Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

687–690

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ziebertz, Hans-Georg

Titel/Untertitel:

Religion, Christentum und Moderne. Veränderte Religionspräsenz als Herausforderung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 1999. 238 S. gr.8. Kart. DM 39,70. ISBN 3-17-015579-2.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Die Untersuchung von Hans-Georg Ziebertz ist geprägt durch seinen Wechsel von Lehrstühlen für Praktische Theologie, die er in den Niederlanden innehatte, auf den Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg. Entsprechend enthält das Werk viele Beispiele und Bezüge auf empirische Untersuchungen, die die Situation in den Niederlanden wiedergeben. Durch den Vergleich mit den Verhältnissen in Deutschland werden interessante Ergebnisse herausgearbeitet.

Das Buch gliedert sich in zwei Hauptteile: Im Teil 1 werden theoretische und programmatische Reflexionen zum Thema Religion, Christentum und Moderne angestellt und der Teil 2 setzt diese überlegungen in empirische Analysen zu Fragen der Kirchenumwelt, Leitung und Sendung der Kirche um. Z.s Grundanliegen besteht darin, die veränderte Präsenz von Religion in der Moderne nicht als Restriktion für kirchliche Praxis, sondern als Chance zu begreifen. Mehrfach wiederholt der Autor seine These, dass die Umwelt der Kirche einen Möglichkeitsraum für ihre Praxis bietet und es deswegen keinen Grund gibt, sich in eine Wagenburg zurückzuziehen, wo man meint, Christentum und Religiosität nur verteidigen zu müssen. Die Moderne gebiert in vieler Hinsicht neue Religionsformen und -bedarf und kirchliche Praxis hat deswegen nach wie vor große Chancen. Die Moderne ist deswegen kein Schicksal, sondern Aufgabe. Insofern liegt hier ein optimistisches Buch vor, obgleich auch an vielen Punkten auf Brechungen hingewiesen wird, die die These von der veränderten Religionspräsenz erst glaubwürdig machen.

Der erste Teil über Religion, Christentum und Moderne enthält zunächst überlegungen zu den Grundlagen der Praktischen Theologie als einer Wissenschaft, die die Krise von Religion und Kirche in der Moderne bearbeitet. Es folgen überlegungen zu Religion in der Familie, über religiöse Bildung in der Postmoderne und über die Verpflichtung zum Helfen, d. h. das caritative bzw. diakonische Engagement von Christen. Einiges sei aus diesem Teil herausgegriffen: So zeigt Z., dass sich die Vorstellung, das Verhältnis von Religion und Moderne über den Begriff der Diskontinuität plausibel zu machen, wie es in vielen Arbeiten der Theologie passiert, als nicht stichhaltig erweist. Es gebe nicht nur eine Abkehr von bestimmten Religionsformen und -anbietern, sondern eine Umformung des religiösen Feldes insgesamt. Er diskutiert in diesem Zusammenhang Fragen der funktionalen Differenzierung und Individualisierung der Gesellschaft. Religiöse Produktivität blüht an den Bruchstellen der Moderne, dort, wo sie Aporien aufweist und wo deswegen nach dem Sinn des Ganzen gefragt wird. Die Moderne sei dadurch gekennzeichnet, dass sie die Kontingenz des Erlebens gegenüber traditionalen Gesellschaften erhöht und insofern auch den Religionsbedarf steigert. Insofern sei es sinnlos, heute von einer Krise der Moderne zu sprechen. Sie produziere vielmehr als ihre Verlaufsform die Krise und somit auch immer wieder Religion.

Für die Kirche und andere Organisationen bedeute dies, dass Differenz die Zugehörigkeiten prägen. Kein einheitliches Sinnprinzip sei in der Lage, Identifikationen im Sinne von Vollbindungen herbeizuführen. Die Mitarbeiter der Kirche sind deswegen darauf angewiesen, Kompetenzen zu entwickeln, die zwischen innen und außen, zwischen christlichen Traditionsbeständen, individualisierten Religionsstilen und allgemeinen Mustern von Kulturreligiosität oszillieren und Zusammenhänge herstellen. Spricht man demgegenüber jedoch von einer Entropie des Christentums, so wären eher besondere Aktivitäten zur Aufrechterhaltung der kulturellen Plausibilität christlicher Sinngehalte in abgegrenzten Sozialformen vonnöten. Dass dies jedoch der einzige Ausweg wäre, weist der Autor zurück.

Diese These wird auch im Durchgang über Religion in der Familie durchbuchstabiert. Zwar ist von einem Rückgang expliziter religiöser Erziehung in der Familie zu sprechen, nicht jedoch von Anlässen, bei denen Religion auch in der Familie zum Thema wird. Auch hier verlagert sich Religion und wird in keiner Weise überflüssig. Die Differenz besteht z. B. darin, dass heutige Eltern gegenüber reglementierenden Interventionen stärker die Selbstbestimmung der Kinder fördern und herausfordern. Und Religion muss dementsprechend eingebracht werden. Sie bleibt in den meisten Fällen als Horizont erhalten, an den Rändern der Alltagswelt präsent. Die Kirche wird auch nach wie vor stark für familienbezogene Aktivitäten nachgefragt. Oft sei der religiöse Horizont im Lebensalltag der Familie nur diffus präsent. Damit er zum Sprechen gebracht werden kann, sind Erwachsene im hohen Maß gefordert und die kommunikative Kompetenz der Kirche ebenso.

