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Ausgabe:

Juni/2000

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dierksmeier, Claus

Titel/Untertitel:

Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. VIII, 238 S. gr.8 = Kantstudien. Erg.Hefte, 133. Lw. DM 158,-. ISBN 3-11-016288-1.

Rezensent:

Richard Schaeffler

Der Leitbegriff der vorliegenden Arbeit "Noumenon Religion" ist kein kantischer Begriff. Bei Kant ist der Begriff eines Noumenon "bloß ein Grenzbegriff ... und daher von nur negativem Gebrauche" (KdpV A 255). Für den Vf. dagegen ist das gesuchte Noumenon Religion "Geltungsgrund und Schranke jeden religiösen Anspruchs" (8). Diese Abweichung vom kantischen Begriffsgebrauch ist kein Zufall. Die Absicht des Vf.s ist die Rekonstruktion eines "Systems". Was er darunter versteht, formuliert er in folgender Weise: Es geht darum, "die systematische Selbstvermittlung der menschlichen Vernunft im Weltbezug zu rekonstruieren". Denn der menschliche Geist "durchwirkt das Universum auf der Suche danach, sich im Geist dieser Welt selbst zu begegnen" (8). Die unterschiedlichen "Aspekte" der Religion "erschließen sich als Stationen in einem Zu- sich-selber-Komen der Vernunft" (10 f.). Darum wird "der systematische Ort der Religion im Weg der Vernunft zu sich selbst angegeben" (11). Mit diesem Begriff von "System" ist freilich das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung, die Bestimmung des "Noumenon Religion", schon präjudiziert. "Religion geht noumenal auf in der Selbstvermittlung der menschlichen Vernunft" (213). Und sofern diese "gleichermaßen Subjekt und Objekt des religiösen Aktes ist", ist "für wahrhaft religiöse Selbstbezüge ein transzendentes Objekt außer uns entbehrlich" (213).

Das ist nun eine provozierende und um dieser Provokation willen auch bedenkenswerte Auffassung von Religion. Aber der Leser fragt sich doch, warum diese Theorie, die mit ihrer stets wiederholten Rede von "Selbstvermittlung" und "Zu-sich-selber-Kommen" eher an Hegel als an Kant erinnert, als eine "Interpretation des kantischen Religionsbegriffs" ausgegeben wird (12). Denn dem genannten "systematischen" Argumentationsziel entspricht das Verfahren des Umgangs mit kantischen Texten. Da werden wichtige Belegstellen teils unvollständig zitiert, so z. B schon die Stelle, die der Vf. als Motto über seine Ausführungen stellt; teils werden sie in offenem Widerspruch zu Kants Selbst-Interpretationen ausgelegt, so z. B. Kants Ausführungen zum Verhältnis von Politik und Moral (vgl. "Zum ewigen Frieden", Akademieausgabe VIII, 377 und 380). Kants Definition der Religion ("die Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote" - KdpV A 233, gleichlautend Rel B 229) spielt in der vorliegenden Untersuchung keine Rolle. Ebensowenig seine programmatischen Aussagen über das Verhältnis der Religion zur Moral: "Moral ... bedarf zum behuf ihrer selbst ... keineswegs der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug" (Rel A III f.). Aber "Moral führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer uns erweitert" (a. a. O. IX). Und wichtige Teile der kantischen Religionsphilosophie bleiben ganz unerwähnt, so vor allem der Versuch einer "Deduktion der Idee einer Rechtfertigung" (Rel A 101) durch einen "Urteilsspruch aus Gnade", auf den wir "keinen Rechtsanspruch haben" (ibid). Auch dieser Umgang mit den Texten beruht nicht auf einem Zufall. Der Vf. huldigt durchgängig einem Prinzip, das er nur gelegentlich, sozusagen im Vorübergehen, ausdrücklich benennt: dem "Vorzug der systematischen vor der wortgetreuen Interpretation" (120), wobei "systematisch" so viel bedeutet, wie: dem eigenen Systembegriff entsprechend.

Worin also liegt die Bedeutung der hier vorgelegten Untersuchung? Offensichtlich nicht in der Auslegung kantischer Texte, die wenigstens dem Versuch nach "wortgetreu" sein müßte, wenn sie ihr Ziel erreichen wollte. Wohl aber in dem Versuch, aus der Philosophie Kants solche Momente herauszupräparieren, die dem Vf. zustimmungswürdig erscheinen, und aus ihnen, unter Zurücklassung anderer Momente, die er verwirft, eine neue Religionsphilosophie zu konstruieren.

