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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

668–670

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Honecker, Martin

Titel/Untertitel:

Evangelische Christenheit in Politik, Gesellschaft und Staat. Orientierungsversuche.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. VIII, 373 S. 8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 90. Lw. DM 218,-. ISBN 3-11-015635-0.

Rezensent:

Wolfgang Huber

Über vier Jahrzehnte, seit seiner 1960 abgeschlossenen Dissertation, beschäftigt Martin Honecker sich mit der Frage nach der Gestalt der Kirche; seine besondere Aufmerksamkeit gilt seit diesen Anfängen der öffentlichen Rolle des deutschen Protestantismus. Nicht nur kritisch kommentierend, sondern auch mitgestaltend hat er sich mit ihr befasst. Diese Doppelrolle prägt auch den vorliegenden Sammelband. Abgesehen von dem schon klassisch zu nennenden Text "Evangelische Kirche vor dem Staatsproblem" von 1981 enthält er durchweg Texte aus dem Jahrzehnt zwischen 1989 und 1998. Diese Jahre bildeten für eine theologische Ethik des Politischen in der Tat eine Herausforderung eigener Art.

Neu ist in dem Band allein die Einführung: Evangelische Christenheit und Modernisierung (1-12). Die anderen sechzehn Beiträge waren, zum Teil an verstreuten Stellen, bereits veröffentlicht. Schon die Einleitung zeigt, dass der Vf. das Jahr 1989 auch im Rückblick stärker mit dem vierzigjährigen Jubiläum des Grundgesetzes als mit dem Fall der Berliner Mauer in Zusammenhang bringt (1). Die epochale Veränderung Europas durch dieses Ereignis blitzt zwar an manchen Stellen auf, prägt aber den Band weit weniger, als vielleicht zu erwarten wäre. Stichworte wie "deutsche Einheit" oder "Wiedervereinigung" tauchen im Sachregister nicht auf. Auch die dramatischen Auswirkungen der Vereinigung Deutschlands auf den deutschen Protestantismus und die großen kirchlichen Herausforderungen, vor denen er steht, werden kaum erwähnt.

"Modernisierung" ist nach H. das Schlüsselwort für eine Ortsbestimmung der heutigen evangelischen Christenheit. Dass andere Autoren nicht die Moderne, sondern die Postmoderne für das Signum der Zeit halten, wird in diesem Zusammenhang nicht erörtert. Die Auswirkungen der Modernisierung für den kirchlichen Bereich sieht H. vor allem in einer "Demonopolisierung der Kirchenstrukturen" (10).

Ein Schwerpunkt des Bandes kann in der Frage nach dem protestantischen Staatsverständnis und der politischen Verantwortung der Christen gesehen werden. Die Demokratie-Denkschrift der EKD von 1985 ist dafür der bestimmende Bezugspunkt. Die theologischen Traditionen, die dahin geführt haben, sichtet H. vorurteilsfreier, als dies bei manchen anderen Autoren zu beobachten ist. Ausdrücklich macht er auf das "geschichtlich gewordene Verdienst" der (von Karl Barth geprägten) "christologischen Staatsanschauung" aufmerksam, die "dem Gedanken der rechtsstaatlichen Demokratie in der evangelischen Ethik des Politischen zur unwiderruflichen Anerkennung verholfen" hat (78).

Allerdings spielt die spezifische Gestalt der demokratischen Staatsform in dem Band selbst eine eher untergeordnete Rolle. Die Grundform der politischen Mitverantwortung der Bürger in der Demokratie, nämlich die Beteiligung an Wahlen, kommt nirgendwo vor; die Frage, ob für Christen die Mitgliedschaft in Parteien eine gute Sache sei, wird nicht erörtert. Der am häufigsten zitierte Belegtext ist die fünfte These der Barmer Theologischen Erklärung, die, wie man weiß, zur Demokratie nur darin einen entfernten Bezug hat, dass sie nicht nur eine Verantwortung der Regierenden, sondern auch eine Verantwortung der Regierten kennt.

H. wiederholt auch in diesem Band seine These von der "schärferen Unterscheidung" zwischen Ethik und Glaube, Moral und Religion. Aus dieser Unterscheidung wird gefolgert: "Ethische Verantwortung zu übernehmen, ist jedem Menschen zuzumuten. Anders steht es mit dem Glauben. Der Glaube ist Sache des Einzelnen" (118). Diese Gegenüberstellung bedürfte freilich einer langen Diskussion: Ist ethische Verantwortung nicht Sache des Einzelnen? Und wird Glaube überhaupt zugemutet - oder wird er durch den Heiligen Geist geschenkt? Gibt es Menschen, die von diesem Geschenk prinzipiell ausgeschlossen sind? Und wie verträgt sich die These, vor Gott stehe "jeder Mensch immer allein für sich selbst" (128), mit Grundaussagen der Christologie wie der Ekklesiologie? H. leitet aus seiner schroffen Unterscheidung von Religion und Ethik eine vollständige Ablehnung jeder Form von "civil religion" ab, von der er meint, sie sei der Religion ebenso schädlich wie der Politik. Man fragt sich nur, ob dem empirischen Faktum zivilreligiöser Phänomene mit dieser Ablehnung schon genügend Rechnung getragen ist.

