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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1224 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kramer-Mills, Hartmut

Titel/Untertitel:

Wilhelminische Moderne und das fremde Christentum. Zur Wirkungsgeschichte von Friedrich Naumanns "Briefe über Religion".

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997. X, 246 S. gr.8 = Neukirchener theologische Dissertationen und Habilitationen, 18. Kart. DM 88,-. ISBN 3-7887-1652-5.

Rezensent:

Kurt Nowak

Der Vf. dieser Greifswalder Dissertation - Doktorvater war Martin Onnasch - beschäftigt sich mit dem Inhalt und der zeitgenössischen Wirkung von Friedrich Naumanns "Briefen über Religion" (1903). Die Schrift war nicht so erfolgreich wie Harnacks "Das Wesen des Christentums" (65.000 Exemplare von 1900-1915) und erst recht nicht wie Ernst Haeckels monistischer Bestseller "Die Welträtsel" (300.000 Exemplare von 1899-1914). Dennoch verkaufte der Verlag bis ins Kriegsjahr 1917 nicht weniger als 19.000 Exemplare. Naumann entwickelte in den "Briefen" eine undogmatische, psychologische Jesusfrömmigkeit. Der Glaube sei eine "innerliche Seelenfrage". In sozialethischer Hinsicht lehnte der zum Sozialpionier, Publizisten und Politiker gewordene einstige Geistliche die Begründung von Kulturwerten aus der Botschaft des Evangeliums ab.

Naumanns "Briefe" fanden ein reichhaltiges Echo in allen theologisch-kirchlichen Lagern des kaiserzeitlichen Protestantismus. Zu den prominenten Rezensenten zählten Wilhelm Herrmann, Adolf von Harnack, Otto Baumgarten, Rudolf Otto, Ernst Troeltsch und Arthur Titius. In welchem Umfang die Katholiken reagierten, wird nicht recht deutlich. Der Vf. beschränkt sich im wesentlichen auf eine Rezension in der "Augsburger Postzeitung", dem "älteste(n) katholische(n) Blatt". 1686 gegründet, lag die Auflage um 1900 bei etwa 10.000 Exemplaren (118-122). Undeutlich bleibt auch, ob und wie das Judentum auf das Erscheinen der "Briefe" reagierte, ganz zu schweigen von den postchristlichen Weltanschauungskreisen des Kaiserreichs. Ein Ausblick widmet sich der Wirkungsgeschichte der "Briefe" bis zum Zweiten Weltkrieg. In diesem Abschnitt wird neben Gustav Frenssen und Dietrich Bonhoeffer nun doch noch ein Repräsentant des (liberalen) Judentums behandelt, Leo Baeck. Nach Baecks Urteil waren die "Briefe" das jüngste Beispiel einer "romantischen Religion", welche die überlieferte Beziehung zwischen Christentum und Kultur zerbrach und in der Verweltlichung endete (192-201).

Man darf die vom Vf. ausgebreiteten Materialien mit Dank entgegennehmen. Gleichwohl sind die Grenzen der Studie schmerzlich fühlbar. Für höchst unglücklich hält der Rez. die Deutung der "Briefe" als Motor der vom Vf. so genannten "inneren Säkularisation": eines Prozesses der Auflösung und Zersetzung der "kirchlichen Tradition" (9 u. ö.). Wie qualifiziert sich der historisch und soziologisch so stark umstrittene Begriff "Säkularisation", zumal in der Fassung "innere Säkularisation", was meint der Begriff "kirchliche Tradition"? Der Vf. bezieht zwei unscharfe Kategorien aufeinander. Das scheint der Grund zu sein, weshalb seine Untersuchung zu allenfalls scheinplausiblen Ergebnissen führt. Mit seinem problematischen Kategoriensystem verstellt sich der Vf. m. E. den Blick für die schwierigen Begründungsprobleme der Religion, der politischen Ethik und der Sozialethik im Deutschen Kaiserreich. Jener Vorgang, der gemeinhin als Umformungskrise des Christentums in der Moderne beschrieben wird, liegt nicht in seinem hermeneutischen Horizont. Deutlich polemischen Charakter trägt die These, Naumann Ansatz ende in Gustav Frenssens "Glaube der Nordmark" (180-192).

Nebenher sei angemerkt, daß der Vf. Naumanns sozialdarwinistisches Gedankengut zugunsten seiner Irrwegsthese überlichtet und demgegenüber den Beitrag dieses auch in seinen Grenzen großen Mannes zum politischen Liberalismus im Dunkel der Geschichte versinken läßt.