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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

627–630

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

(1) Hengel, Martin (2) Hengel, Martin

Titel/Untertitel:

(1) Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I. Unter Mitarb. von Ch. Markschies, A. M. Schwemer, mit einem Anhang von H. Bloedhorn.
(2) Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II. Unter Mitarb. von J. Frey u. D. Betz und mit Beiträgen von H. Bloedhorn u. M. Küchler.

Verlag:

(1) Tübingen: Mohr 1996. XI, 484 S. gr. 8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 90. Lw. DM 278,-. ISBN 3-16-146588-1.
(2) Tübingen: Mohr 1999. X, 466 S. gr. 8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 109. Lw. DM 278,-. ISBN 3-16-146847-3.

Rezensent:

Eduard Lohse

In diesen beiden Bänden legt Martin Hengel, emeritierter Professor für Neues Testament in Tübingen, einen gewichtigen Teil der reichen Ernte vor, die aus einem langen Gelehrtenleben erwachsen ist. Hatte er schon in seiner herausragenden Habilitationsschrift sich der Frage zugewandt, wie sich Judentum und Hellenismus zueinander verhalten, so hat er dann in vielen Spezialstudien diesen Problemkreis immer wieder bedacht. Ursprünglich war beabsichtigt, die ersten beiden Bände der "Kleinen Schriften" ausschließlich für "Judaica et Hellenistica" vorzusehen. Doch dann erfolgte eine leichte Veränderung, indem zwei ursprünglich für den zweiten Band bestimmte Abhandlungen herausgenommen wurden und stattdessen vier Studien zum Abdruck gelangten, die "unter ganz verschiedenen Aspekten den bleibenden Zusammenhang zwischen dem frühen Christentum und seiner jüdischen Mutter behandeln" (II. Vorwort). Daher erklärt sich die Erweiterung des Titels, mit dem der zweite Band überschrieben ist, so dass zu "Judaica et Hellenistica" ein ergänzendes "Christiana" hinzugefügt wurde.

Im Vorwort zum ersten Band bietet der Vf. eine knappe Zusammenfassung der ihn leitenden Gesichtspunkte. Die Bewegung des Hellenismus hatte den ganzen Mittelmeerraum erfasst und auch vor dem Judentum nicht halt gemacht - weder in der Dispora noch auch im Mutterland und seiner Hauptstadt Jerusalem. Doch im Unterschied zu anderen Völkerschaften und Religionen der ausgehenden Antike hat das Judentum in der hellenistisch-römischen Welt vom 4. Jh. v. Chr. zum 2. Jh. n. Chr. zwar die fremde Kultur intensiv aufgenommen, diese jedoch so verarbeitet, dass es seine Identität nicht verloren, ja diese sogar noch stärker ausgeprägt hat. Dabei standen Religion und politische Entwicklung in einem untrennbaren Zusammenhang, wie er vor allem im Mutterland festgehalten wurde und bewahrt blieb. Hatte man in der älteren Forschung einem sog. palästinischen ein sog. hellenistisches Judentum gegenüberstellen wollen, so weist H. in überzeugender Weise nach, dass angesichts des umfassenden Phänomens des Hellenismus solche Unterscheidung nicht als sachgemäß gelten kann. Eher bietet es sich an, die breite Überlieferung jüdischer Literatur, die in dieser Epoche entstanden ist, nach der jeweils verwendeten Sprache zu ordnen, wobei sich jedoch vielfach scharfe Grenzen nicht ziehen lassen.

Da die Sprachgrenze mitten durch Palästina und Jerusalem hindurchging, muss mit fließenden Übergängen gerechnet werden. Die Diaspora hat enge Beziehungen zum Mutterland gepflegt. Einerseits gab es einen regen Austausch, der hin und her ging, andererseits waren die Synagogengemeinden in Alexandrien, Antiochien, Ephesus, Rom und anderen Städten von unterschiedlichem Gepräge. Können sorgfältig differenzierende Untersuchungen zu einem genaueren Verständnis des antiken Judentums in seinem Verhältnis zur griechisch-römischen Umwelt führen, so ergeben sich dann auch entsprechende Konsequenzen im Blick auf das frühe Christentum, das für das 1. Jh. n. Chr. noch gar nicht einfach vom Judentum abgelöst werden kann, sondern sich weithin als eine Bewegung innerhalb des weiten Rahmens des antiken Judentums entwickelte.

