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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

636 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Czok, Karl

Titel/Untertitel:

Nikolaikirche - offen für alle. Eine Gemeinde im Zentrum der Wende. Hrsg. auf der Grundlage der Handakten von Christian Führer und Friedrich Magirius.

Verlag:

Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1999. 364 S. 8. Kart. DM 45,-. ISBN 3-374-01740-1.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

Kein kirchlicher Ort, kein kirchlicher Arbeitsbereich, die im letzten Jahrzehnt der DDR in die zunehmenden gesellschaftlichen Konflikte einbezogen waren, ist so oft durch Medienbeiträge und Publikationen gewürdigt worden wie die Nikolaikirche in Leipzig. Die 1994 im gleichen Verlag erschienene umfassende Dokumentation aus der Sicht der Gruppen "Freunde und Feinde" hat bereits reiches Quellenmaterial zugänglich gemacht.

Besteht nicht mit einer weiteren Dokumentation die Gefahr der Wiederholung oder zumindest der Überschneidung? Gegenstandslos war diese Frage für den Herausgeber sicher nicht. Es gelang ihm, Doppelungen auf wenige für den Zusammenhang notwendige Stücke zu beschränken. Es ist ihm gelungen, der neuen Dokumentation eine eigene Linie zu geben. Er konzentriert sich mit seiner Quellenauswahl im Wesentlichen auf die kirchliche Überlieferung zur Geschichte der Friedens- bzw. Montagsgebete und wählt als Zugang vor allem die Handakten der beiden an der Nikolaikirche tätigen Theologen, Christian Führer und Friedrich Magirius.

Diese Art des Zugriffs auf die Quellen war dem Herausgeber als erfahrenem Historiker vertraut. Eine Engführung wird vermieden, zunächst zeitlich mit dem Beginn bei dem Staat-Kirche-Gespräch vom 6. März 1978 und dem Abschluss mit den beiden Ansprachen Richard von Weizsäckers und Johannes Hempels vom Oktober 1990, sodann thematisch durch die übergemeindliche Funktion von Magirius und die wachsende überlokale Ausstrahlungskraft der Montagsveranstaltungen. Die Bandbreite der gesellschaftlichen Konfliktthemen (Friedensanliegen und Wehrdienst, Bildungswesen, Umweltfragen, Wirtschaftsmisere, Ausreiseproblematik, Machtbehauptung u. ä.) wird anhand von einzelnen Schicksalen und Vorkommnissen erkennbar gemacht. Genauso ungefiltert wird Einblick in die innerkirchlichen Verständnisschwierigkeiten und Zerreißproben Einblick gegeben. Die Vorzüge der Arbeitsweise des professionellen Historikers, der sich im Vorwort als an der Thematik persönlich engagierter Nichtchrist zu erkennen gibt, sind nicht zu übersehen: Kurze Einleitung (Vorwort), ausführliches Verzeichnis der 144 Dokumente, Editionshinweise, knappe Gestaltung der Dokumentenköpfe, Quellennachweise usw. Die straffe Vorgehensweise entspricht der klassischen Editionspraxis, die der Weiterarbeit unverzichtbare Informationen gibt, aber die Interpretation nicht vorwegnimmt. Wenn allerdings "+" anstelle von "und" aus den Vorlagen übernommen worden ist, dann empfindet man das Bemühen um Texttreue als überstrapaziert. An nicht wenigen Stellen vermisst man eine erläuternde Anmerkung, wenn auf Vorgänge, Themen oder Materialien (z. B. 97 Bildbetrachtung ohne Hinweis auf die verwendete Darstellung) Bezug genommen wird, über die nur Eingeweihte Bescheid wissen können. Platz hierfür wäre zu gewinnen gewesen, wenn einige Texte, die nur den Ablauf dokumentieren, durch eine Anmerkung oder eine Bemerkung beim Kontextdokument ersetzt worden wären (z. B. Nr. 37b und 60c).

Es ist ratsam, über die mehrfachen Verweise hinaus den erwähnten Vorläuferband "Freunde und Feinde" zu Rate zu ziehen. Dort erhält der Leser Aufschluss über Akteure (z. B. über die Doppelrolle des Vorsitzenden des Bezirkssynodalausschusses für "Frieden und Gerechtigkeit"), Institutionen, Organisationen, Leipziger Gruppen und durch eine ausführliche Chronik Erläuterungen zu einzelnen Ereignissen. Der regional-kirchliche oder gar landeskirchliche Kontext kommt jedoch bei beiden Publikationen höchstens ansatzweise in den Blick. Auf die Leser der vorliegenden Dokumentation werden sicher unterschiedliche Texte einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Der Brief von Peter S. an seinen Enkel Moritz in der Schweiz dürfte aber dazu gehören.

1523 hat der gebildete Eilenburger Schuhmacher Georg Schönichen mit einer Flugschrift gegen unevangelische Predigten in der Leipziger Nikolaikirche für öffentliches Aufsehen gesorgt. Die zuerst in Grimma erschienene Schrift wurde in Erfurt, Augsburg und Basel nachgedruckt. Weil einer der kritisierten Theologen die Obrigkeit zu Hilfe rief, konnte der bibelkundige Laie bald zum Schweigen gebracht werden. Wie anders ist der Konflikt um die Nikolaikirche reichlich 470 Jahre später verlaufen, nach Inhalt, Gegnern, öffentlicher Wahrnehmung und Nachhall. Das belegt erneut die vorliegende Dokumentation.