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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

685–687

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stempin, Lothar

Titel/Untertitel:

Ordnung als Prozeß. Veränderte Orientierungs- und Steuerungskonzepte christlicher Lebensgestaltung am Beispiel der Leitlinien kirchlichen Lebens der VELKD.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1999. 256 S. gr.8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-579-02627-5.

Rezensent:

Michael Plathow

Die Gestaltung der Lebensordnung erweist sich als eine die Ecclesis semper reformanda kontinierlich begleitende Aufgabe. Nun wenden sich seit 1993 die Landeskirchen der VELKD und der EKU erneut der Herausforderung gemeindlicher und kirchlicher Lebensordnung zu. Am 26.6.1997 wurde der Entwurf von "Leitlinien kirchlichen Lebens der VELKD" (VELKD-Texte Nr. 76) und am 4.6.1997 der Entwurf der "Ordnung des kirchlichen Lebens der EKU" für das Stellungnahmeverfahren der Gliedkirchen freigegeben. Es handelt sich also noch um einen offenen Prozess, der auch den Wunsch nach einer gemeinsamen Lebensordnung von VELKD (5.12.1997) und EKU (4.-6.6. 1998) langfristig einbezieht.

In diesem Kontext kirchlicher Zeitgeschichte entstand die Studie von L. Stempin. Er selbst war als Geschäftsführer der VELKD-Arbeitsgruppe "Ordnung des kirchlichen Lebens" am Entwurf der "Leitlinien kirchlichen Lebens" beteiligt. Unter dem programmatischen Titel "Ordnung als Prozeß" will er "Perspektiven für das Konzept einer zukünftigen Lebensordnung" eröffnen (122). Die Arbeit wurde 1998 als Inauguraldissertation im Fach Praktische Theologie von der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angenommen.

In signifikanter Weise hebt der Autor den "Genuswechsel" (16, 18, 124, 156, 177, 196, 198, 221, 222) hervor von der "Lebensordnung" zur "Leitlinie kirchlichen Lebens"; angesichts veränderter gesellschaftlicher und kirchlicher Situation (20, 83, 101, 130, 134, 140, 153, 171) betont er das Neue der "Leitlinien kirchlichen Lebens" als "Lern- und Handlungsmodell für eine veränderte Sozialgestalt des Glaubens, für ein verändertes Verständnis von Leitung und Steuerung in Kirche und Gemeinde" (9). In der "Generationenfolge" der kirchlichen Lebensordnungen (vgl. auch A. Burgsmüller: Eine neue Generation von Lebensordnungen?, in: ZevKR 30, 1985, 354-365) der VELKD und der EKU von 1955, die im dogmatischen, rechtstheologischen und pastoraltheologischen Zusammenhang der Kirchenverfassungen und des neuen Evangelischen Kirchengesangbuches den Akzent auf die "kirchliche Sitte", die "Kirchenzucht" und das "Wächteramt" legten (64 ff.), kam es seit Ende der 60er Jahre zu fortschreibenden Revisionsversuchen, die den Aspekt der Einzelseelsorge verstärkt in den Blick fassten. Der Entwurf der Ordnung des kirchlichen Lebens des Bundes der Evangelischen Kirche in der DDR "Mit der Kirche leben" (1989/90) stellte dann eine Weichenstellung dar; als "Öffnungsordnung" orientierte er sich nicht nur an den Amtshandlungen, sondern am sozialen Modell des Miteinanders in der Zeugnis- und Dienstgemeinschaft der Gemeinde und am Leitgedanken der Konziliarität, der konfessionelle Traditionen und Profile in den Hintergrund treten lässt. Hieran knüpft der Entwurf der "Leitlinien kirchlichen Lebens der VELKD" an mit Abschnitten zu folgenden Handlungsfeldern: A. Die Kirche Jesu Christi; B. Das Leben in der christlichen Gemeinde; C. Persönliche Lebensverantwortung der Christen; D. Die christliche Mitverantwortung in der Gesellschaft; sie werden in den Interpretationsrahmen hineingestellt: a. Gegenwärtige Situation; b. Biblisch-theologische Orientierung; c. Leitlinien und Perspektiven. Als kirchentheoretische Implikationen (vgl. R. Preul: Kirchentheorie, Berlin-New York 1997) des Entwurfs hebt der Vf. hervor: 1. Sozialgestalt des Glaubens, 2. Kommunikation des Glaubens, 3. Struktur und Begründung von Leitung und Steuerung. In innerem Zusammenhang stehen sie, wenn sie Orientierung auf dem Feld der Lebensgestaltung des christlichen Glaubens hervorbringen (188); in ethischer Perspektive (124) durch das interdisziplinäre Gespräch mit systemtheoretischen Sozial- und Handlungswissenschaften sowie in der Wechselbeziehung von kirchlicher Praxis und theologischer Wissenschaft interpretiert er sie (32; vgl. u. a. Diskurstheorie, 123; Chaostheorie, 125; Theorie der Bürgergesellschaft, 178, 217).

1. Es sind "aus der Glaubenserfahrung und der Aneignung der reformatorischen Freiheitsbotschaft ,neue Ordnungen' zu entwickeln" (140). Eine "neue Aufmerksamkeit für die Bedingungen, unter denen Sozialformen entstehen" (140) und die Veränderung der "Grundparameter der Bekenntnishermeneutik" Situation und Tradition (141) verleihen den "Leitlinien" "einen völlig anderen Stellenwert: das Motiv des Bewahrens wird abgelöst durch das Moment der Gestaltung und Verantwortung" (143), die dann ein "produktives Verhältnis zu Differenz und Vielfalt" (146) impliziert und im Dynamisierungsprozess (141) "die Unschärfe von Systemgrenzen" (151).