Die in den verschiedenen Aufsätzen verhandelten Themen reichen von einer allgemeinen Betrachtung der Hellenisierung Judäas über Studien zu antiken Synagogen und Inschriften sowie Untersuchungen einzelner Schriftenkreise bis zu Rezensionen und kritischen Referaten, in denen der Vf. sich mit Ansichten anderer Forscher auseinandersetzt. Der ungemein reiche Ertrag, der in jeder dieser Abhandlungen ausgebreitet wird, lässt sich in einer - notwendigerweise kurz zu haltenden - Besprechung keineswegs in der Ausführlichkeit würdigen, die man für eine eingehende Auswertung benötigen müsste. Darum sollen einzelne Beispiele herausgehoben werden, um an ihnen aufzuzeigen, wie bis hinein in Untersuchungen von Detailproblemen die alle Arbeiten leitende Thematik festgehalten und in immer neuen Ansätzen gefördert wird.

Hatten sich die Makkabäer entschieden gegen den überhand nehmenden Einfluss des von der syrischen Oberherrschaft geförderten Hellenismus gewandt und die Wiederherstellung des rechtmäßigen Tempeldienstes erreicht, so ging doch in der Folgezeit weiterhin starker Einfluss von hellenistischer Zivilisation aus. Dieser machte sich selbst in der gesetzesstrengen Gemeinde von Qumran, die aus der makkabäischen Erhebung hervorgegangen war, bemerkbar, wie der Vf. in einer aufschlussreichen Abhandlung über "Qumran und der Hellenismus" darlegt (I,258-294). "Unmittelbare hellenistische Einflüsse" begegnen "im ökonomisch-technischen Bereich, in der Militärtechnik, in der Rechtsform des privaten religiösen Vereins, in der Zwei-Geister-Lehre und in den Horoskopen" (I,294) - ein bezeichnendes Paradigma dafür, "daß die ,Hellenisierung' des Judentums auch die schroffsten Gegner des griechischen Geistes nicht ausschloß" (ebd.).

Wird vielfach die Ansicht vertreten, in der Diaspora habe die Vorstellung eines endzeitlichen Messias keine nennenswerte Rolle gespielt und habe man stattdessen die der Zukunft geltende Hoffnung weithin auf die Unsterblichkeit der Seele bezogen, so widerspricht H. mit gewichtigen Argumenten. Denn wie sind die Aufstandsbewegungen zu erklären, die zu Anfang des 2. Jh.s n. Chr. weite Teile der Diaspora erfassten und zum Untergang der großen jüdischen Gemeinde in Alexandria führten? Offensichtlich waren die ständigen Kontakte zum Mutterland so intensiv, dass politisch-messianische Erwartungen, wie sie in Palästina zum Bar-Kochba-Krieg führten, auch auf die Diaspora einwirkten, so dass der Aufstand der ägyptischen Diaspora zur Zeit Trajans wahrscheinlich "eine Erhebung mit eschatologisch-messianischem Hintergrund darstellte" (I,322). Auch in der Diaspora wird man erwartet haben, "daß der durch die Tora verheißene Messias jetzt ,die Weltherrschaft erlangen werde'" (I,326). "Man glaubte, ,das Reich Gottes sei nahe herbeigekommen'. Möglicherweise war diese Hoffnung durch den großen Krieg mit den Parthern bekräftigt worden, da man in dem erwarteten Sieg der östlichen Heere über die Macht Roms den Vorläufer des Messias sah." (ebd.)

