Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

622–624

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dietzfelbinger, Christian

Titel/Untertitel:

Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1997. XVI, 369 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. Kart. DM 84,-. ISBN 3-16-146687-X.

Rezensent:

Michael Labahn

Unter den Neuerscheinungen zum vierten Evangelium kommt den Arbeiten zu den Abschiedsreden (= jAR) als "Schnittpunkt der Methodendiskussion in der Johannesauslegung" (Klauck, BZ.NF 40, 1996, 236) besondere Bedeutung zu; dieses Votum ist durch die auffällige Zahl bedeutender Arbeiten zu Joh 14-17 begründet. Deshalb ist zu fragen, welchen Beitrag die Monographie des Tübinger Neutestamentlers Dietzfelbinger, der bereits durch mehrere Aufsätze zu diesem Themenkreis hervorgetreten ist, zu dieser Diskussion liefert und wo sie eigene Akzente setzt.

Diese sehe ich vor allem in der konsequenten Lektüre der jAR als Dokumente, die einer bestimmten Geschichte entstammen (XIV; vgl. 70 ff.; 290). D. stellt heraus, dass die Gattung der Abschiedsreden vor allem Zeugnis der "Hoffnungen und Befürchtungen" ihrer Verfasser ist (7.70.74 f.). Die jAR nutzen in ihrem Rückbezug auf Jesus die Autorität einer Persönlichkeit der Vergangenheit, um mittels einer "hermeneutischen Horizontverschmelzung" die Gegenwart so zu interpretieren (83), dass der Leser/die Leserin zugleich für die Bewältigung der Zukunft befähigt wird. Ausdruck der Geschichtlichkeit ist vor allem, dass die Gemeinde in "enger und problematischer Nachbarschaft" zur Synagoge stehe (18); so werden die jAR zunächst vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung gelesen. Auch wenn D. die kritischen Einwände bespricht (hierzu auch Labahn, BZNW 98, 1999, 34 ff.), setzt er die Aufnahme der Ketzerverfluchung in die birkat hammînîm als Basis den Konfliktes voraus (167 ff.). Dass das Evangelium nicht ohne historische ,Erdung' gelesen wird, ist zu begrüßen. Ob aber der Konflikt mit der Synagoge der Primärhintergrund ist, ist ebenso zu fragen wie auch zu problematisieren ist, dass damit Belege, die das christologische Denken des joh Kreises repräsentieren - wie der hymnische Text in 13,31 f. (18 f.) - konfliktorientiert exegesiert werden sollten. Unbestreitbar ist die joh Christologie im Kontext geschichtlichen Erlebens formuliert und in Konflikten präzisiert worden, doch ist die Betonung der äußeren Krisenbewältigung schwerlich das entscheidende Movens joh-christologischen Denkens. Dies gilt auch für einen zweiten Konfliktkreis: der im 1Joh bekämpften Gegnergruppe (Anhänger einer doketischen Christologie; 41 f.). Auf ihre Vorstellung reagiere der Evangelist mit der wechselseitigen Immanenzformel in 14,10 f., indem er die Behauptung "einer substanziellen Identität" zugunsten einer "funktionalen" bestreitet (42); doch stellt diese gerade positiv die Nähe von Vater und Sohn heraus und erklärt damit, warum im Sohn auch der Vater gesehen werden kann (14,7). Einen dritten Konfliktstrom arbeitet D. schließlich für 16,16-33 heraus, der in der "Feindschaft der hellenistischen Welt" besteht (242; zu Joh 17: S. 342.350) und von einem grundsätzlichen innergemeindlichen Konflikt begleitet wird (242 f.).

Wie soll die Bewältigung der Gegenwart gelingen? Als Antwort arbeitet D. die Verheißung ,größerer Werke' (14,12) heraus, die auf das Wort Jesu bezogen ist (47): Die Größe geht auf die räumliche und zeitliche Entschränkung des Handelns der Jünger nach Ostern. Die Zeit nach Ostern erhält in den jAR eine positiv-neue Qualität (84 ff.; s. a. die Gewährung des Schalom: 14,27; 66). Das Verlassenwerden der Gemeinde ist notwendige Voraussetzung des eigenen Handelns (48.94; vgl. die eindringlichen Überlegungen zum Aspekt des Getrennt-Seins der Jünger von Jesus nach Ostern: 217 ff.) und der "Ort, an dem das Wirken Jesu erst zu seiner wahren Gestalt gelangt" (49). Ermöglicht wird dies durch den Parakleten, der nachösterlich das Verstehen der Gemeinde erweitert. So wird "die vorösterliche Epoche, die Zeit des geschichtlichen Jesus und der Beziehung zu ihm, zur Epoche der geringeren Werke, der eingeschränkten Christusbeziehung" (90; s. auch 219.222.289) und zwar gegen das Insistieren einer anderen frühchristlichen Gruppe (Petrus und die petrinische Tradition) auf das Prae vorösterlicher Jesus-Traditionen (94 ff.; s. auch 147.203). Diese Interpretation droht jedoch die Darstellung des Inkarnierten abzuwerten. Warum schreibt der vierte Evangelist eine vita Jesu- allerdings prononciert aus österlicher Glaubensperspektive - wenn das Wirken Jesu vor Ostern minderer Qualität ist? Weshalb hat der Paraklet die Aufgabe, das vom gesandten Sohn Gelehrte und Gewirkte hermeneutisch zu bewahren, wenn dies für die Christusbeziehung nicht von wesentlicher Bedeutung ist? Der Paraklet ist nicht nur an Sendung und Rückkehr des Sohnes zum Vater und damit an die vorösterliche Geschichte gebunden, sondern wird ausdrücklich auf dieses Wirken bezogen: 14,26 (ÓÙ ÂrÔÓ ñÌÖÓ [âÁÒ]). Die Neubewertung der Gegenwart durch die jAR überspringt nicht den Wandel des Offenbarers in Zeit und Welt.