Einer ausführlichen Diskussion wäre auch die These von der "postchristlichen" bzw. "nachchristlichen" Gesellschaft bedürftig (121). Sie beruht auf der Voraussetzung, dass Mittelalter und konfessionelles Zeitalter als Zeiten einer "christlichen Gesellschaft" zu bezeichnen sind. Wie problematisch das ist, wird in diesem Buch leider nicht erwogen.

Ein zweiter Schwerpunkt des Buches lässt sich in den Fragen finden, die mit dem Ende der DDR zusammenhängen. Diese spiegeln sich in dem Band in der Doppelfrage nach "individueller Schuld und kollektiver Verantwortung" (127 ff.) sowie nach "nationaler Identität und kollektiver Verantwortung" (149ff.) und zusätzlich in der Frage nach dem Ende des Sozialismus (173ff.). Freilich ist die geschichtliche Herleitung der von H. entwickelten Konzepte ausführlicher als die Betrachtung christlicher Verantwortung unter der SED-Herrschaft wie im wiedervereinigten Deutschland. Daraus lässt es sich vielleicht auch erklären, dass dem Vf. allzu pauschale Urteile unterlaufen. Ich nenne als Beispiel die These, eine totalitäre Gesellschaft lasse keinen Raum für moralische Verantwortung und Entscheidung (145). Wörtlich genommen würde diese These den Widerstand gegen Hitler ebenso ausschließen wie die Möglichkeit moralischer Verantwortung in den Zeiten der DDR. "Nur in Freiheit ist Verantwortung möglich" heißt es zur Begründung. Gewiss richtig - doch nur dann, wenn man Schiller nicht ganz vergisst: "Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd' er in Ketten geboren." Ethik muss die persönliche Freiheit als eine Instanz gelten lassen, die auch durch äußere Unfreiheit nicht außer Kraft gesetzt wird. Gerade deshalb ist der Verantwortliche zum Widerspruch und Widerstand gegen äußere Unfreiheit verpflichtet und auch ihr gegenüber zu Akten verantwortlicher Freiheit fähig.

Stärker historisch ausgerichtet sind Arbeiten zum Verhältnis von Martin Luther und Thomas Müntzer sowie zur Deutung der Französischen Revolution. Ein wichtiges Zukunftsthema wird mit der Frage nach einer protestantischen Perspektive auf Europa angeschnitten. Grundlegungsfragen wie Einzelthemen der Ethik schließen den Band ab.

So anregend viele Überlegungen sind, so sind sie doch weniger stark auf die neuen Herausforderungen nach 1989 bezogen, als ihre Entstehungszeit erwarten lässt. Die Beiträge sind weder in der äußeren Form noch in ihrem Inhalt aufeinander abgestimmt. Historisch überholte Aussagen - wie zum Beispiel die "12 EG-Staaten" (250) - sind nicht aktualisiert. Der ungleichmäßige Charakter der Zitatnachweise wurde in der Form, die sich aus der Erstverwendung der Texte ergeben hat, beibehalten.

Leider enthält der Band mehr Fehler, als mit dem Kaufpreis vereinbar ist. Das im Land Brandenburg als Pflichtfach eingeführte Fach LER wird als "Lebenskunde - Ethik - Religion" entschlüsselt, obwohl es "Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde" heißt (56 f.). Die Leuenberger Konkordie wird mit der Jahreszahl 1971 statt 1973 versehen (86). Vom Bonner Grundgesetz wird behauptet, es enthalte eine "invocatio dei" (99 u. ö.), obwohl in der Präambel nur eine "nominatio dei" vorkommt - ein keineswegs belangloser Unterschied. Von Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes wird behauptet, nach diesem Artikel gehe "die Staatsgewalt vom Volke, nicht von Gott aus" (105); aber die Worte "nicht von Gott" sucht man an dieser Stelle vergeblich. Auf S. 108 wird Friedrich Schleiermacher eine Schrift mit dem Titel "Reden über die Nation" zugeschrieben; glücklicherweise hat er sie nicht verfasst. In mindestens einem Fall (279) ist der Text so verderbt, dass mir die Rekonstruktion des Sinnes nicht gelungen ist. Schreibfehler, die hier nicht erwähnt werden sollen, kommen hinzu.

Es ist sehr zu bedauern, dass weder die Mitarbeiter des Vf.s noch der Verlag hier rechtzeitig Abhilfe geschaffen haben. Denn es bleibt dabei: H.s Beiträge zur politischen Ethik und zum politischen Selbstverständnis des deutschen Protestantismus haben ihr spezifisches Gewicht. Insofern bildet der Band - trotz der Mängel, die ich leider erwähnen musste - eine willkommene Ergänzung zu dem "Grundriß der Sozialethik", den der Vf. 1995 im gleichen Verlag veröffentlicht hat.