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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

674–676

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kreß, Hartmut, u. Wolfgang Erich Müller

Titel/Untertitel:

Verantwortungsethik heute. Grundlagen und Konkretionen einer Ethik der Person.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer1997. 240 S. gr.8. Kart. DM 49,-. ISBN 3-17-014450-2.

Rezensent:

Dietrich Zilleßen

Das Buch ist wichtig. Es thematisiert Grundprobleme der Ethik und konkrete Schlüsselprobleme gesellschaftlichen Lebens, von deren Diskussion man sich nur zum Schaden dispensiert. Darum ist Auseinandersetzung unumgänglich.

Die Vff. wollen "Elemente einer zeitgemäßen evangelisch-theologischen Verantwortungsethik" reflektieren (9). Ihrer Ansicht nach ist Verantwortung die Antwort auf Pluralimus und Erosion ethischer Überzeugungen. Das ist keine neue These und schon gar nicht eine einsichtige. Ist denn Pluralismus die Krise der Gesellschaft? Liegt das eigentliche gesellschaftliche Risiko, das nach Verantwortung ruft, tatsächlich in der "Überkomplexität der Gesellschaft" (14)?

Gewiss haben Kreß/Müller die entscheidende Fragestellung deutlich im Blick, die Beziehung von Partikularismus und Universalismus. Aber dass sie beide dabei dem politisch-moralischen Liberalismus von John Rawls folgen, ist eine heikle Vorentscheidung.

Moralische Positionen sind partikularistisch, auch wenn sie mit universalistischen Ansprüchen auftreten. Sichert die partikulare Moral sich heteronom ab, liegt darin ein Moment der Destruktion von Ethik (99). Nach M. bedarf Ethik vernünftiger Argumentation als Grundlage einer (allgemeinen) Verständigung zwischen unterschiedlichen Ansätzen (48). In der "multiperspektiven" Gesellschaft kann der (konkret-inhaltliche) Gottesbezug diese Grundlage nicht sein. Konsens ist nur auf der Basis einer (mit Rawls) "formal gefaßten universalistischen" Konzeption möglich, die die partikularistischen Inhalte (das jeweilige Proprium) nicht aufhebt (99). Ethisches Verhalten muss "für alle Beteiligten einsichtig" sein (48).

M. will durch einen ethischen Allgemeinbegriff das Verhältnis von theologischer und philosophischer Ethik begründen (11) und die partikularistisch-dezisionistische Lösung des Pluralismusproblems (Absolutierung des Propriums) zu Gunsten allgemeiner Rationalität zurückweisen. Aber die Philosophie kann diese idealistische Oberrolle nicht spielen. Gerade das liberalistisch-marktkonforme Fairnesskonzept (Rawls), das (wie die diskursethischen Positionen) ein Gesellschaftsideal (Idee des Guten) verkörpert/voraussetzt, kann nicht von hegemonialen Interessen frei sein. Die Theologie tut gut daran, in allen menschlichen Projekten eine konstitutionelle Mangelhaftigkeit und eine grundsätzliche Verwicklung in Machtinteressen als Gesetz der Welt zu erkennen. Damit wäre auch (jenseits idealistischer Überforderungen) die Diskussion zwischen Theologie und Philosophie entlastet.

Allgemeinbegriffe sind undifferenziert leer (Gerechtigkeit wäre ebenso Ungerechtigkeit) oder machen eine ihrer partikularen Verkörperungen zum Ideal, zum Fetisch - statt zum Gegenstand des ethisch-politischen Diskurses. Die (christologische) Verkörperung theologischer Allgemeinbegriffe ist unumgänglich. Kein Allgemeinbegriff kann als solcher realisiert werden. Verbindlichkeit wird nicht durch einen formalen Verantwortungsbegriff erreicht, durch allgemeine Appelle oder gar (Jakobinische) Ideologie, sondern durch die politische Auseinandersetzung um moralische, nämlich partikulare Entscheidungen, durch Verfahren des Konsenses und Dissenses. Verallgemeinerung ist nicht die Qualität von legitimierenden Konzepten, sondern zuerst Ergebnis politischer Auseinandersetzung. Diese Entscheidungsprozesse sind unausweichlich machtbestimmt. Auch Ohnmacht lässt sich für Interessen funktionalisieren.

Ethischer Minimalismus ist die Gefahr der Position von M. Individuelle Verantwortlichkeit kann im liberalen Markt der institutionellen Verantwortungen nur noch für Gerechtigkeit, d. h. Fairness plädieren, die letztlich die Funktion eines kategorischen Imperativs übernimmt. Die partikulären institutionellen Verantwortungen können davon ganz unberührt sein. Verantwortung als öffentlich einsichtige und allgemein anerkannte Handlungsmaxime ist ein ideales Konstrukt, das in der empirischen gesellschaftlichen, politischen Praxis von minimaler Tragfähigkeit ist (vgl. den Kosovo-Konflikt). Natürlich ist "allgemeine Einsicht" ein respektables, ein wunderbares Ziel. Aber sie ist eine Herrschaftsformel.

Grundfrage der Ethik ist es, wie Verständigungs- und Differenzierungsregeln gelernt werden, die (statt sich an einem Ideal von Humanität zu orientieren) die Achtung des Anderen zum Prinzip machen? Die (auch im theologischen Sinn) "gerechtfertigten" hegemonialen Bedürfnisse des Propriums sollen nicht moralistisch-appellativ zurückgewiesen, sondern durch die Achtung des (namenlosen) Anderen im Eigenen vor Absolutierung bewahrt werden. "Ich ist ein Anderer": Das ist auch eine theologische Aussage. Moralische Positionen entscheiden das Unentscheidbare, was schon der spätmittelalterliche Nominalismus für notwendig hielt.

