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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

724–726

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gantke, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung.

Verlag:

Marburg: diagonal 1998. 468 S. 8 = Religionswissenschaftliche Reihe, 10. Kart. DM 78,-. ISBN 3-927165-47-6.

Rezensent:

Michael Bergunder

In Laufe der letzten Jahrzehnte hat es die deutsche Religionswissenschaft fast aufgegeben, weiter nach einer konsensfähigen Definition für einen Religionsbegriff zu suchen, um den Gegenstand des Faches zu bestimmen. Religion wird meist nur noch als ein besonderes kulturelles Kommunikations-, Deutungs- oder Symbolsystem verstanden. Hintergrund dieser Entwicklung ist das Bemühen, Religionswissenschaft als eine empirisch-historische Kulturwissenschaft zu etablieren, die sich vollständig von der Theologie emanzipiert hat. Inhaltliche Bestimmungsversuche von Religion, wie sie vor allem im Begriff des Heiligen seit Rudolf Otto versucht wurden, gelten als diskreditiert, da sie empirisch nicht verifizierbare Kriterien enthalten und ihre Plausibilität einer Innenperspektive der christlichen Theologie verdanken. Die mitunter von anti-theologischen Ressentiments begleitete Abkehr von gängigen Religionsdefinitionen führt jedoch in der Konsequenz zur "Auflösung des Religionsbegriffs in den Kulturbegriff" (Sabbatucci).

G. wendet sich mit seiner Untersuchung, der seine an der Universität Bonn eingereichte Habilitationsschrift zu Grunde liegt, explizit gegen die eben skizzierte Entwicklung, da er den Begriff des Heiligen bewahren und damit der Religionswissenschaft eine inhaltliche Religionsdefinition erhalten möchte. Er kritisiert den Versuch, die Religionswissenschaft auf ein an der Naturwissenschaft maßnehmendes kulturwissenschaftliches Methodenideal zu verpflichten. In Anlehnung an einen Vorschlag seines früh verstorbenen Lehrers H.-J. Klimkeit bezeichnet er seine Herangehensweise als "problemorientiert" und meint damit eine historisch orientierte Religionsphänomenologie, die ein Denken in geschlossenen Systemen ablehnt und in besonderer Weise die Grenzen objektivierenden Denkens betont.

Leider verweist G. nur sehr summarisch auf C. F. v. Weizsäcker, G. Picht und K. Hübner als Kritiker "objektivistischer Ontologien", ohne die Methoden und Ergebnisse moderner Wissenschaftstheorie und Analytik näher zu diskutieren. Die Eckpunkte von G.s problemorientierter Religionsphänomenologie speisen sich aus anderen Quellen. Aus H. Plessners philosophischer Anthropologie übernimmt er die Rede von der positionalen Exzentrizität des Menschen, um damit eine religiös gedeutete "unbestimmt-immanente Transzendenzoffenheit" (308) zu bezeichnen, die zur Grundlage seines sehr weiten Verständnisses des Heiligen wird: "Das Heilige ist kein festes Prinzip, kein höchster Wert, keine fertige, stets bereitliegende und bei Bedarf abrufbare Antwort, sondern eine die Menschen zu allen Zeiten zutiefst beunruhigende, zuweilen auch verunsichernde und für die heutige Religionswissenschaft nach wie vor wichtige, ,offene Frage''" (280).

G. betrachtet das Heilige mit Bezug auf O. F. Bollnow als eine "historisch-heuristisch-hermeneutische Lebenskategorie" (46), die sich nicht in die Form einer eindeutigen Begriffsdefinition bringen lässt. Damit knüpft er an seine - seit kurzem auch als Buch ("Religion, Wissenschaft und Leben", Cuxhaven/Dartford 1998) vorliegende - Dissertation an, in der er bereits versucht hatte, Bollnows originelles Werk für die religionswissenschaftliche Diskussion fruchtbar zu machen. Ebenfalls in Anlehnung an Bollnow vertritt G. einen "Geschichtlichkeitsgedanken", in dem "auch Formen und Ideen, Denkrahmen und Methoden nicht länger dem Vergeschichtlichungsprozeß entzogen bleiben" (272). In einer wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenschau bedeutsamer Heiligkeits-Konzeptionen, in der er zwei Traditionslinien unterscheidet - eine rational-funktionalistische und eine irrational-erlebnistheoretische - kritisiert er, dass nirgendwo mit der Geschichtlichkeit des Heiligen gerechnet wurde und erst die problemorientierte Religionsphänomenologie hier neue Wege geht.

Als Konsequenz seines Ansatzes sind für G. Voraussetzungslosigkeit, Wertneutralität und Objektivität in der Religionswissenschaft nicht zu verwirklichen, sondern die Bemühung um vorurteilsfreies Verstehen kann nur nach genauer Reflexion des eigenen Vorverständnisses erfolgen. Deshalb fordert er eine bewusste Kontextualisierung der problemorientierten Religionsphänomenologie, verbunden mit einer dialogisch-interkulturellen Betrachtungsweise, um eine eurozentrische Sichtweise des Heiligen zu verhindern.

G. betont wiederholt, dass er für eine Religionswissenschaft eintritt, die in ihrem Fach einen Methodenpluralismus duldet. "Strömungen, die an methodischer Sicherheit interessiert sind und deshalb auf den umstrittenen Begriff des Heiligen lieber verzichten", sollen mit Richtungen koexistieren, "die stärker an methodischer Offenheit für geschichtliche und biographische, unberechenbare und nichtreproduzierbare Erfahrungen des Heiligen" orientiert sind (428). Ganz bewusst setzt sich der Vf. damit zwischen alle Stühle. Mit seiner nicht-theologischen und als "offene Frage" gestellten Rede vom Heiligen möchte G. der Religionswissenschaft eine Sonderstellung erhalten und sie sowohl "gegen theologische als auch gegen säkularistisch-profane Vereinnahmungstendenzen verteidigen" (202). Auf der einen Seite versteht er die problemorientierte Religionsphänomenologie ausdrücklich nicht als ",normative' Religionsphilosophie" (277), auf der anderen Seite billigt er ihr aber durchaus religions- und ideologiekritische Funktionen zu.

Leider ist die Darstellung, die häufige Wiederholungen aufweist, etwas langatmig geraten, und der Vf. formuliert vielerorts recht unpräzise. An manchen Stellen ist überdies ein eigenartiger Perspektivwechsel zu beobachten, wie im Abschnitt über die dialogisch-interkulturelle Betrachtungsweise, wo eher der Dialog der Religionen und weniger das Problem einer dialogischen Religionswissenschaft thematisiert wird.

Es handelt sich dennoch ohne Zweifel bei dem vorliegenden Werk um einen gewichtigen Beitrag zur andauernden Diskussion über das fachliche Selbstverständnis der Religionswissenschaft. Es ist zu hoffen, dass der starke Bezug auf Bollnow, dessen Ideen bisher nur in der Pädagogik breitere Beachtung erlangt haben, sich nicht hinderlich auf die Rezeption des Buches auswirken wird. G.s eigenwilliger Entwurf verdient es jedenfalls, debattiert zu werden. Auch für den theologischen Diskurs liefert das Buch einigen Stoff, wenn G. die problemorientierte Religionsphänomenologie in die Nähe der sogenannten Theologie der Religionen rückt.