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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1230–1232

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kienzler, Klaus

Titel/Untertitel:

Gott ist größer. Studien zu Anselm von Canterbury.

Verlag:

Würzburg: Echter 1997. 188 S. gr.8 = Bonner Dogmatische Studien, 27. Kart. DM 39,-. ISBN 3-429-01908-7.

Rezensent:

Martin Thurner

Gemeinhin wird die Bedeutung des Anselm von Canterbury (1033-1109) philosophiegeschichtlich in der Begründung des ’ontologischen Gottesbeweises’ und theologiegeschichtlich in der Formulierung der ’Satisfaktionslehre’ gesehen. Doch sowohl terminologisch als auch inhaltlich isoliert diese Auffassung die diesbezüglichen gedanklichen Ansätze bei Anselm aus ihrem sinnstiftenden Kontext und gleicht daher eher einer groben Reduzierung. Der vorliegende, durch ein deutsches und lateinisches Begriffsregister gut erschließbare Sammelband, in dem größtenteils auf die Schriften Proslogion und Cur deus homo konzentrierte Vorträge für die Internationalen Anselm-Konferenzen aus 15 Jahren enthalten sind, ist ein wichtiger Beitrag zur Überwindung dieser verengenden Sichtweise. Der Autor, der bereits durch seine Monographie zu Glauben und Denken bei Anselm von Canterbury (Freiburg 1981) als Anselm-Kenner ausgewiesen ist, findet zu einem der Ursprungsintention Anselms angemessenen Verständnis seiner Aussagen, indem er sie aus dem Gesamtzusammenhang seines theologisch-philosophischen Grundgedankens interpretiert.

Vorgängig zur Deutung einzelner Denkinhalte stellt K. die Frage nach der für Anselm spezifischen Denkform, aus der heraus die einzelnen Momente seines Gedankens Gestalt gewinnen. Indem er diese als die "christliche Dialogik" bestimmt, bringt er zugleich Augustinus als die maßgebliche Quelle der anselmischen Denkform in den Blick. Der K.s Anselm-Interpretation zugrundeliegende hermeneutische Grundsatz, wenn ein Thema oder ein Argument bei Anselm dunkel oder auf den ersten Blick nicht verständlich ist, dann sollte man zuerst bei Augustinus nachschauen (37), erweist sich von Anfang an als fruchtbar. Die in der personalen Beziehung zwischen Gott und Mensch bestehende christliche Dialogik bringt deshalb die theologisch-philosophische Spekulation in Gang, weil sie im Hinblick auf die unüberbrückbar scheinende Differenz der Dialogpartner die Problemstellung impliziert, wie überhaupt ein derartiges Verhältnis zustande kommen könne.

Zentrale Schriften Augustins (Soliloquia, De vera religione, Confessiones) und das in deren Wirkungsgeschichte stehende Proslogion Anselms lassen sich von dieser Ausgangsaporie her verstehen. Das den augustinischen Confessiones vergleichbar in der Form eines Dialoges mit Gott gehaltene Hauptwerk Anselms, als dessen bestimmendes Thema bereits im Titel Proslogion die christliche Dialogik ausgewiesen wird, beginnt wie Augustins Soliloquia mit einem Gebet, in dem sich der Mensch zur Größe Gottes einerseits und seiner zudem durch die Sünde gebrochenen kreatürlichen Unvollkommenheit andererseits bekennt. Die Frage, wie es unter diesen Bedingungen dennoch möglich ist, ein Gebet zu Gott zu sprechen, fordert nun die philosophische Reflexion zur Vergewisserung der dem Menschen immer schon innewohnenden Transzendenz heraus. Dies geschieht bei Augustinus in den neuplatonische Philosopheme rezipierenden ekstatischen Aufstiegsversuchen im VII. Buch und der Vision von Ostia im IX. Buch der Confessiones, bei Anselm aber im damit in seinem Sinnzusammenhang aufgewiesenen unum argumentum von Proslogion 2-4.

