 149 u. ö.)? Auschwitz (389) jedenfalls stimmt nicht gerade hoffnungsvoll, auch nicht, wenn man ,Auschwitz' als Chiffre für ein heute nötiges Umdenken in Anspruch nimmt.

Das Buch reizt zu einer ins Einzelne gehenden Besprechung, für die aber hier kein Raum ist. Zudem wird jede Würdigung der deutschen Ausgabe auch den Unterschied zwischen dem geistig-kulturellen (politischen!) Klima in den USA einerseits und in Deutschland andererseits berücksichtigen müssen. Mein Haupteinwand gegen das Buch ist davon gewiss nicht unberührt. B. scheint zu hoffen, durch eine umfassende Revision des antijüdischen Neuen Testaments jenes Maß an Political Correctness erreichen zu können, das im Verhältnis des Christentums zum Judentum (wie im Verhältnis der Religionen überhaupt: Anhang B, 397 f.) im 21. Jh. aus Gründen der Humanität als unerlässlich erscheint. Ohne diesen Gesichtspunkt geringzuachten: An den Nutzen der von B. praktizierten Political Correctness vermag ich nur sehr bedingt zu glauben, befürchte sogar angesichts der dem Religiösen notwendig anhaftenden Leidenschaft höchst unerwünschte Nebenwirkungen. Wenn B. z. B. für die im Kontext vielleicht entbehrlichen (unpaulinischen?) Verse 1Thess 2,13-16 wie in vielen anderen Fällen Kleindruck in der Bibelübersetzung empfiehlt (92), so könnte er damit der Stelle in den Augen mancher Leser gerade erhöhten Reiz geben. Weiter: So sehr die Frage nach der Verantwortung für den Tod Jesu auf der historischen Ebene diskutiert werden mag bis hin zu dem denkbaren Ergebnis, dass jüdische Kreise nicht daran beteiligt waren (was B. überhaupt nicht in Erwägung zieht), so wenig wird die selbstkritische Frage des Glaubenden nach seiner Schuld durch kosmetische Operationen am Text gefördert. Den Pharisäern als den Lehrern Israels Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist eine Sache. Wenn aber z. B. der ,Pharisäer' von Lk 11,37 gemäß einem beliebten homiletischen Klischee als "traditionstreuer Zeitgenosse" (244) wiedergegeben wird: Meint der Autor damit sich selbst oder meint er andere (fundamentalistische?) Figuren in seinem Umfeld, von denen er sich abgrenzt? Auf wen zielt er mit den religious leaders (Übersetzung: "bibeltreue Zeitgenossen" 183) von Mk 10,2? In der Sache - Ehescheidung - dürfte er wohl als moderner Theologe auf der Seite der ,bibeltreuen Zeitgenossen' stehen? Umgekehrt will mir durchaus einleuchten, dass man das penetrante ,die Juden' im Johannesevangelium wie in der Apostelgeschichte nicht selten mit Jesu ,Gegner' bzw. ,Feinde' wiedergeben kann (307 f.; 310; 362 u. ö.), zumal dann, wenn man gelernt hat, Gegnern und Feinden mit Respekt zu begegnen.

Ein mündiges bzw. reifes Christentum sollte den Anblick seiner geschichtlichen Abgründe wohl aushalten können, möchte man meinen, auch da, wo es um seine ,heiligen' Texte geht. Und der Wunsch nach einer ,reinen' Bibel - wäre er nicht auch Ausdruck eines schlechten Fundamentalismus? Wenn B. (59.77 f.94) wie von der Osten-Sacken (XI f.) darauf verweisen, dass ein freier Umgang mit dem neutestamentlichen Kanon in der Geschichte der Kirche nichts Neues darstelle, so ist dem natürlich zuzustimmen, wenngleich die dafür angeführten Beispiele, z. B. Luthers Geringschätzung des Jakobusbriefes (81), eher zur Vorsicht mahnen könnten - ganz zu schweigen vom judenfreien ,Volkstestament' der Deutschen Christen. Indes: Da der sog. ,Urtext' ein wissenschaftliches Konstrukt darstellt, gibt es das Neue Testament überhaupt nur in - selbstverständlich immer interpretierenden - mehr oder weniger kanonischen Übersetzungen. Und wenn Übersetzungen bisweilen unnötig, unter Umständen sogar absichtsvoll antijüdisch aufgeladen werden (127-130, man erinnert sich hierzulande der Kontroverse zwischen David Flusser und Ulrich Wilckens), so ist vom Übersetzer hohes Verantwortungsbewusstsein und äußerste Sensibilität zu fordern (sensitive = ,einfühlsam': 136 u. ö.). Das gälte umso mehr, falls Leighton recht hat, der das antijüdische Vorurteil mit einem "unverwüstlichen Virus" vergleicht, "der die entnervende Angewohnheit hat, immer dann auszubrechen, wenn wir uns für vollständig immun halten" (27).Würde diese Gefahr nicht gerade angesichts eines von Antijudaismen gereinigten Neuen Testaments bestehen (vgl. Mt 12,43 ff./Lk 11,24 ff.)?