Das alte Problem der "Wirkungsgeschichte von Jes 53 in vorchristlicher Zeit" wird in einer umfangreichen Untersuchung aller einschlägigen Texte ebenso umsichtig wie gründlich erörtert (II,72-114). Sind ohne Zweifel die Hoheitsaussagen des Gottesknechtsliedes schon im vorchristlichen Judentum in messianischem Sinn verstanden worden, so stellt sich die schwierige Frage, ob hier oder dort auch die Leidensaussagen in messianischer Deutung ausgelegt worden sein könnten. Nach eingehender Prüfung aller in Betracht zu ziehenden Texte kommt der Vf. zum Ergebnis, dass das Motiv des stellvertretenden Sühnetods in den vorchristlichen Texten durchweg mehr oder weniger zurücktritt (II,114). Denn "grundsätzlich wird man sagen dürfen, daß dort, wo das Motiv des Richters hervortritt, das der Stellvertretung verschwindet" (ebd.). Doch in Achtung gegenüber der von bedeutenden Gelehrten vertretenen These, schon dem vorschristlichen Judentum sei der Gedanke eines leidenden und sühnenden Messias nicht gänzlich unbekannt gewesen, bleibt der Vf. überaus vorsichtig in der Formulierung eines abschließenden Urteils und sagt: "Dennoch halte ich die Vermutung für nicht völlig unbegründet, daß es schon in vorschristlicher Zeit Traditionen über leidende und sühnende eschatologisch-messianische Gestalten im palästinischen Judentum (und wohl auch in der Diaspora, beides kann man nicht streng trennen) gegeben hat und dass Jesus und die Urgemeinde u. U. solche Traditionen kennen und daran anknüpfen konnten." (ebd.) Über ein so behutsam ausgesprochenes "Vielleicht" wird man angesichts des Befundes in den uns bekannten Quellen jedoch schwerlich hinausgehen können.

Wie stark der Hellenismus auf das Mutterland eingewirkt hat, wird dem Leser anschaulich vor Augen geführt in einer Studie, die "Jerusalem als jüdische und hellenistische Stadt" schildert (II,115-156): "Auch Jerusalem konnte sich" - so wird ausgeführt- "dem Einfluß der griechischen Bildung auf die Dauer nicht entziehen. Sie wurde von zwei Seiten her in die Stadt hineingetragen: Zunächst durch das Interesse des neuen Herrschers, Herodes, zum anderen durch den beständig wachsenden Einfluß der Diasporajuden in der Stadt, der durch die Bewegungsfreiheit, die die Pax Romana gewährte, erheblich gefördert wurde." (II,140) Kann man die Zahl der Einwohner von Jerusalem und Umgebung auf etwa 100 000 schätzen, so dürften vor 70 n. Chr. mindestens 10-20 % dort Griechisch als Muttersprache gesprochen haben, "die Zahl der Zweisprachigen wird sicher noch wesentlich größer gewesen sein" (II,147). Da zu den hohen Festen zahlreiche Pilger aus der Diaspora in die Stadt kamen, wird Jerusalem "als die wohl bedeutendste religiöse Pilgerstadt der frühen Kaiserzeit bis zu seiner Zerstörung das eigentliche geistig-geistliche Zentrum gerade auch des griechischsprechenden Judentums" gewesen sein (II,148). Auch kam eine nicht geringe Zahl von Rückwanderern aus der Zerstreuung wieder nach Jerusalem zurück, erwartete man dort doch die Ankunft des Messias und den Anbruch der Auferstehung der Toten (ebd.). Der starke Einfluss des Hellenismus hat jedoch den Glauben an den einen Gott, sein Gesetz und sein Heiligtum nicht erschüttert, zumal auch der König Herodes die Grundlagen der jüdischen Religion nicht in Frage stellen wollte (II,150).

