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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

618–620

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Ulrich, Eugene

Titel/Untertitel:

The Dead Sea Scrolls and the Origins of the Bible.

Verlag:

Grand Rapids: Eerdmans; Leiden-Boston-Köln: Brill 1999. XVIII, 309 S. 8 = Studies in the Dead Sea Scrolls and Related Literature. Kart. $ 25.-. ISBN 0-8028-4611-4.

Rezensent:

Roland Bergmeier

Die neue, von P. W. Flint und M. G. Abegg jr. herausgegebene Reihe Studies in the Dead Sea Scrolls and Related Literature soll im Zeichen eines zweiten Frühlings der Qumranforschung zur Klärung beitragen, inwieweit wir auf Grund der Schriftrollenfunde unser Verständnis von der Entstehungsgeschichte der Bibel und der historischen Entwicklung von Judentum und Christentum zu revidieren oder neu zu formulieren haben. So ist diese Reihe der geeignete Ort, die 14 ausgewählten Aufsätze, die der Autor, chief editor of the biblical scrolls from Qumran, in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu unterschiedlichen Anlässen gleichsam als Wegmarken seiner Publikationsarbeit geschrieben hat, hier gesammelt zu veröffentlichen und erneut zur Diskussion zu stellen.

Wo sich seine texttheoretischen Einschätzungen von denen F. M. Cross', P. W. Skehans, S. Talmons, E. Tovs, oder J. W. Wevers' unterscheiden, breitet der vorliegende Band einstweilen die Argumente des Vf.s aus, bis sie, wohl sehr wahrscheinlich, monographisch in einer Gesamtschau zur Darstellung gebracht werden.

Die einzelnen Aufsätze, als Kapitel gezählt, vermitteln ein Gesamtbild vom Werden der Juden und Christen gemeinsamen Bibel. Teil 1 "The Scrolls And The Hebrew Bible" beleuchtet unmittelbar die Genesis der biblischen Schriften und ihrer Textformen, wobei die Kap. 3-6 in chronologischer Folge der Aufsätze die Entstehung der Grundthese des Vf.s vor Augen führen: Die einzelnen biblischen Bücher waren schon als solche in mehreren Schüben aus Traditionen und Quellen erwachsen, ohne je eine definitive Endgestalt ihres Textbestandes aufzuweisen, und wurden wohl bis ins 2. Jh. n. Chr. hinein in unterschiedlichen literarischen Editionen (multiple variant editions) mit pluriformem Text weiter überliefert: 1. The Community of Israel and the Composition of the Scriptures (3-16), 2. The Bible in the Making: The Scriptures at Qumran (17-33), 3. Double Literary Editions of Biblical Narratives and Reflections on Determining the Form to Be Translated (34-50), 4. The Canonical Process, Textual Criticism, and Latter Stages in the Composition of the Bible (51-78), 5. Pluriformity in the Biblical Text, Text Groups, and Questions of Canon (79-98), 6. Multiple Literary Editions: Reflections Toward a Theory of the History of the Biblical Text (99-120), 7. The Palaeo-Hebrew Biblical Manuscripts from Qumran Cave 4 (121-147), 8. Orthography and Text in 4QDana and 4QDanb and in the Received Masoretic Text (148-162).

Teil 2 "The Scrolls, The Septuagint, And The Old Latin" befasst sich mit den griechischen und altlateinischen Übersetzungen, die ihrerseits wieder das Verständnis des Entstehungsprozesses der hebräischen Bibeltexte erweitern: 9. The Septuagint Manuscripts from Qumran: A Reappraisal of Their Value (165-183), 10. Josephus's Biblical Text for the Books of Samuel (184-201), 11. Origen's Old Testament Text: The Transmission History of the Septuagint to the Third Century C. E. (202-223), 12. The Relevance of the Dead Sea Scrolls for Hexaplaric Studies (224-232), 13. The Old Latin Translation of the LXX and the Hebrew Scrolls from Qumran (233-274), 14. Characteristics and Limitations of the Old Latin Translation of the Septuagint (275-289).

