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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1225–1227

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Steiger, Johann Anselm

Titel/Untertitel:

Johann Gerhard (1582-1637): Studien zu Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1997. 333 S., 17 Abb. 8 = Doctrina et Pietas, 1. Lw. DM 127.-. ISBN 3-7728-1822-6.

Rezensent:

Martin H. Jung

Es ist außergewöhnlich, daß ein Herausgeber eine neue wissenschaftliche Reihe mit einem eigenen Werk eröffnet. Noch außergewöhnlicher ist es, eine Reihe mit einer Sammlung von teilweise bereits gedruckten Arbeiten zu beginnen, die vom Vf. selbst als "Vorarbeiten" charakterisiert werden (15). Der Heidelberger Privatdozent für Kirchengeschichte J. A. Steiger (geb. 1967), der seit 1995 eine inzwischen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte "Johann Gerhard-Forschungsstelle" betreibt, hat auf diese exzeptionelle Weise den Startschuß gegeben für die Reihe "Doctrina et Pietas - Zwischen Reformation und Aufklärung", die "Texte und Untersuchungen" zur altprotestantischen Orthodoxie bieten soll.

Das Buch enthält fünf Studien, von denen zwei bereits vollständig und eine auszugsweise in der Fachliteratur veröffentlicht wurden. Die erste, längste (141 S.) und von allen gewichtigste erörtert "Seelsorge, Frömmigkeit, Mystik, Lehre und Trost bei Johann Gerhard" (vgl. ZKG 106, 1995). Daneben werden drei Texteditionen mit Kommentar geboten. Es handelt sich um das Testament und das darin enthaltene Glaubensbekenntnis Gerhards aus dem Jahre 1603, als der 21jährige dachte, er müsse sterben (vgl. ARG 87, 1996), und um zwei Briefe, gerichtet an die reformierte Fürstin Christina von Eisenach und an trauernde Eltern. Die fünfte und letzte "Studie" ist eine vorläufige Projektskizze zur geplanten Edition der "Meditationes Sacrae" (vgl. Chloe 27, 1997), auf deren erneuten Abdruck besser verzichtet worden wäre.

St. geht aus von den Defiziten bei der Erforschung der Orthodoxie. Er hat recht, wenn er sagt, daß es auf diesem Feld noch viel zu tun gibt. Doch für welchen Bereich der neueren Kirchengeschichte - abgesehen von Luther und dem Kirchenkampf- gilt dies nicht? St. vereinfacht den Sachverhalt, wenn er, um die Bedeutung seiner Bemühungen herauszustellen, pauschal vom "Desinteresse" der Theologie "an dieser Epoche" redet (11) und den Eindruck erweckt, als würde nun erst mit der Erforschung der Orthodoxie begonnen (vgl. 12: "Das wird mit dieser Reihe nun anders"). Das Jahrbuch "Pietismus und Neuzeit" hat seit 1974 wichtige Beiträge zur Erhellung der Epoche geleistet, und seit 1994 finden in Wittenberg jährlich Symposien zur Erforschung der lutherischen Orthodoxie statt. St. verzeichnet die Wirklichkeit, wenn er behauptet, immer noch herrsche ein "Zerrbild" der Orthodoxie als "erstarrter und doktrinaristischer Erscheinung" (12, vgl. 22, 155, 295). Diese einst vom Pietismus geschaffene Sicht ist längst aus den wissenschaftlichen Veröffentlichungen, aus Lehrbüchern und Vorlesungen verschwunden.

St. verfolgt das Anliegen, bei Gerhard Theologie und Frömmigkeit im Zusammenhang zu betrachten, und führt das insbesondere am Beispiel der Seelsorgetheorie und -praxis durch. Zu Recht kritisiert er, daß die Orthodoxie vor allem unter theologiegeschichtlichen Aspekten gewürdigt und die Erbauungsliteratur als Randerscheinung angesehen wurde. Beides gehört, wie er eindringlich darlegt, zusammen: Die Theologie der Orthodoxen zielte auf die Applicatio (vgl. 37).

Die einseitige und damit falsche Sicht beginnt aber meines Erachtens bereits beim Studium der Reformationszeit. Schon Luther und Melanchthon wird aus einem systematisch-theologischen Blickwinkel begegnet, der die Frömmigkeit ausblendet. Anzumahnen wäre mithin - Sts. Anliegen aufnehmend und weiterführend - eine verstärkte frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchung des 16. Jh.s als Grundlage für die Erforschung orthodoxer und pietistischer Theologie und Spiritualität. St. ist zuzustimmen, wenn er die Ansicht zurückweist, am Ende des 16. Jh.s seien Theologie und Frömmigkeit auseinandergefallen und eine "Frömmigkeitskrise" (W. Zeller) eingetreten (26 f., 93).

Zu warnen ist freilich vor einer neuen Blickverengung bei der Betrachtung der Orthodoxie, einer einseitigen Konzentration auf Gerhard. Ist es wirklich angemessen, ihm den Titel "Kirchenvater" zu verleihen, wie es St.- schon seit längerem - tut? War er wirklich die prägende Gestalt des Jahrhunderts? St. spart bei der Charakterisierung Gerhards nicht mit Superlativen und nennt ihn den "bedeutendsten Theologen der nachreformatorischen Zeit und der Barockzeit" (296, vgl. auch 225, 229). Doch manches, was er an Gerhards Werk hervorhebt, z. B. daß in den Loci nach dem Usus practicus der Lehre gefragt wird (33), war nicht originell. Lange vor Gerhard hat ein Tübinger, Matthias Hafenreffer, diese Frage gestellt und sie sogar zum Strukturprinzip seiner "Loci theologici" (1600) gemacht.

Im ganzen Buch stößt der Leser auf eine scharfe Polemik gegen die "heutigen Seelsorgetheoretiker" (218), aber auch gegen Homiletik (125) und Religionspädagogik (218) der Gegenwart. Steiger wirft den Poimenikern "Psychotherapeutisierung", "Theologie-Phobie", "Entdogmatisierung" und "Entbiblisierung" vor (119, 231). Genannt werden D. Stollberg (231) und J. Scharfenberg (46) mit Werken von 1971 (31975) und 1972 (41987). Hier vergreift sich der Autor im Stil, verzeichnet die Realität in den Hochschulen, Pfarrseminaren und Gemeinden und überschreitet seine Kompetenz. Außerdem sind die gegenwartsbezogenen Diskurse in wissenschaftlichen Beiträgen zur Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des 17. Jh.s deplaziert.

Abgesehen davon sind die Studien glänzend geschrieben, angenehm, ja spannend zu lesen und enthalten eine Fülle von Informationen, Anregungen und Anfragen. Das Buch ist sorgfältig gestaltet und mit Namen- und Bibelstellenregistern ausgestattet. - Man darf gespannt sein auf weitere Beiträge zur Gerhard-Forschung aus Steigers Feder. Eine Übersicht am Schluß des Buches informiert über elf bereits geplante Bände von "Doctrina et Pietas". Der rührige Forscher und emsige Schreiber dürfte schon bald die Orthodoxieforschung um neue, wichtige Beiträge bereichern. Schon jetzt heißt der Wissenschaftler, der in dem rezensierten Buch mit Abstand am häufigsten zitiert wird (s. 325), J. A. Steiger.