M. setzt einen dünnen Allgemeinbegriff an den Ort einer demokratischen Politik der Differenzen. Er hätte sich dabei präziser (als er es tut) auf E. Lévinas berufen können. Verantwortung für den Anderen ist eben nicht einfach Verantwortung für den konkret Anderen (63), sondern Antwort darauf, dass der Mensch stets ein Anderer ist, d. h. Antwort auf den Mangel im Humanen. Der entsprechende Lebensstil verweigert sich der Dominanz des Begriffs, wenn er Rationalität und Leidenschaft, Ästhetik und Ethik (im Sinne Derridas) verbindet. Unter diesen versöhnlichen Bedingungen können wir lernen, moralisch zu sein - gerade nicht im rigiden, ultimativen Sinn.

Theologie werde ich daher (im Gegensatz zu M.) nicht einfach als eine partikulare Position verstehen, weil Religion zuerst Struktur ist, nämlich der Lebensstil, der dem Fremden Raum und Achtung gibt; die Fähigkeit, dem Marginalen das Recht und die Würde der Frage gegen die Norm einzuräumen; die Kraft, jede Position auf ihren Mangel anzusprechen (Exodusmotiv). Insofern ist die nötige positionelle Verortung (Schöpfungsmotiv) durchaus entschieden wie vorläufig (im wahrsten Sinn des Wortes). Das läuft dann doch auf eine trinitarische Basis der Ethik hinaus, was nicht so weit entfernt von Karl Barths Position ist (Römerbrief, 2. Aufl., 447-462).

Der namenlose Andere drängt sich auf, weil er uns nicht in Ruhe lässt. Weil der Wunsch, die Welt möge anders sein, als sie ist, und ich, als ich bin, ein menschlicher Wunsch ist. - Verantwortung hat in jeder entschiedenen Position zugleich dem Mangel zu antworten. Es gibt keine unschuldige Moral, Ethik und Politik. Rechtfertigung der Gottlosen ist die Basis von Moral und Ethik. Sterblichkeit heisst im theologischen Diskurs: Unverfügbarkeit Gottes, d. h. der Wahrheit. Die Korrelation unterschiedlicher profaner und religiöser Sprachspiele (im Sinne Tillichs) beinhaltet für beide Seiten einen kreativen Mehrwert.

Die klugen und ausführlichen Detailanalysen von M. (beispielhaft 75-93: Apel, Birnbacher, Höffe) sind ausgesprochen lohnend zu lesen. Sie sind für die Beschäftigung mit der Problematik von großem Wert. Seine konzeptionellen Konsequenzen sind an entscheidenden Stellen fragwürdig, was ich durchaus bereichernd finde. Aber die differenzierte Problematik wird verkürzt, wenn schließlich die allgemeine Formel "Lebensdienlichkeit" als Kriterium "der theologischen Bestimmung des Verantwortungsbegriffs" dient (110).

Die Erörterungen von Kreß folgen dem gleichen Argumentationsmuster, wie es M. benutzt. Sein Beitrag "Verantwortung als Ethik der Person" (115-238) konkretisiert Verantwortungsethik nach liberalem Muster (116-165). Der letzte Abschnitt seiner Untersuchung (IV. Religiöse und ethische Bildung als Anliegen der personorientierten Verantwortungsethik) ist verzichtbar. K. verkürzt hier die Problematik und fällt hinter die gegenwärtige religionspädagogische Diskussion (Nipkow, Meyer-Blanck u. a.) zurück. Bei K. taucht das Thema Macht an prominenter Stelle wieder auf, nämlich als Grundproblem medizinischer Ethik (140ff.).

Unübersehbar ist jedoch, daß eine moralisierende Beschränkung von Macht nicht zu weniger, sondern zu mehr Macht (vor allem zu subversiver Macht) führt. Hat Macht (z. B. Diskursmacht) immer auch mit Unterwerfung/Unterdrückung zu tun, dann ist die Legitimation von Macht durch Konsens ihrerseits Ergebnis von Machtverhältnissen und zugleich fragwürdig.

Mir erscheint es (wie bei M.) bedenklich, das Machtproblem zu einem normativ-ethischen Problem zu machen zum Zwecke der Steuerung von Macht (150), statt in ihm die politische Struktur jeder moralisch-ethischen Entscheidung wahrzunehmen. K. versteht den relationalen Personbegriff (160-165) "als normatives Kriterium der Verantwortungsethik" (152 ff.), was das Problem nicht löst, sondern präzisiert: Personwürde weist genau auf die Beziehung von Universalem zu Partikularem hin, die schon bei Müller ohne Blick auf die Dispositive der Macht (Foucault) idealistisch entfaltet wurde. Lebensbeginn und -ende werfen ("unter Zugrundelegung des Personbegriffs") die entscheidenden Themen auf - "etwa die Embryonenforschung oder die Präimplantationsdiagnostik, das Hirntodkriterium oder die Sterbehilfe" (167).

Für solche Erörterungen bietet K. vorzügliche Überlegungen und Argumente an. Aber theologische Ethik hat auf dem Einspruchsrecht des Anderen zu bestehen, d. h. auf die Wahrnehmung des Mangels aller ethischen und/oder medizinischen Entscheidungen. Es ist K. zu danken, daß er Aspekte und Frageperspektiven konkreter Probleme von Medizin und Medizinethik sorgfältig und kompetent entfaltet und erörtert hat. Das gesamte Buch ist eine Veröffentlichung, die nicht übersehen werden sollte.