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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

639–641

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Hanke, Christian

Titel/Untertitel:

Die Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1945 bis 1990. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Demokratie-, Gesellschafts- und Staatsverständnisses.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1999. 519 S. gr.8 = Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, 68. Kart. DM 148,-. ISBN 3-428-09453-0.

Rezensent:

Claudia Lepp

In den ersten Jahren des wiedervereinigten Deutschlands wurde die Bedeutung der evangelischen Kirche für die Deutschlandpolitik und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen während der Zweistaatlichkeit breit gewürdigt. So beschäftigte man sich auch bei einer Anhörung der Enquete-Kommission zur "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" intensiv mit den Beziehungen zwischen den Kirchen im geteilten Deutschland und der deutschen Frage. Dabei machten die Referenten und Diskutanten wiederholt deutlich, dass das "Deutsch-Deutsche" innerhalb und im Umfeld der Kirche noch genauerer wissenschaftlicher Erforschung bedürfe und diese nunmehr angesichts der deutlich verbesserten Quellenlage auch erfolgen könne.

Die an der Freien Universität Berlin geschriebene Dissertation von Christian Hanke behandelt demnach ein wichtiges und in vielen Teilaspekten noch unerforschtes Thema. Auch ist die Leitfrage des Buches nach der Haltung der evangelischen Kirche zum Nationalstaat und dessen politischer Verfasstheit von großer Bedeutung für die Erforschung des Nachkriegsprotestantismus. Doch leider lassen bereits zwei Bemerkungen in der Einleitung den Leser kritisch aufmerken. Bei der einen handelt es sich um den Hinweis des Autors, er habe lediglich gedruckte Quellen ausgewertet, die überwiegend aus dem Kirchlichen Jahrbuch der EKD stammen. Die damit gegebene Gefahr, die Selektionskriterien des Jahrbuches unreflektiert zu übernehmen, schätzt H. indes gering ein, da es ihm lediglich um die "Grundzüge der Deutschlandpolitik" gehe. Hier sei die Frage erlaubt, ob diese "Grundzüge" nicht bereits weitgehend bekannt sind und es angesichts der Zugänglichkeit der Quellen für die Bundesrepublik bis 1969 und für die DDR gar bis 1989/90 nicht sehr viel sinnvoller gewesen wäre, das bislang nicht Bekannte, nicht Publizierte zu erforschen. Dies um so mehr, als es sich bei der "Deutschlandpolitik" der evangelischen Kirche um einen sehr sensiblen Bereich handelte und sich folglich vieles hinter verschlossenen Türen abspielte. Auch bleiben ohne Quellenstudium die Versuche staatlicher Einflussnahme auf die kirchliche Haltung gegenüber der deutschen Teilung und ihren Folgen unterbelichtet.

Es ist jedoch einzuräumen, dass H.s Studie auch stärker einem politikwissenschaftlichen denn einem geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresse folgt. In seiner Einleitung beklagt der Berliner Politologe, dass seine Fachrichtung bislang wenig Interesse an der Rolle der Kirchen im politischen und gesellschaftlichen System gezeigt habe. Das trifft aufs Ganze gesehen sicher zu, hinsichtlich H.s Forschungsthema ist dies Urteil jedoch auch die Folge einer trotz umfänglichem Literaturverzeichnis unvollständigen Literatursichtung. So übersieht er etwa die beiden politikwissenschaftlichen Arbeiten von Michael J. Inacker zur Entwicklung des kirchlichen Demokratieverständnisses zwischen 1918 und 1959 (Neukirchen-Vluyn 1994) und von Thomas E. Heck zur Bedeutung der Evangelischen Kirche in Deutschland für die Neuformulierung der Ost- und Deutschlandpolitik bis 1969 (Frankfurt/M. 1996).

Übergangen werden zudem Arbeiten der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung (der Hanke insgesamt das nicht mehr zutreffende Etikett der kirchlichen "Hausgeschichtsschreibung" anheftet). So ignoriert er die Bände von Hartmut Rudolph (Göttingen 1985) zur Vertriebenenarbeit der Kirchen und zur Ostdenkschrift, und dies obgleich H. diesen Text und seinen Versöhnungsgedanken breit behandelt. Ebenfalls nicht beachtet wurde die Tübinger Dissertation von Ulrich Bayer zur deutschen Frage im Spiegel katholischer und protestantischer Presse 1949 bis 1955 (Tübingen 1994). Teilweise bleiben diese Publikationen auch daher unberücksichtigt, weil in H.s 1999 publizierter Dissertation aus dem Jahre 1997 lediglich Literatur aus der Zeit vor 1994 ausgewertet wurde. Dies erklärt auch, warum für die Situationsbeschreibung der ostdeutschen Kirchen fast ausschließlich auf Literatur aus den 80er Jahren zurückgegriffen wird, obgleich seit dem Ende der DDR zu diesem Thema zahllose neue, auf kirchliche und staatliche Akten gestützte Publikationen erschienen sind. Leider trifft H.s ungenügende Literaturrecherche auch auf die zeitgenössische Literatur zu. So wird ein deutschlandpolitisch Wellen schlagendes Buch wie das des Leiters der Westberliner Evangelischen Akademie Erich Müller-Gangloff: Mit der Teilung leben (1965), gleichfalls nicht berücksichtigt.

