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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

648–651

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Haefs, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Aufklärung in Altbayern. Leben, Werk und Wirkung Lorenz Westenrieders.

Verlag:

Neuwied: Ars Una 1998. 1178 S., 1 Farbtaf. gr.8. Lw. DM 348,-. ISBN 3-89391-352-1.

Rezensent:

Harm Klueting

Die mit 757 Textseiten und 312 weiteren Seiten mit mehr als 4000 Anmerkungen, von denen etliche als kleine Abhandlungen anzusprechen sind, überdimensionierte Arbeit ist die für den Druck überarbeitete Fassung einer bereits 1986 angenommenen Münchener germanistischen Dissertation. Gegenstand des Werkes ist der bayerische Aufklärer Lorenz Westenrieder (1748-1829), dessen Leben und Werk hier eine umfassende Darstellung erfährt. H. hat ungedruckte Quellen aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München und aus neun weiteren Archiven und Bibliotheken ausgewertet und in beeindruckendem Umfang Literatur herangezogen. Das mit seiner komplizierten Gliederung wenig übersichtliche Literaturverzeichnis nennt auf 85 Seiten mehr als 1800 Titel. Eine Leistung eigener Art stellt die von H. erarbeitete Bibliographie sämtlicher Schriften Westenrieders - jeweils mit Standortangabe bzw. Bibliotheksnachweis - dar.

Der Weltpriester Westenrieder, der 1773 von der Aufhebung des Jesuitenordens profitierte und Professor für Poetik und Rhetorik in Landshut wurde, war seit 1775 Gymnasiallehrer in München. Dank seiner bis dahin erschienenen Veröffentlichungen zählte er 1778 bereits zu den bedeutendsten Münchener Aufklärern, um den die in München gerade Fuß fassenden Illuminaten warben. Doch kam es nur zu einer ephemeren Berührung, weil sich Westenrieder, der wahrscheinlich auch nie Freimaurer war, nach wenigen Monaten wieder von den Illuminaten trennte. 1780 wurde er kurfürstlicher Bücherzensurrat, 1784 Schulrat und 1786 geistlicher Rat, wobei es bis zur Aufhebung des bayerischen Geistlichen Rates 1802 blieb. Seit 1801 Sekretär der historischen Klasse der Münchener Akademie der Wissenschaften, wurde er 1807 Direktor der historischen Klasse. Er fand damit ein neues Betätigungsfeld, während er nach 1802 für staatliche Ämter nicht mehr in Betracht kam. "Westenrieder war ... unzeitgemäß geworden, der neuen Aufklärung unter Montgelas passten seine Querköpfigkeit und Sittenstrenge nicht ins Konzept, zudem machte der um die altbayerischen Traditionen fürchtende Westenrieder aus seiner Abneigung gegen die radikale Säkularisation keinerlei Hehl" (44). Mit der Säkularisation des Stiftes "Unser lieben Frau" in München 1803 und dem Verlust seiner Pfründe (seine Stellung im Stift bleibt bei H. undeutlich) wurde er pensioniert. 1821 wurde er Domkapitular an der Münchener Frauenkirche, der Domkirche des auf Grund des bayerischen Konkordates von 1817 entstandenen Erzbistums München und Freising. "In den letzten zehn Jahren seines Lebens war Westenrieder damit nicht nur in der Akademie der Wissenschaften tätig, sondern wirkte aktiv an dem organisatorischen Ausbau des neuen Erzbistums" (44).

Westenrieder schrieb Dramen, Romane, Erzählungen, Satiren, literarische Briefe und Reisebeschreibungen sowie poetologische Abhandlungen, darunter den "empfindsam-sozialen" (749) Roman "Leben des guten Jünglings Engelhof" von 1781/1782. Hier zeichnete er in literarischer Verfremdung ein Bild der Aufklärung in Kurbayern und der Situation eines Aufklärers, der keine Anerkennung findet. Andere wichtige Schriften waren seine "Baierischen Beyträge zur schönen und nützlichen Literatur" (1779-1781), seine Zeitschrift "Jahrbuch der Menschengeschichte in Baiern" (1782/1783) und seine historischen Werke, besonders die "Geschichte der Baierischen Akademie der Wissenschaften" (1784/1804), die "Geschichte von Baiern, für die Jugend und das Volk" (1785) und die "Beyträge zur vaterländischen Historie, Geographie, Statistik und Landwirthschaft" (1788-1817).