Im Anschluß an die Entdeckung der Entsprechung in der Systemstelle vermag K. auf zahlreiche, bisher noch unbemerkt gebliebene inhaltliche, strukturelle und z. T. sogar wörtliche Parallelen zwischen den genannten augustinischen Texten und Anselms Proslogion zu verweisen. Als mögliche literarische Brücke von Augustinus zu Anselm identifiziert K. die Confessio theologica (ca. 1017) des Johannes von Fécamp, wo der ekstatische Text des Augustinus bereits zu der dann bei Anselm vorliegenden Grundform der Meditation transformiert wird. Auf die in den Ausführungen zu Augustinus und Anselm offen bleibende Frage macht der Vf. selbst aufmerksam, wenn er bemerkt, daß er auf Unterschiede zu Anselm nicht näher eingehen kann, da es zuerst einmal wichtig ist, Entsprechungen zu entdecken (39).

Das anselmische Argument vermag K. aber auch aus dem Horizont gegenwärtiger Philosophie her zu erschließen. In einem eigens hervorzuhebenden Beitrag macht er die Erwägungen von E. Lévinas zum ontologischen Argument bei Descartes für die Anselm-Interpretation fruchtbar, um dadurch zugleich aufzuzeigen, daß der diesbezügliche Gedanke bei Anselm einfacher und deutlicher da ist (76). Den Inhalt des ontologischen Argumentes sieht Lévinas in der Einsicht, daß der im Denken vergegenwärtigten Idee der Unendlichkeit auch über das Denken hinaus Wirklichkeit zukommt.

Die ’Exteriorität’ des Unendlichen hat nach Lévinas die Gestalt eines Antlitzes, aus der Beziehung zu dem heraus sich das endliche Denken zu allererst als solches konstituieren kann. Als Ausdruck der (An-)Erkenntnis der radikalen Abkünftigkeit des Denkens deutet K. nun den Grundgedanken des anselmischen Argumentes, daß dem Begriff des größeren Gottes auch außerhalb des Denkens Wirklichkeit entsprechen müsse. Die Option für oder gegen Anselms Argumentation führt K. konsequenterweise auf die Entscheidung zurück, ob das Denken anerkennen kann, daß das Sein (res) größer ist als das Denken (intellectus) (91). Im Zusammenhang dieses Beitrages wäre auch ein Verweis auf einen allzuoft vergessenen Rezipienten des anselmischen Argumentes aufschlußreich, der dieses bereits vor Descartes in einer Lévinas vorwegnehmenden Weise weitergedacht hat: Den in seinem ersten Hauptwerk De docta ignorantia ausdrücklich mit dem Unendlichen identifizierten anselmisch geprägten Gottesbegriff des maximum reflektiert Nikolaus Cusanus in seiner mystischen Schrift De visione dei im Bild eines unendlichen Antlitzes, im Anblick dessen die Wirklichkeit des endlichen Denkens besteht.

Die im letzten Teil des Sammelbandes vorgelegten Beiträge haben zum Anliegen, das, was einem verbreiteten Mißverständnis gemäß als Anselms Satisfaktionslehre bezeichnet wird, nach der Inkarnation und Kreuzestod des Gottessohnes als Genugtuung für die in der Sünde Gott zugefügte Ehrenbeleidigung zu deuten seien, aus dem umgreifenden Sinnzusammenhang des betreffenden Werkes Cur deus homo einem angemessenen Verständnis zuzuführen. In einer Analyse des Planes dieser Schrift erweist K. sie als einen soteriologischen Entwurf, in dem die gesamte Schöpfungs- und Heilsordnung im Blick (172) ist. Aus der Perspektive des Menschen erscheint Gott im I. Buch als die absolute Gerechtigkeit, während sich im II. Buch aus der Perspektive Gottes die Barmherzigkeit als die größere Gerechtigkeit erweist. Die Erhellung dieser einzigartigen Konkordanz von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes ist die tiefste Sinnmitte der Menschwerdung des Gottessohnes (153).

Indem K. Anselms theologisch-philosophisches Werk unter Berücksichtigung all seiner Kontexte interpretiert, vermag er es als ein geschlossenes Ganzes einsichtig zu machen, in dem religiöse Erfahrung und rationale Spekulation zu einer ausgewogenen Synthese vermittelt sind. Da somit deutlich wird, daß jede Beschränkung auf einen dieser beiden Pole dem anselmischen Gedanken nicht gerecht wird, ist dem Band sowohl im theologischen als auch im philosophischen Bereich eine breite Rezeption zu wünschen.