Keine noch so vollkommene Übersetzung entkommt dem etwa durch die evangelische Passionsgeschichte erzeugten Sog einer antisemitischen Wirkungsgeschichte. B. selbst scheint zum Opfer einer durch die Wirkungsgeschichte verzerrten Optik zu werden, wenn er, der den markinischen und johanneischen Entwurf aus dem Verständnis für die Situation der Gemeinde einigermaßen annehmbar zu machen sucht, die ,Hau-den-Lukas'-Methode zumal auf die Apostelgeschichte, die "antijüdischste Schrift im Neuen Testament" (371 vgl. 286 u. ö.), anwendet und ,Lukas' als politisch opportunistisch denunziert (335 f.). Statt den Auctor ad Theophilum (dessen Werk noch ganz andere Lesarten zulässt!) neben Matthäus zum Hauptsündenbock zu machen und bei der Verlesung etwa von Act 3 f. "unter Protest die Kirche" zu "verlassen" (298 Anm. 19), wäre es vielleicht Zeichen kommender christlicher Reife und Mündigkeit, dem selbstkritischen Protest, selbstverständlich unter Beachtung von Jak 1,19, im christlichen Gottesdienst Raum zu geben. Das ließe dann auch andere Folgerungen zu, als sie B. für die Lese- und Predigtordnung in den lutherischen Kirchen meint ziehen zu sollen. Da etwa in einem Revisionsvorschlag der Luth.-Liturgischen Konferenz Deutschlands von 1995 eine ähnliche Vermeidungsstrategie empfohlen wird wie bei B., halte ich dagegen, dass ,problematische' Texte im öffentlichen Gottesdienst nicht ignoriert werden sollten, sondern gerade besondere kritische Aufmerksamkeit, sei's durch Präfamina (von der Osten-Sacken X), sei's durch die Predigt verdienen. Man mag zwar auf fragwürdige Bibelcollagen wie die Improperien im Karfreitagsgottesdienst (100 Anm. 34) wie auch auf Mk 12,1-12 als gottesdienstliche Lesung zu Gunsten von Jes 5 (186 ff.) gern verzichten - ein brisantes Kapitel wie Joh 8 (358 f.) sollte in der Gottesdienstordnung gerade dann nicht ausgespart werden, wenn man "Auswirkungen auf die christliche Psyche" (359) in Rechnung stellen muss. Verdrängen hilft nicht.

Anders als B. setze ich folglich im Interesse des mündigen Bibellesers statt auf Auswahl und glättende Übersetzung eher auf den für jede moderne Bibelausgabe unerlässlichen kritischen Kommentar. Und da der neutestamentliche Kanon in der Tat prinzipiell offen ist, darf der Wunsch nicht als zu vermessen erscheinen, es möchte eines Tages den vier Evangelien ein fünftes hinzugefügt werden, das die irdische Geschichte des von den Toten auferweckten Juden Jesus noch einmal neu und israelgemäßer erzählte. B. versteht seine Aufgabe gegenüber der neutestamentlichen Tradition als Gärtner im Sinne von Joh 15,2 (227 f.). Ob ihm gelegentlich auch Mt 13,24-30 in den Sinn gekommen ist? Was ja nicht Gleichgültigkeit bedeuten müsste! Jedenfalls darf man auf die von B. angekündigte Übersetzung des Neuen Testaments gespannt sein.

Die großen Mühen, die die Übersetzung des Buches sowie die Umstellung (Literatur, Perikopenordnungen etc.) für den deutschen Markt gekostet hat (von der Osten-Sacken XIII f.), kann dem aufmerksamen Leser nicht entgehen. Gelegentlich gibt es auch hilfreiche Präzisierungen gegenüber dem Original (vgl. z. B. 17 Anm. 16). Da und dort bereitet der Vergleich mit dem Original Irritationen: S. 37 sollte deadening mit ,abstumpfend' (nicht ,abgestumpft') wiedergegeben werden. Wissenschaftliche Gesprächsgegenstände (48) sind wohl eher ,anregend' (exhilerating) als ,erheiternd' (obwohl das auch manchmal zutreffen mag). Der playwright (242; 254 ff. u. ö.) meint den Stückeschreiber, nicht den ,Dramaturgen'. Lenten Season ist Fastenzeit (Passionszeit), nicht ,Osterzeit' (367). - Die Ausgabe verfügt noch über eine für den deutschsprachigen Raum hilfreiche bibliographische Ergänzung durch Peter von der Osten-Sacken (417-422). Bibelstellen- und Autorenregister erleichtern den Umgang mit dem Buch.