Auch in der Methodendiskussion bezieht D. Stellung, indem er beide Tendenzen, die der synchronen wie die der diachronen Analyse, ernst zu nehmen versucht. Beachtenswert ist zunächst, dass D. mit Bezug auf die Darstellungsform ("Diskussionscharakter") die Beteiligung der joh Schule an der aktuellen Form der jAR herausstellt, die ihren "Wille(n) zur Interpretation erkennen lässt" (72.75.99). Weniger in der Vorgeschichte, sondern in der Ergänzung kommt ihr Wirken zum Tragen. So entsteht ein weitgehend bekanntes Schema: Joh 13,31-14,31 stammt vom Evangelisten, 15-17 von Schülern: Zu unterscheiden sind die Verfasser von 15,1-16,15, 16,16-33 und 17,1-26, die bei aller Eigenständigkeit ihre Beiträge in das Gefüge des Evangeliums einbringen (z. B. 252 f.). Gerechnet wird zudem mit späteren Ergänzungen; z. B. 13,34 f. (25-27). Joh 13,31 ff. geht auf das Problem von Abschied und Ende der bisherigen Beziehung von Jesus und seinen Jüngern ein. 14,2 f. gibt als Stichwortgeber das korrigierend exegesierte Thema vor (31 f.); aufs Ganze gesehen wird die futurische Eschatologie in die präsentische aufgehoben (97 ff.). D. greift hier auf seinen Beitrag zum joh Osterglauben zurück (ThSt 138, 1992) und lässt in seiner Interpretation einerseits Parusie und Ostern, andererseits Ostern und Pfingsten zusammenfallen ("Ostern, Pfingsten und Parusie werden so zu einem in sich differenzierten und sich wiederholenden Geschehen"; 83). Dabei realisieren sich Parusie und Ostern im Leben der Gemeinde und in ihrer Liebe also in der Erfahrung des Auferstandenen (56 ff.73.75 ff.). Doch hier mag man mit Hinweis auf die als hermeneutisches Paradigma eingeführte Differenzierung zwischen textinternem Erzählfluss (vor Ostern) und textexterner Lesergemeinde (z. B. Schnelle; Dettwiler) anders urteilen. Jedenfalls stellt sich die Frage, ob nicht weiterhin die Erwartung der Parusie gegeben ist.

In 15,1-16,15 werden zunächst das Wesen der Gemeinde (15,1-17), dann das Verhältnis Gemeinde-Welt mit der bedrohenden Synagoge einerseits und dem Zeugnis des Parakleten als Beistand in Verfolgung andererseits (15,18-16,4a) und schließlich der Beistand für die Gemeinde in dieser Situation, 16,4b-15, bedacht. Davon wird 16,16-33 auf Grund des als "grotesk" eingestuften Unverständnisses in 16,16-18 abgetrennt (248 f.), von dem wiederum Joh 17 zu unterscheiden ist.

Andererseits arbeitet D. behutsam die aufeinander aufbauende Argumentation der einzelnen Passagen mit beachtenswerten Beobachtungen heraus und schlägt bisweilen interessante Gliederungsalternativen vor. Ein wesentlicher Kritikpunkt besteht jedoch darin, dass D. Joh 13-17 betont als "eine große Rede" (12.359 ff.) versteht. Wenn D. das klassische literarkritische Signal 14,31 für einen Entstehungsprozess in Anschlag bringt, so sollte dies auch synchron als ein beachtenswertes Gliederungsmerkmal bedacht werden, das Joh 13,31-14,31 von 15 f. trennt. Wenn D. weiterhin Kap. 17 vom Stichwort des "hohepriesterlichen Gebets" gelöst als Abschiedsgebet des Sohnes an den Vater zu Gunsten der Gemeinde bestimmt, so sperrt sich dies formal ebenfalls gegen die Lektüre als eine Rede. Zudem hebt er Joh 17, das das Gethsemanegebet (Mk 14,35 f.) "ersetzt" (344), auch inhaltlich stark von Joh 13-16 ab. Als Kriterien werden genannt: eigenständiges eschatologisches Denken (332ff.), Besonderheiten im Aufbau sowie in der theologischen Diktion und das Fehlen des Parakleten (als bewusste Polemik: 351 f.). Auch diese Eigenständigkeit von Joh 17 ist ein Problem bei seiner These.

Das von D. beklagte Schattendasein der jAR (4 f.) ist in der Forschung nicht mehr gegeben; dass die Abschiedsreden auch für Predigt und Gemeinde attraktiv werden, sucht D. dadurch zu erreichen, dass seine Auslegung auch für das gegenwärtige Gespräch der christlichen Gemeinde etwas beitragen will. D. hat deutlich gemacht, dass das joh Evangelium Anteil nimmt an dem frühchristlichen Bemühen, sich in seiner - teilweise als feindlich erfahrenen - Umwelt zurecht zu finden. Christologisches und theologisches Nachdenken haben ihren hermeneutischen Horizont in der Bewältigung dieser Situation und keinesfalls in einer Abkehr aus dieser Welt. Auch wenn Rückfragen an die historischen Rekonstruktionen zu richten sind, ist festzuhalten, dass in diesem Werk ein beachtenswerter Beitrag in der gegenwärtigen Diskussion zu den Abschiedsreden mit gründlichen Analysen vorliegt.