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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

733–735

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Brauer, Bernd

Titel/Untertitel:

Das Bild der Unheilsprophetie Israels in der frühen soziologisch orientierten Forschung.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 1999. XII, 382 S., 3 Tab. gr.8 = Altes Testament und Moderne, 3. Kart. DM 59,80. ISBN 3-8258-3330-5.

Rezensent:

Rainer Kessler

Wie schwer manche Kunst ist, merkt man am schmerzlichsten dann, wenn die Aufführung misslingt. Was bei geglückter Darbietung wie selbstverständlich daherkommt, wird bei schief intonierenden Musikern oder hölzern wirkenden Schauspielern zum zweifelhaften Vergnügen. Das gilt auch für die Kunst der forschungsgeschichtlichen Darstellung. Leider gehört die anzuzeigende Münsteraner evangelisch-theologische Dissertation von 1996 nicht zu den ungetrübten Kunstgenüssen.

Dabei ist der Gegenstand der Untersuchung von größtem Interesse. Denn sowohl die in den letzten 25 Jahren ausgearbeitete sozialgeschichtliche Fragestellung zum Alten Testament als auch die vermehrte Heranziehung alttestamentlicher Texte in aktuellen sozialethischen Diskursen (Erlassjahrkampagne, Diskussionen um den Sonntag, Eigentumsfrage u. a.) legen nahe, nach den Wurzeln dieser Herangehens- und Verwendungsweise in den "soziologisch orientierten Forschungen" "am Ende des 19. bzw. am Anfang des 20. Jahrhunderts" zu fragen. "Unter ,soziologisch orientierten Untersuchungen' sind" nach B. dabei "die Untersuchungen zusammengefaßt, die menschliche Verhaltensweisen und Einstellungen auf ihre gesellschaftliche (soziale, kulturelle, politische usw.) Bedingtheit und Ausprägung hin befragen" (3). Deren Erforschung in ihrer frühen Phase könnte einen doppelten Gewinn bringen: Sie könnte "als Beitrag zur Reduzierung von möglichen Fehlerquellen in der gegenwärtigen Auslegung" dienen, und sie könnte aufzeigen, "welche kritischen wie positiven Potentiale für Inhalte und Methodik zur Beschreibung der Prophetie Israels verborgen geblieben sind, in Vergessenheit gerieten oder unbewußt weiterwirken" (11).

Was bei fortschreitender Lektüre B.s zunehmend Unbehagen hervorruft, ist die Art der Darstellung. Referat reiht sich an Referat, wobei zwischen Wichtigem und Unwichtigem kaum unterschieden und die jeweils leitende Fragestellung nicht zugespitzt wird. Häufige Wiederholungen erhöhen nicht den Grad der Klarheit. Lenkworte, die einem in der Wüste des Referierten die Orientierung erleichtern könnten - also Vokabeln wie "ferner, gleichzeitig, daneben, nichtsdestoweniger, deshalb, wenn auch, so" u. Ä. - werden immer wieder falsch verwendet und lassen in die Irre denken. Widersprüche bleiben auf kürzestem Raum stehen und hindern, weil man dem Rätsel auf die Spur kommen will, am Weiterlesen ("Die Propheten unterliegen ... reaktionären Tendenzen und der Verklärung der Vergangenheit", sechs Zeilen weiter: "Grundlegend für das Interesse der Unheilsprophetie an den vergangenen Zeiten ist weder reaktionärer Konservatismus noch romantische Verklärung", 286). Grammatikfehler auf praktisch jeder Seite bringen beim Lesen ins Stolpern, und nur gelegentlich wird der zunehmend in Trübsinn verfallende Rez. durch Stilblüten aufgeheitert ("Nationalistische Zusätze im Amosbuch widersprechen dieser Tendenz und sind als spätere Zusätze anzusehen", 236; "Eine Typologie religiöser Autorität findet sich in allen Religionen und läßt sich nicht klar umreißen oder den heiligen Mann umgibt etwas Geheimnisvolles", 270; "Die Unheilspropheten zeichnen sich gegenüber den später auftretenden Propheten durch ihr vorexilisches Auftreten", 285).

