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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

653–655

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wehr, Gerhard

Titel/Untertitel:

Friedrich Rittelmeyer. Sein Leben. Religiöse Erneuerung als Brückenschlag.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Urachhaus 1998. 326 S., 41 Taf. gr.8. ISBN 3-8251-7176-0.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

Wilhelm Stählin hat 1962 bekannt: "Wenn ich predigen gelernt habe, dann habe ich es nicht von einem meiner akademischen Lehrer, sondern unter der Kanzel von Christian Geyer und unter der Kanzel von Friedrich Rittelmeyer gelernt."

Zum 60. Todestag von Friedrich Rittelmeyer hat Gerhard Wehr diese Biographie vorgelegt, eine eingehende und fundierte Darstellung des Lebensganges und Werkes des "ganzen" Rittelmeyer im Zeichen eines mehrfachen Brückenschlages. Durch seine zahlreichen und verdienstvollen Veröffentlichungen zu Geschichte und Gegenwart christlicher Mystik und Spiritualität bringt der Autor für diese Biographie Rittelmeyers besonders günstige Voraussetzungen mit. Auch zu Persönlichkeit und Werk Rittelmeyers hat er sich schon mehrfach geäußert.

In der Mitte von Rittelmeyers Leben und Werk steht seine "Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner", über die er 1928 ausführlich berichtet hat. So bedeutungsvoll diese Zäsur für Rittelmeyer war, so wenig ist sie doch als abrupte Lebenswende zu verstehen, die sein Wirken als evangelischer Pfarrer und als Vorstandsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und als entscheidende Persönlichkeit bei der Begründung der Christengemeinschaft in zwei völlig beziehungslose Hälften auseinanderfallen ließe. So aber ist die Gestalt Rittelmeyers bis zu dieser Biographie W.s weithin verstanden worden, die nun erstmals umfassend den langsam heranreifenden, mit viel Skepsis und Distanz behafteten Prozess beschreibt, wie der liberale Theologe zur leitenden Persönlichkeit einer Bewegung für religiöse Erneuerung wurde. Die längste Zeit seines Lebens war Rittelmeyer im Raum der evangelischen Kirche als gefeierter Prediger, Vortragsredner und Schriftsteller tätig, der in Nürnberg und Berlin die Kirchen zu füllen verstand.

Die drei Abschnitte dieser Biographie sind in gleicher Intensität dem Werdegang dieses hochbegabten Theologen gewidmet, der in wacher Anteilnahme am geistigen Leben seiner Zeit das Suchen und Fragen vieler Menschen innerhalb wie außerhalb der Kirche ernst nahm und aus dem Evangelium, vor allem aus dem Johannesevangelium, zu beantworten versuchte.

Unter der Überschrift "Anfänge" schildert W. den Lebens- und theologischen Werdegang Rittelmeyers von seinem Geburtsjahr 1872 bis zu seiner ersten persönlichen Begegnung mit Rudolf Steiner in München am 28. August 1911 und dem Wechsel von der bayerischen Landeskirche nach Berlin, wo er im Jahre 1916 Hauptprediger an der Neuen Kirche am Gendarmenmarkt wurde. Der als Sohn eines evangelischen Pfarrers in Dillingen an der Donau geborene Rittelmeyer verbrachte seine Kindheit und Jugend in Schweinfurt, wo der Vater an der Stadtkirche als Dekan und Kirchenrat wirkte. Nach dem Theologiestudium in Erlangen und Berlin - hier kommt er u. a. in nähere Verbindung mit Adolf von Harnack - wurde er 1895 Stadtvikar in Würzburg, woran sich ab 1902 für eineinhalb Jahrzehnte das Wirken an der Heilig Geist-Kirche in Nürnberg anschloss. Hier entfaltete er zusammen mit seinem Freund Christian Geyer an der Sebalduskirche eine für das geistige Leben der Stadt Nürnberg und ihrem protestantischen Bildungsbürgertum geradezu legendär gewordene Predigt- und Votragstätigkeit. Stets offen für alle geistigen Anregungen und durch persönliche Begegnungen mit bekannten Zeitgenossen wie Friedrich von Bodelschwingh, Friedrich Naumann, Hermann Bezzel oder Christoph Blumhardt ging Rittelmeyer doch ganz seinen eigenen Weg zunächst im Anschluss an die liberale theologische Tradition und im Ringen um ein Jesus-Bild der Evangelien, das seine Predigthörer wirklich erreichte. Der lutherische biblische Realismus des Vaters in der Erlanger Tradition konnte auf den Sohn nicht bleibend fortwirken. Schon der Würzburger Vikar bemühte sich intensiv um eine disziplinierte Predigtarbeit, wobei er sich zuweilen in der menschenleeren Kirche einschloss, um die kommende Sonntagspredigt für die verschiedensten Menschen geistig und seelisch zu durchdenken.