Sieht man von diesen Mängeln ab, so bietet H.s Arbeit dem Leser auf 460 Seiten einen mitunter sehr detaillierten Überblick über die deutschlandpolitischen Optionen, wie sie innerhalb der evangelischen Kirche zwischen 1945 und 1990 öffentlich geäußert wurden. Er zeigt darüber hinaus, wie ein kritisches Staats- und ein positives Demokratieverständnis in den west- und ostdeutschen Kirchen erst langsam wachsen musste, freilich unter konträren staatspolitischen Voraussetzungen. Hier galt es, ein langes antidemokratisches Erbe abzutragen. So setzt denn H.s Arbeit auch zunächst mit einer Darstellung der Traditionslinien ein, die er bis zur Reformation zurückverfolgt und teilweise etwas pauschalisierend zieht. Die weitere Gliederung der Arbeit orientiert sich (von einigen systematischen Einschüben abgesehen) an den Phasen der deutschlandpolitischen Entwicklung. Für die Besatzungszeit sieht der Autor die evangelische Kirche als Sprecherin des deutschen Volkes, die für dessen Einheit votiert, ohne theologisch über Volk, Nation und Vaterland zu reflektieren. Den deutschlandpolitischen Stellungnahmen der Kirche während der fünfziger Jahre im Kontext von Wiederbewaffnung, Westbindung und atomarer Bewaffnung bescheinigt H. den Charakter "christlicher Allgemeinplätze", die u. a. die Frage nach der staatlichen und gesellschaftlichen Form eines wiedervereinigten Deutschlands offen ließen. Zurückzuführen sei dies u. a. auf einen grundsätzlich mangelhaften sozialethischen Ansatz. Etwas zu knapp abgehandelt werden die für das protestantische Verständnis von Nation, Staat und Gesellschaft wichtigen 60er Jahre. Der Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Nation, der sich in diesem Jahrzehnt innerhalb des west- und ostdeutschen Protestantismus vollzog, wird von H. zwar gesehen, wie und warum er erfolgte, bleibt aber offen. Hierbei ist anzumerken, dass der Begriff der Nation bei H. nicht definiert wird und neuere Theorieansätze zur Nationsforschung nicht berücksichtigt werden.

Der Schwerpunkt der Arbeit liegt deutlich auf den Jahren nach 1969, als die organisatorisch nunmehr getrennten evangelischen Kirchen je für sich ihren Standort in der westdeutschen und ostdeutschen Gesellschaft bestimmen konnten. In der DDR führte dies zum Verständnis der Kirche als Dienst- und Lerngemeinschaft sowie zu einer zwar nicht in theoretischer, aber in praktischer Hinsicht kritischen Auseinandersetzung mit staatlicher Obrigkeit. In der Bundesrepublik näherte sich hingegen die Kirche theologisch, ethisch und praktisch der pluralistisch-demokratischen Gesellschafts- und Staatsform stetig an, bis sie schließlich 1985 in einer Denkschrift theologisch ihr Ja zu ihr formulierte. H. widmet dieser Demokratie-Denkschrift eine ausführliche, kritisch-positive Würdigung und prognostiziert, dass die Kirche hinter diesen Erkenntnisstand nicht mehr zurückgehen könne. Letztere Aussage kann nur heißen, dass die ostdeutschen Kirchen die Diskussion und Reflexion über die Demokratie- und Staatstheorie mit dem gleichen Ergebnis nachzuholen haben.

Die kirchliche Deutschlandpolitik während der 70er und 80er Jahre sieht der Autor vor allem durch die Tatsache bestimmt, dass sie immer mehr und schließlich völlig der Entspannungspolitik untergeordnet wurde. Beharrlich hätten die Kirchen die beiden deutschen Staaten an ihre als geschichtliche Haftunggemeinschaft wahrzunehmende Verantwortung für Frieden und Entspannung gemahnt und den Wunsch nach deutscher Einheit schließlich als eine friedensgefährdende Illusion eingestuft. Die gewachsene Distanz zum Wiedervereinigungsgedanken sowie die Orientierung auf Reform, nicht Umsturz des DDR-Systems erkläre denn auch die vereinigungskritische Haltung von Teilen der Kirchenvertreter und politisch aktiven Protestanten in den Jahren 1989/90.

Inzwischen aber ist die deutsche Frage beantwortet und die besondere Gemeinschaft in den Kirchenbund der EKD überführt. Die Geschichte der inneren Einheit Deutschlands und der Evangelischen Kirche wird erst noch zu schreiben sein. Doch auch für die Zeit der deutschen Teilung sind nach H.s Buch, wie er selbst an verschiedenen Stellen anmerkt, noch einige Fragen offen, die es empirisch zu erforschen gilt.