2. Es geht um die "neue Vermittlungsaufgabe" (153 f.) in ethischer Intention, indem die "Leitlinien" aus dem "Üblichen", aus "der vermeintlichen Sicherheit der kirchlichen Sitte und aus der einengenden Sicherheit kirchlichen Rechts befreit" (156). Es handelt sich um eine Vermittlungsaufgabe, durch die "Innen und Außen, Gesinnung und Tat" (162), Individuum und Gemeinschaft (169) aufeinander bezogen werden zu einem Verständnis von Verbindlichkeit, das "nicht mehr allein heteronom und rückbezüglich" eingefordert wird, sondern sich als "geistliches Geschehen nach innen und gleichzeitig als spiritueller Prozeß nach außen" entwickelt (170).

3. Unter kybernetischem Gesichtspunkt wollen die "Leitlinien" ein "frame" sein, ein "Raum, in dem Klärungen sich vollziehen" (173) für christliche Glaubensgestaltungen, nicht "heteronom" (175), sondern "in Gestalt von regionaler Verankerung selbstorganisierter Initiative und nachhaltiger Handlungsorientierung" (178). Das "neuzeitliche Führungsverständnis" (179, Anm. 185) als moderierter Diskurs (181) wird postuliert; mit E. Herms gesprochen: Die Leitlinien eröffnen Freiräume, "innerhalb deren die nie selbst rechtlich regelbare Auseinandersetzung des Geistes mit dem Fleisch stattfinden kann" (E. Herms: Abschließender Bericht über die Arbeit der Projektgruppe "Rechtliche Rahmenbedingungen kirchlicher Praxis" in: ZevKR 30, 1985, 273).

Teil C (189 ff.) geht auf die Aporien dieses Projekts ein. Mit Recht! "Gegen diese überfordernden Anmutungen" muss deutlich gesagt werden: Der Entwurf der Leitlinien ist voller Brüche und offener Fragen, und er ist dieses mit "Absicht und Überzeugung" (196), eben ein "unabgeschlossener Prozeß" (197), Gemeinschaft zu stiften und zu dokumentieren (209).

Der Anhang (233 ff.) erstellt noch ein "Frageraster zum Stellungnahmeverfahren" und "Methodische Leitfäden für den Umgang mit den Leitlinien kirchlichen Lebens". Der Vf. hat eine interessante, perspektivenreiche, Erkenntnisgewinne vermittelnde Arbeit veröffentlicht. Sie macht sich im gegenwärtigen Entscheidungsfindungsprozess über die kirchlichen Lebensordnungen stark für den kirchentheoretisch begründeten "Genuswechsel" zum "neuen Modell" der "Leitlinien" (181 u.a.).

Allerdings wird man zugleich die behutsam kritische Anfrage richten an die semantisch negativ besetzte Verwendung von z. B. "kirchlicher Sitte", von dem "Üblichen", aus dem es sich zu "befreien" gilt (124, 128, 156, 176), angesichts des gegenwärtigen Wiedererinnerns an Sitten, Bräuche, Riten usw. sowohl im spirituellen und gottesdienstlichen Leben der Gemeinden und Kirchen als auch im gesellschaftlichen und familiären Miteinander (vgl. auch: "Christentum und politische Kultur", 1997, EKD-Texte 63, Nr. 68; "Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur", 1999, EKD-Texte 64, II 2; III 1.2). Kirchliche Lebensordnungen kennen neben den "Veränderungen" und notwendigen Fortschreibungen auch Kontinuitäten und damit das "Bewahren" und erhaltend-reformierende "Gestalten".

Die Diskursethik stellt einen wichtigen Beitrag für Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse dar (123, 181, 200); die "Aporien" (189 ff.) wären gleichwohl stärker zu gewichten; mit R. Preul wäre über den Hinweis S. 123, Anm. 16 festzuhalten für den kirchlichen Kommunikationspozess: "Die Amtsträger haben die Aufgabe, diese Zirkulation in Gang zu halten, zu strukturieren und zu moderieren. Das geschieht durch die positionsspezifische Art und Weise, wie sie das Lehramt auf der Kanzel und im Unterricht wahrnehmen, aber auch durch besondere Interventionen", denn "die Evangelische Kirche wird durch die Auslegung ihrer eigenen Lehre geleitet", d. h. der Rechtfertigungslehre (R. Preul: Kirchentheorie, Berlin-New York 1997, 154, 43). Neben der treffenden pastoral- und sozialethischen Ausrichtung der Lebensordnungen erfährt die dogmatische eine konstitutive Relevanz.

Vorsichtig sei schließlich gefragt, inwiefern in einer "veränderten Hermeneutik" (153), für deren Diskurs "die Situation, also die realen Lebensvollzüge, einen höheren Stellenwert" gewinnt (142) - d. h. aber auch die sich sehr rasch "verändernde" Situation - dem reformatorischen Schriftprinzip die grundlegende Bedeutung in den "realen Lebensvollzügen" widerfährt.

Diese Anfragen seien nun nicht nur an die höchst anregende Studie "Ordnung im Prozeß" gerichtet; sie seien auch als Impulse für die gegenwärtigen Entscheidungsprozesse zu den kirchlichen Lebensordnungen der Ecclesia semper reformanda verstanden.