Schon in einer seiner ersten Veröffentlichungen, den von H. für Westenrieder gesicherten "Wesentlichen Begriffen des pracktischen Christentums, geschrieben für Lehrer der Jugend" (1774), artikulierte sich Westenrieder als ein Vertreter der katholischen Aufklärung, der sich nicht als Theologe versteht, sondern in "bewußt antidogmatischer Form Lehrsätze des Katholizismus mit einer weltlichen Pflichtethik sowie einer ungewöhnlichen Apologie der Empfindsamkeit verbindet" (52). Dogmatische Fragen wie die Trinitätslehre übergeht er mit Schweigen, nicht ohne zugleich scharfe Kritik an Freigeistern und Religionsspöttern zu üben, die die "falsche Aufklärung" verkörpern. "Für Westenrieder waren die ,Wesentlichen Begriffe' der Anfang einer Selbstverständigung über Aufklärung, Theologie und Literatur ... Primär ging es ihm darum, ... eine als bedrückend empfundene theoretisch-abstrakte Religionslehre anzugreifen, das Defizit der Gefühlsreligiosität mit einer aus ,weltlicher' Literatur adaptierten Empfindsamkeit zu kompensieren" (63). Die Veröffentlichung dieser Schrift zog ein Verfahren vor dem Freisinger bischöflichen Ordinariat - Westenrieder war Priester der Diözese Freising - nach sich, bei dem ihm u. a. die Rezeption protestantischer theologischer Literatur vorgeworfen wurde. Diese Freisinger Vorgänge verstärkten "seinen reformaufklärerischen Pragmatismus und ließen ihn endgültig Abschied von weitreichenden reformtheologischen Ambitionen nehmen" (76).

H. charakterisiert Westenrieder als bayerischen "Territorialaufklärer und Landespatriot" (756), der an der "mittleren Aufklärung" (745) der Zeit des Kurfürsten Max III. Joseph zwischen 1745 und 1777 orientiert war und blieb und den Radikalismus ebenso als lebensfern und praxisfremd kritisierte, wie er die Grundsätze der Französischen Revolution ablehnte. "Westenrieder war kein philosophischer Kopf, der die abstrakte Selbstbestimmungsphilosophie Kants sich zu eigen gemacht hätte, weil er solche Abstraktionen mit praktischer Aufklärung nicht in Verbindung bringen konnte. Aber er war auch kein Aufklärer, der den Blick für die Realität, das heißt vor allem für das Mögliche und konkret Machbare, verloren hätte. Sein Aufklärungsverständnis ist in diesem Sinne grundsätzlich evolutionär, nicht revolutionär und gründet auf konservativen, überhistorischen Werten" (353).

Bemerkenswert ist, dass Westenrieder nicht nur von der traditionsfeindlichen Politik des Grafen Montgelas seit 1799 und mehr noch von der Säkularisation von 1803 tief verunsichert wurde, sondern sich schon in den 1780er Jahren angesichts der anschwellenden antimonastischen Publizistik zur Verteidigung der katholischen Kirche, des Glaubens und der Klöster genötigt sah. "Wahre" Aufklärung war für ihn "territorial traditionsbestimmte, christliche und sozialreformerische Aufklärung" (360), "falsche" Aufklärung die der Radikalen und Deisten. Damit verband sich einerseits kritische Distanz zum Protestantismus, den er für die "falsche" Aufklärung mitverantwortlich machte, wie Westenrieder andererseits Einflüsse der protestantischen Neologie mit sittenstrengem Katholizismus zu verbinden wusste und noch in seiner Spätzeit, als er längst Vertreter der katholischen Erneuerung war, an der Rezeption der "mittleren" protestantischen Aufklärungskultur festhielt. "Das unterscheidet Westenrieder auch grundsätzlich von allen Renegaten der Aufklärung und von den konservativ-klerikalen Gegenaufklärern" (755). Dazu gehört auch, dass er im Stande war, die "mittlere" Aufklärung, wie er sie sah, über die napoleonische Zeit hinweg in die Restaurationsepoche mitzunehmen: "Mit dem Kronprinzen und späteren König Ludwig sah Westenrieder sein Werk endlich ans Ziel gekommen, nach dem vermeintlichen Irrweg der Säkularisation" (757). Es ist daher richtig, mit H. in Westenrieder "ein individuelles Verständnis von Aufklärung" (754) verkörpert zu sehen, mit dem er im Kontext der katholischen Aufklärung eine eigene Stellung einnimmt.

Das Werk bietet dem, der sich von dem viel zu umfangreich geratenen Text nicht abschrecken lässt, eine Fülle von Detailergebnissen zur katholischen Aufklärung in Kurbayern. Hier nur zu nennen ist das von Heinrich Braun OSB (1732-1792) unter der Bezeichnung "Churbaierische Gelehrte Gesellschaft zur Beförderung und Aufnahme der geistlichen Beredsamkeit und Katechetik" gegründete Predigerinstitut, das Theologiestudenten, Weltpriester, Ordensgeistliche und Exjesuiten im gemeinsamen Bemühen um Überwindung der barocken Predigtformen und um Propagierung einer "stärker auf dem Gefühl gründenden und zugleich der bürgerlichen ,Wohlfahrt' dienenden Predigt" (109) vereinte. Ende 1777 wurde Westenrieder Mitglied des Predigerinstitutes, das "einerseits von antiaufklärerischen Katholiken und katholischen Geistlichen einer die religiösen Grundlagen untergrabenden ,Aufklärerei' beschuldigt, andererseits aber auch von radikaleren Aufklärern als eine Vorhut katholischer Restauration angegriffen" (108) wurde.

Missverständlich ist die Formulierung: "Schon einige Monate zuvor, noch vor der Priesterweihe, hatte er seine Dispensation von der Kirchengebundenheit durchgesetzt, um als Weltpriester wirken zu können" (37). Gemeint ist wohl, dass Westenrieder vermied, Regularkleriker bzw. Ordenspriester zu werden.