Nun kann gar nicht bestritten werden, dass es in Kants praktischer Philosophie innere Unstimmigkeiten gibt, die eine Reformulierung seiner Aussagen (z. B. seiner Postulatenlehre) notwendig erscheinen lassen. Wenn, um nur ein besonders deutliches Beispiel zu nennen, nach Kants Auffassung Freiheit die Unabhängigkeit von aller Zeitbestimmung voraussetzt, ist nicht einzusehen, wie der "Sinneswandel" als freie Handlung möglich sei. Denn dieser Sinneswandel, den Kant auch "Revolution im Gemüte" nennt, kennt zweifellos ein Vorher und ein Nachher und kann insofern nicht außerhalb aller Zeitbestimmung gedacht werden. Oder: Wenn der Dienst am Glück derer, die sich seiner durch Moralität würdig erweisen, dem Menschen durch das "Urteil der unparteiischen Vernunft" aufgetragen ist (KdpV A 199), ist nicht einzusehen, warum bei Kant die postulatorische Hoffnung sich durchweg auf "meine eigene Glückseligkeit" richten soll (KdpV A 234) und nicht ebensosehr auf die Glückseligkeit aller Anderen. Nun muss zwar bezweifelt werden, dass die solchermaßen notwendig werdende Reformulierung der Postulatenlehre, aber auch anderer Teile der kantischen praktischen Philosophie, auf dem Wege gewonnen werden kann, den der Vf. einschlägt. Dennoch bleibt sein Entwurf eines (freilich nicht mehr kantischen) Systems der praktischen Philosophie ein bedenkenswerter Vorschlag, der einer verständnisvoll kritischen Auseinandersetzung würdig ist.

Es ist vor allem eine zentrale These des Vf.s, die auch derjenige, der ihr nicht zustimmen kann, für diskussionswürdig halten wird: Wenn der Mensch durch das Sittengesetz "zu mundaner Sittlichkeit befähigt" werden soll (44), muss er das allgemeine Vernunftgesetz auf sinnliche Anschauung und insofern auf "die Natur" beziehen können. Dies kann er, nach Überzeugung des Vf.s, nur auf eine einzige Weise: "Die harmonische Einheit von Natur und Freiheit kann er sinnbildlich repräsentieren" (45). Daraus ergibt sich die "Geschichte symbolischer Konkretisierungen des Sittengesetzes" (46). An solchen Symbolen "kann sich der Mensch das Wirken der Sittlichkeit in der endlichen Sinnlichkeit veranschaulichen" (47). In diese Geschichte symbolischer Konkretisierungen des Sittengesetzes ist auch die Geschichte der Religionen einzuzeichnen. "Die menschliche Vernunft, die sich synthetisch a priori an die Endlichkeit vermittelt, ist das Genese-Zentrum der Religion und, als praktisch unbedingte, die Quelle ihrer Geltung" (213). Religion ist "Instanz sinnlich-sittlicher Symbolgenese" (168). Es ist nicht nötig, eigens zu betonen, dass so gesehen kein religiöses Symbolsystem vor einem anderen einen anderen Vorrang beanspruchen kann als den, auf besonders wohlgelungene Weise die Vermittlung zwischen sittlicher Unbedingtheit und sinnlicher Bedingtheit zu leisten. Und sofern diese Vermittlung die wesentliche Aufgabe des Geistes ist, der seine Freiheit nur in der Sinnlichkeit als dem Anderen seiner selbst realisieren kann, ergibt sich die These, dass "Religion eine Funktion des allgemeinen menschlichen Geistes ist ... eine Weise der Selbstvermittlung, ohne die Geist als Geist nicht ist" (211).

So zeigt sich zuletzt, dass die vorgelegte Auffassung vom "Noumenon Religion" in einer bestimmten, post-hegelischen Auffassung vom Geiste begründet ist, die man in der philosophiehistorischen Situation von heute wohl kaum noch aufrechterhalten kann. Um aber diese Auffassung vom Geiste diskutierbar zu machen, wäre es notwendig gewesen, dafür Sachgründe anzuführen, statt sie mit einer Kant-Exegese zu rechtfertigen, die weitgehend den Charakter einer Kant-Allegorese hat.