Autoren- und Stellenindices erschließen den Band für detaillierte textkritische Studien. Bei der Textkritik ist von Buch zu Buch neu zu entscheiden, eine Erkenntnis, die sich nach U. auf die Bücher der hebräischen Bibel, auf deren griechische Übersetzungen wie auch auf die altlateinische Übersetzung der Septuaginta bezieht. Was die Sichtung des jeweils vorliegenden Materials an Textvarianten angeht, schlägt U. drei Kategorien vor: a) Abweichungen, die im weitesten Sinn die Orthographie betreffen, b) singulär abweichende Lesarten und c) "Variant Literary Editions as a Key to the History of the Biblical Text" (106). Der masoretische Text eines Buches war also nur eine Textform unter anderen, deren Pluriformität in der Zeit des zweiten Tempels durch den samaritanischen Pentateuch, die LXX, den Bibeltext im Werk des Josephus und vor allem durch die etwa 200 Bibelhandschriften, die einmal in den Qumranhöhlen deponiert waren, bezeugt wird. Im Übrigen betraf die Kanonisierung den Umfang der heiligen Schriften als solcher, nicht deren spezifische Textform (93). Merkwürdigerweise bezieht U. die Fragen, die sich durch die Tempelrolle aus Höhle 11 stellen, nicht in seine Betrachtungen ein.

Neues Licht fällt nun auch auf die Probleme um Auslassungen oder Erweiterungen in einem Text. 4Q49 (Judgesa), ein noch nicht einmal handtellergroßes Fragment der wohl ältesten Handschrift des Richterbuchs, sei als Beispiel genommen: Seit Julius Wellhausen wird der durch Petuchot als geschlossener Abschnitt ausgewiesene Text Jdc 6,7-10 als sekundäre Einfügung beurteilt, "introduced by a resumptive clause (repeating Judges 6:6), such as many secondary additions are introduced", wobei ebendiese Wiederaufnahme in einer Reihe von Textzeugen fehlt. Das Qumranfragment bezeugt nun eine Textform, in der auf 6,2-6 direkt die Verse 11-13 folgten (105). "4QSama, in contrast, provides a dramatic paragraph that is not found in any other biblical text, though it was present in the text used by Josephus" (106). Denn der Bibeltext der Samuelisbücher, aus dem Josephus schöpfte, war zwar griechisch, stand aber in der Text-Tradition, zu der auch 4Q51 (Samuela) gehört (200 f.). Diese Text-Tradition wird auch in der Vetus Latina (=L) greifbar: "L proves to be a reasonably faithful and controllable witness to the Old Greek, which in turn is not infrequently a witness superior to the Masoretic text for the ancient text of Samuel" (270).

Nach dem heutigen Stand der Textforschung müssen die einzelnen Bücher der LXX als im Allgemeinen zuverlässige Übersetzungen hebräischer Vorlagen betrachtet werden, die zwar von der masoretischen Textform abweichen, aber durch die Qumranfunde zumindest fragmentarisch als Repräsentanten alternativer Textformen bezeugt sind (101 f.). In dieses Gesamtbild passen auch die acht "Septuagint or Septuagint-related manuscripts found at Qumran" sowie die griechische Zwölfprophetenrolle von Nah.al H.ever (8H.evXIIgr), die alle seit einem Jahrzehnt ediert vorliegen (165 f., 176). Auf Grund detaillierter Analysen der Varianten in 4Q119 (LXXLeviticusa) und 4Q121 (LXXNumbers) konkludiert der Vf. einerseits, "that there was a wide variety of Hebrew texts available and in use when the OG (sc. Old Greek) translation of the various books was made and for several centuries during the early transmission of the OG" (179). Andererseits dürften beide untersuchten Handschriften die jeweils besseren Zeugen für die alte griechische Bibelübersetzung sein, während der Text der Göttinger Septuaginta-Ausgabe schon Spuren von Überarbeitung aufweist, die eine Anpassung an die masoretische oder protomasoretische Textform zum Ziel hatte (183).