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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

683 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Müller, Klaus

Titel/Untertitel:

Diakonie im Dialog mit dem Judentum. Eine Studie zu den Grundlagen sozialer Verantwortung im jüdisch-christlichen Gespräch.

Verlag:

Heidelberg: Winter 1999. 552 S. gr. 8 = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, 11. Kart. DM 48,-. ISBN 3-8253-7071-2.

Rezensent:

Bernd Schröder

Diese für den Druck überarbeitete Schrift zur Habilitation Klaus Müllers an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg beschreitet Neuland - Neuland für die Diakoniewissenschaft und damit paradigmatisch auch für die Praktische Theologie insgesamt. Die Studie zielt nämlich darauf, Grundlagen der Diakoniewissenschaft "im Gespräch zwischen Judentum und Christentum" zu klären (19). Christlicherseits erfordert dies "ein emanzipatorisches Zugehen auf das Judentum und seine Tora" (72; vgl. 20), in diakoniewissenschaftlichem Zusammenhang bedarf es näherhin "einer theologisch ernsthaften Hörbereitschaft [nicht nur auf das Alte Testament, sondern] auch auf die Sozialtraditionen des nachbiblischen-rabbinischen Judentums" (69). "Das Hören auf das Zeugnis Israels ist hier verstanden als Konsequenz aus der Anerkennung seines ungekündigten Bundes mit Gott." (77)

Dieses Anliegen bildet sich im Aufbau der Studie eindrücklich ab. Nach einer knappen Skizze von Gründen, die die Diakoniewissenschaft drängen, in den Dialog gerade mit dem Judentum zu treten (26-39), sowie einer Durchsicht bisheriger Verhältnisbestimmungen zwischen Diakoniewissenschaft und Altem Testament bzw. Judentum (40-80), veranschaulicht M. das intendierte Gefälle eines jüdisch-christlichen Dialogs im Feld der Diakoniewissenschaft durch das "Zusammenspiel von judaistischer Explikation und diakoniewissenschaftlicher Vergewisserung" (20). Im "Gesprächsteil A" (81-363) kommen ausführlich die "wichtigsten Traditionen sozialer Verantwortung im klassischen Judentum" (20) zur Sprache, im "Gesprächsteil B" (365-506) werden "erste ,Aufschlüsse, Erträge, Anfragen und Zumutungen'" (365; vgl. 22) benannt, die sich aus jenen jüdischen Überlieferungen für die Diakoniewissenschaft ergeben. Die Affinität zwischen den Gesprächspartnern Judentum und Christentum wird dabei schon an der Binnenstruktur der beiden Teile erkennbar: So wie das "Sich-Aussprechen-Lassen" der jüdischen Quellen (23) zur sozialen Verantwortung im Judentum nacheinander der Benennung "praktischer Konkretionen" (83-143), der "begrifflichen Orientierung" (144-221), der "theologischen Begründung" (222-283) und der "ethischen Profilierung" (284-357) dient, so kann sich die diakoniewissenschaftliche Reflexion diesem gedanklichen Vierschritt "vergewissernd" anschließen (366).

Die Stichworte ,Sich-Aussprechen-Lassen' und ,Vergewisserung' kennzeichnen trefflich den hermeneutischen Ansatz M.s: Demnach verdienen es jüdisches Selbstzeugnis und Selbstverständnis, "um ihrer selbst willen" gehört zu werden (77); von Christus her "kann und soll" von der "Gottesgeschichte mit Israel nur in der Diktion der ,Zustimmung', ,Bekräftigung', ,Bestätigung' - eben der ,Vergewisserung' - gesprochen werden" (365). M. geht es dabei primär darum, "das nicht-christliche Traditionsgut zu emanzipieren von den christlichen Deutungskategorien" (73; vgl. 77), gleichwohl soll Raum bleiben für ,kritische Evaluierung' (23).