Besonders aufschlussreich für die Jahre dieser frühen Wirksamkeit Rittelmeyers ist die Schilderung seiner Begegnung mit den Zeit- und Weggenossen: Gottlieb Sodeur (1864-1943), Christian Geyer (1862-1929), Johannes Müller (1864-1949) und Michael Bauer (1871-1929). Über seinen Freund Christian Geyer sagt Rittelmeyer: "Er stand wie kein anderer Theologe, den ich erlebte, auf der Höhe der Zeitbildung. Es war erstaunlich, wie er nicht nur in der Theologie, sondern mit gleichem Interesse auch in der Pädagogik, in der Philosophie, in der Literatur, in der Geschichte, in der Kunst zuhause war. Mit großen verwunderten Augen studierte er sein Leben lang. Die geistige Beweglichkeit, mit der er sich in alles zu versetzen wusste, übertraf und verblüffte uns alle." Schon als Student und Vikar war Rittelmeyer besonders stark von Johannes Müller angezogen und seinem Versuch, die Botschaft Jesu den Menschen seiner Zeit zu vergegenwärtigen. In Rittelmeyers Autobiographie nimmt Johannes Müller einen gewichtigen Platz ein. Freilich war die Trennung von ihm nach der langsamen Einarbeitung in die Welt der Anthroposophie Rudolf Steiners unvermeidbar, obwohl bleibende Eindrücke von Müller auch in den späteren Jahren Rittelmeyers zu beobachten sind. Durch den Nürnberger Volksschullehrer Michael Bauer kam Rittelmeyer Schritt für Schritt und in einem keineswegs kritiklosen innerem Ringen zur Anthroposophie Rudolf Steiners.

Der zweite Teil "Unterwegs" schildert die Berliner Jahre Rittelmeyers an der Neuen Kirche während und nach dem Ersten Weltkrieg (1916-1922). Sie stehen im Zeichen eines immer deutlicher werdenden Weges zur religiösen Neuorientierung. Lebhaft nimmt Rittelmeyer Anteil an "Krise und Aufbruch im Protestantismus" und an der Auseinandersetzung um den "anthroposophischen Christus" in der "Christlichen Welt". Karl Barth und sein Kreis und die Rittelmeyer begegnenden Theologen Georg Merz, Wilhelm Stählin und Karl Bernhard Ritter haben ihren je eigenen Platz in Rittelmeyers Biographie. Vor und in den Anfangsjahren des Ersten Weltkrieges war Rittelmeyers Predigt von patriotischer Gesinnung und Kriegsbegeisterung erfüllt, 1917 verfasst er zusammen mit vier Berliner Pastoren einen Friedensaufruf zur Versöhnung mit den gegnerischen Völkern.

Der dritte Abschnitt ist mit "Verwirklichung" überschrieben und schildert ausführlich die Begründung der Christengemeinschaft 1922 und das Wirken Rittelmeyers in dieser Bewegung zur religiösen Erneuerung, dessen Leiter er 1925 wurde. Gleichzeitig wird auch seine führende Stelle in der anthroposophischen Bewegung im engen, nicht immer reibungslosen Austausch mit Rudolf Steiner nachgezeichnet. Besondere Aufmerksamkeit kann das Kapitel "Gefährdet durch den Nationalsozialismus" in Anspruch nehmen, in dem Wehr differenziert und sachlich-kritisch die Anfangsjahre der Hitlerdiktatur bis zum Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland 1935 schildert sowie den Versuch Rittelmeyers, die Christengemeinschaft vor dem Verbot zu schützen (dies erfolgte im Jahr 1941). Nach der biographischen Darstellung hat W. noch kommentierende Auszüge aus den Schriften Friedrich Rittelmeyers hinzugefügt.

W. hat für diese Biographie Rittelmeyers, die zur Kirchen- Theologie- und Geistesgeschichte der ersten Jahrzehnte des 20. Jh.s wesentlich hinzugehört, umfassend die Schriften von und über Rittelmeyer berücksichtigt, wobei vor allem auch seine Tagebücher und Briefe und die Zeitschrift "Christentum und Gegenwart", die er mit seinem Freund Christian Geyer von 1910-1923 herausgab, die nötige Beachtung finden. Es wird dem Lebensgang und Werk Rittelmeyers durchaus gerecht, wenn W. der Darstellungsperspektive von Seiten der Anthroposophie und Christengemeinschaft einen besonderen Schwerpunkt einräumt. Aber auch die Literatur zu Rittelmeyer von Seiten der evangelischen Theologie hat W. gründlich verarbeitet. Das Buch will als Einladung zu einer neuen Wahrnehmung der Texte Rittelmeyers jenseits verfestigter Positionen verstanden werden. Die eigene Sicht des Vf.s wird stets so deutlich, dass der Leser dieser anschaulich geschriebenen und mit Bildern versehenen Biographie zu einem eigenständigen Urteil in der Begegnung mit den Schriften Rittelmeyers gelangen kann. Das ist wahrhaftig nicht wenig angesichts eines nach wie vor spannungsreichen und mit Vorurteilen beiderseits reichlich angefüllten Verhältnisses von Anthroposophie und Christengemeinschaft auf der einen Seite und der evangelischen Kirche und der Theologie auf der anderen.