Gewiss bemüht sich B., der von ihm dargebotenen Stofffülle eine sachgemäße Gliederung zu unterlegen. Zunächst ordnet er die von ihm untersuchten Autoren einem Denkmuster zu, das er "organismisch-konziliant" nennt; "organismisch" deshalb, "weil sie bei ihrer Gesellschaftsbeschreibung von der Vorstellung ausgehen, daß der Mensch ... sich auf einen bestimmten gesellschaftlichen Körper oder ,Organismus' hin entwickelt", "konziliant", weil so beschriebene "Konzilianzgesellschaften" "eine Präferenz für solidarische Netzwerke des Familien- und Nachbarschaftsverbandes" entwickeln (14). "Organismisch-konziliante" Ansätze wären so gegen liberal-individualistische auf der einen und ausschließlich von der Gesellschaft her denkende marxistische auf der andern Seite abzugrenzen. Unter dieser Grundbestimmung nimmt B. dann eine Zweiteilung vor in "kulturwissenschaftlich beeinflußte Ansätze" (61-181) und in "positivistisch und funktionalistisch beeinflußte Ansätze" (181-248). In der ersten Abteilung werden ausschließlich deutsche Autoren behandelt, solche "mit ansatzweiser Theoriebildung" (66) - Neuscholastiker, Bodenrechtstheorien und die historisch-ethische Schule der Nationalökonomie - und solche "mit einer systematisierten Theoriebildung" (98) - von Wilhelm Wundt über Werner Sombart zu Ernst Troeltsch und Max Weber. Zur zweiten Abteilung gehören demgegenüber ausschließlich Franzosen, nämlich die Soziologen und Anthropologen Auguste Comte, Emile Durkheim und Lucien Lévy-Bruhl, die Theologen Antonin Causse und Adolphe Lods und - ziemlich unpassend - der Lebensphilosoph Henri Bergson. Der "Rest" - es handelt sich überwiegend um Amerikaner und Skandinavier - wird in einem Sowohl-als-auch-Kapitel ("positivistisch-funktionalistisch und kulturwissenschaftlich beeinflußte Ansätze", 248-293) und in einem mit "deskriptive Ansätze" überschriebenen Abschnitt zusammengefasst (293-310).

Vor allem bei der Profilierung der französischen Soziologie hebt B. dabei durchaus wichtige Eigenheiten hervor, die in der deutschen Forschung so in der Tat weit seltener zu finden sind, etwa die streng funktionalistische, von den Institutionen her denkende Betrachtung religiöser Phänomene, das "fließende Ineinanderübergehen von sozialhistorischer und mentalitätsgeschichtlicher Analyse" (186 f.) oder die Entdeckung der "mentalité primitive" bei Lévy-Bruhl. Nur leider versagt bei der Anwendung auf die Prophetenforschung die von B. zu Grunde gelegte Unterteilung in deutsche Kulturwissenschaft und französische Soziologie, denn sowohl bei Causse als auch bei Lods muss er konstatieren, dass sie sowohl "französisch" als auch "deutsch" beeinflusst sind.

Andere Fragestellungen, die zum deutsch-französischen Schema quer stehen, hätten wahrscheinlich einen besseren Leitfaden der Darstellung abgegeben. Ich denke an Fragen wie die, ob die Propheten sozialethische Relevanz haben oder als Utopisten einzuschätzen sind, ob sie reaktionäre Bewahrer des Alten oder revolutionäre Neuerer sind, ob sie Kritik nur an Auswüchsen oder am gesellschaftlichen System üben, ob sie ein "nomadisches" oder ein "Mittelstandsideal" haben oder Ähnliches. Vor allem das alle von B. getroffenen Einteilungen überschreitende Phänomen des "Nomadismus" hätte eine eigenständige Würdigung verdient.

Was bleibt? B. breitet eine Fülle von Material aus, darunter wahre Schätze, die er der Gefahr des Vergessens entreißt. Wo kämen in gegenwärtigen Diskussionen Autoren wie Franz Walter (68-72) oder Salo Wittmeyer Baron (262-266) vor, um nur zwei herauszugreifen? Doch Vorsicht! Man wird beim Referat von B. immer auf die Quellen zurückgreifen müssen. Denn kann man wirklich Wellhausen, Duhm, Budde und Gunkel in einem Atem der "religionsgeschichtlichen Schule" zuschlagen (28)? Sollte Lods tatsächlich behaupten: "Eine positive Vorstellung vom ,Tag Jahwes' existiert auch in Ägypten" (234)? Sollte der Kreis um Stefan George wirklich "von großem Einfluß" auf Dilthey gewesen sein (243), dessen Hauptwerk erschien, als George 15 Jahre alt war? - Über diese Fülle von Unsicherheiten hinaus, die fast die Fülle des von B. ausgebreiteten Materials erreicht, bleibt als Grundeindruck nach mühevoller Lektüre: B. hat viel Stoff referiert. Aber er hat ihn nicht wirklich bewältigt.