Dem Umfang nach und der Intention "judaistisch-diakoniewissenschaftlicher Grundlagenforschung" (23) entsprechend bildet die Zusammenstellung und die - oftmals an Maimonides orientierte - behutsam systematisierende Interpretation von Texten aus der rabbinischen Literatur, dem "bis heute ... zentralen formgebenden Faktor jüdischer Religion" (19), im "Gesprächsteil A" das Herzstück der Arbeit. M. zeichnet hier ein facettenreiches Panorama jüdischer Sozialtraditionen. Verschiedene Formen helfenden Handelns von ,Aufnehmen von Fremden' bis ,Waisenpflege' kommen ebenso in den Blick wie theologische Reflexionen der Rabbinen, die dieses Handeln begründen und seinen hohen Stellenwert belegen. Als begriffliche Mitte einschlägiger Texte arbeitet der Verfasser die Rede von "gemilut chassadim", dem "Eröffnen von Lebensmöglichkeiten um ihrer selbst willen" (179), und "tsedaqa", dem "verbindliche(n) und verläßliche(n) In-Kraft-Setzen der Lebensrechte des Mitmenschen" (221), heraus.

M.s Interesse bei der Auswahl und Kommentierung der Texte gilt ihrer thematisch-theologischen Pointe, Fragen nach ihrer historischen (sozial- oder textgeschichtlichen) Verortung treten dahinter weit zurück. Er selbst sieht sich der "Methode judaistischer traditionsgeschichtlicher Forschung" verpflichtet (23); forschungsgeschichtlich steht er so in der Linie thematischer Auswertung rabbinischer Literatur (dazu Peter Schäfer: Research into Rabbinic Literature, in: JJS 37 [1986], 140 ff.).

Die diakoniewissenschaftliche Vergewisserung, "Gesprächsteil B" vermag vor diesem Hintergrund nicht nur "ein ganz erstaunliches Maß an Übereinstimmung in der faktischen sozialen Arbeit" in Alter Kirche und rabbinischem Judentum (399) zu konstatieren, sondern auch dieselben "fundamentalen Begründungszusammenhänge - nämlich den theologischen, anthropologischen, ekklesiologogischen und eschatologischen - [zu] identifizieren" (401 f.). M. hebt angesichts dieser sachlichen Nähe hervor, dass es die Alte Kirche und mit ihr die diakonische Tradition des Christentums überhaupt ist, die in erheblichem Maße von Impulsen des Judentums zehrt(e): Sie hat dessen "Vokabularien sozialer Verantwortung" ebenso aufgenommen wie "konzeptionell-inhaltliche Elemente" (440). Diese Verbundenheit bestätigt die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit eines jüdisch-christlichen Dialogs in Fragen der Diakoniewissenschaft (439), sie findet heute angemessen Ausdruck im Konzept einer "sabbatlichen Diakonie" (469): So wie "die Erweise von tsedaqa und chässäd [der rabbinischen Literatur zufolge] explizit oder implizit von jenem ... für Israels Glauben und Leben schlechterdings integrativen theologischen Motiv getragen sind: der Sabbatidee" (477), so sollte auch Diakonie "sabbatgemäß" (487) handeln.

M.s Studie besticht zunächst durch den dargebotenen Reichtum rabbinischer Sozialtraditionen, sodann durch ihre Strukturierung, die zugleich quellennah ist und Wechselbezüge zwischen Judentum und Christentum erschließt. Eine dem Ju- dentum gegenüber gesprächs- und vor allem hörbereite Diakoniewissenschaft vermag - das wird offensichtlich - wichtige theologische Anregungen für die diakonische Praxis und Theorie (wieder) zu gewinnen und "ihrer ureigenen Identität" (23) auf der Spur zu bleiben. Gefragt sei jedoch, ob die in judaistischer Perspektive fraglos legitime (und aus arbeitstechnischen Gründen wohl notwendige) Konzentration auf das rabbinische Judentum als Gegenüber in praktisch-theologischem Interesse zureichend ist. M.s Studie zeigt nicht, ob und wie antik-jüdische Sozialtraditionen innerhalb des Judentums in die Moderne transformiert werden; auch Hinweise auf mögliche Aktualisierungen dieser Überlieferung in gegenwärtiger christlich-diakonischer Praxis und Theorie in Deutschland finden sich - trotz der "Umrisse einer sabbatlichen Diakonie" (482 ff.) - selten (vgl. etwa 303.444-447.492 ff.). Das Fehlen dieser Bausteine ist für eine praktisch-theologische Theorie ein kritischer Punkt, zugleich eröffnet es lohnende Perspektiven für einen zukünftigen "Diakoniediskurs im Dialog mit dem Judentum" (365).