Diese Voraussetzungen haben dann auch den Weg des frühen Christentums, das auf dem Boden des Judentums erwuchs, in entscheidender Weise bestimmt, so dass gilt: "Wer über das Christentum in der antiken Welt sprechen will, muß mit dem antiken Judentum beginnen." (I,296) Dabei darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, dass die jüdisch-hellenistische Diaspora alles andere als eine Einheit bildete, sondern sich in den verschiedenen Gruppen, aber auch in der jeweiligen regionalen Ausprägung höchst unterschiedlich darstellte. Denn "die Juden in Syrien oder auch in Rom standen stärker unter ,palästinischem' Einfluß als etwa die in Alexandrien und Ägypten, und im parthischen Babylonien dachte man anders als im lateinischen Karthago" (II,202). Verbieten sich daher Pauschalurteile jeglicher Art, so zeigt H. in seinen Studien in vorbildlicher Weise, welche methodische Umsicht geboten ist, wenn man die Gegebenheiten, die für die Anfänge des Christentums von Einfluss waren, angemessen würdigen und einschätzen will.

Alle Abhandlungen sind mit gründlicher Auswertung einschlägiger Arbeiten anderer Gelehrter versehen, deren Bedeutung der Vf. durchaus anzuerkennen weiß. So bescheinigt er den Herausgebern des sog. neuen "Schürer", die von ihnen vorgelegte Neubearbeitung sei "eine Meisterleistung historisch-philologischer Wissenschaft in England, für die man den Organisatoren und Mitwirkenden herzlich zu danken hat" (II,161). Und zum großen Werk von Leipoldt-Grundmann über die "Umwelt des Urchristentums" wird bemerkt, "auf seine reiche Stoffülle und die teilweise ausgezeichneten Bibliographien" werde "auch der Weiterforschende mit Dankbarkeit zurückgreifen" (I,143). Eingehend setzt sich der Vf. mit den Untersuchungen auseinander, die E. P. Sanders in mehreren großen Büchern vorgelegt hat. Dabei wird kritisch hervorgehoben, Sanders habe "beständig den Einfluß der Pharisäer auf die jüdische Gesellschaft unterschätzt, während er gleichzeitig das Priestertum und den Tempelkult eher überschätzt, wobei er in beiden Bereichen zu wenig differenziert" (I,395).

Sucht Sanders herauszuarbeiten, es habe ein sog. "common Judaism" gegeben, das in dem zu finden sei "what the priests and the people agreed on" (I,456), so zieht der Vf. diese These grundsätzlich in Zweifel und weist auf die Vielgestaltigkeit hin, in der sich das antike Judentum darstellte (ebda.).

Zu Recht lehnt der Vf. ungerechte Urteile ab, wie sie von Sanders und anderen über Gelehrte der beiden uns vorangegangenen Generationen wie Billerbeck, Schlatter, Jeremias u. a. allzu vorschnell abgegeben werden. Weder kann man ihnen vorhalten, dass sie die Texte aus Qumran noch nicht kennen konnten, noch bemängeln, dass es ihnen nicht möglich war, in Jerusalem Judaistik zu studieren. Ihnen - so wird in fairer Würdigung und berechtigter Anerkennung dargelegt - kommt das bleibende Verdienst zu, "gezeigt zu haben, daß die gründliche Kenntnis des Judentums, und hier nicht zuletzt des rabbinischen, als unabdingbare Notwendigkeit zu den Anforderungen des Faches Neues Testament gehört" (I,478).

Die Lektüre dieser beiden Bände bietet in allen Teilen wertvolle Belehrung und reichhaltigen Gewinn für das Verständnis der neutestamentlichen Zeitgeschichte. Sowohl die umfassende Kenntnis der antiken Quellen wie auch die stets mit kundigem Urteil vorgenommene Auswertung der Sekundärliteratur verdienen ungeteilte Anerkennung. Wer Hengels Arbeiten gründlich studiert, wird bei einem Meister seines Faches in die Schule gehen und sich auf das Beste unterrichtet und bereichert wissen. Hat man sich in die vielen Studien, die in diesen beiden Bänden vereint sind, gründlich einzuarbeiten begonnen, so wird man mit gespannter Aufmerksamkeit weiterlesen und sich auf den dritten Band freuen, der Beiträge zu Paulus und Jakobus, zur Christologie und den Evangelien umfassen soll.