Bei der Frage nach dem Schicksal der Bildung vertritt der Autor ähnliche Thesen. Die postmoderne Verfassung von Pluralität geht einem Bildungsverständnis an die Wurzeln, das meint, stabile Identitäten im Sinne von "closed shops" konstruieren zu können. Sie erschwert ein Denken in abgeschlossenen kulturellen und religiösen Säulen. Pluralismus ist der Ausgangspunkt religionspädagogischer Bemühungen und nicht nur ihre Randbedingung. Aber Pluralismus bedeutet nicht Relativierung des christlichen Glaubens im Sinne der Einnahme eines Standpunktes oberhalb der Religionen, sondern Grundlegung des religiösen Lernens vom kommunikativen Handeln her, das selbst als Christliches identifizierbar ist.

Der zweite Teil mit empirischen Analysen über Kirchenumwelt, Leitung und Sendung der Kirche bringt die theoretisch entwickelten Gedanken mit erfahrungsbezogenen Studien im Zusammenhang. Dabei wird zunächst nach der Wahrnehmung ihrer Umwelt durch die Kirche gefragt. Grundlage ist dabei ein systemtheoretisches Konzept, das die Konstruktionen von Umwelt den Konstrukteuren selbst zurechnet und davon Abstand nimmt, eine quasi objektive Realität zu hypostasieren. Als Ergebnis kann man festhalten, dass in der Kirche der Zusammenbruch der konfessionellen Milieus als prägende Lebensumwelten zu einem gewaltigen Komplexitätszuwachs geführt hat. Die Kirche wird als kontingent erfahren, als nicht determiniert und sie ist somit offen für Experimente und Veränderungen aller Art. Der Vergleich Niederlande/Deutschland macht deutlich, dass diese Erfahrung für die Niederländer sehr viel drastischer ausfällt als für die Deutschen. Gleichwohl ist beiden Seiten eigen, dass die Umwelt nicht besonders positiv ins Bild kommt, wenn vom Nutzen für die kirchlich-christliche Religion aus gedacht wird. Dass es also ein insgesamt optimistisches Bild der Umwelt und ihre Möglichkeiten für die Kirche in der Kirche gebe, ist nicht der Fall.

Ein zweiter Teil fragt dann nach Stilen der Kirchenleitung und arbeitet heraus, dass sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland charismatische oder legale Legitimation von Leitung befürwortet wird und zum anderen ein konsultativer und partizipativer Leitungsstil. In beiden Fällen unterscheiden sich deutsche und niederländische Befragte jedoch erheblich voneinander. Deutsche Befragte sprechen sich interessanterweise an erster Stelle für eine charismatische Begründung von Leitung und einen konsultativen Leitungsstil aus, während die Niederländer eher auf die legale Legitimation von Leitung und einen partizipativen Stil abheben. Für die Deutschen ist das Charisma der Person, des oder der Pastorin, entscheidend und dies soll auch nicht funktionalistisch verflacht werden. In diesem Kontext bleibt auch für die Tradition ein Platz erhalten. Bei den Niederländern ist dies anders. Sie denken stärker funktionalistisch und traditionelle Argumente haben weniger Bedeutung. Klar ist jedoch in jedem Fall, dass demokratische Leitungskonzepte befürwortet und hierarchische abgelehnt werden.

Schließlich wird nach der Sendung der Kirche gefragt und zwar in der Form, dass verschiedene Gemeindemodelle unterschieden und nach Präferenzen gefragt wird. Dabei kommt deutlich zum Ausdruck, dass geschlossene Gemeindemodelle, die entweder basisorientiert oder hochkirchlich ausgerichtet sind, bei den Deutschen nur geringe Zustimmung erfahren. Hierzu zählt auch, dass diakonisches Handeln zu den eher nachgeordneten Tätigkeiten zählt. Die größte Zustimmung findet ein Gemeindekonzept, das der Autor als "Civic-Gemeinde" beschreibt. Diese Gemeinde besteht aus Kern-, Modal- und Randmitgliedern und bemüht sich um Offenheit für alle; sie vermeidet Extreme und strebt nach Harmonie; sie etabliert sich konform zur Gesellschaft (im Sinne positiver Werte und Tugenden); sie versucht Gutes zu tun; überspitzt nicht die normativen Erwartungen an ihre Mitglieder, hält diese aber an, in ihrem Leben Zeugen der Frohen Botschaft zu sein. Darin drückt sich die volkskirchliche Tradition in Deutschland ungebrochen aus.

Aufschlussreich ist, dass die empirischen Ergebnisse des Buches nicht bruchlos die theoretischen überlegungen des Verfassers bestätigen, sondern einen eher kritischen und "bremsenden" Kommentar zu ihnen abgeben. Dass dies so ist, spricht für die Qualität des Buches. Der Band schließt mit Empfehlungen des Autors für pastorales Handeln, das sich angesichts dieser Situation orientieren muss.

Die Untersuchung stellt eine hervorragende Zusammenfassung der gegenwärtigen Diskussionen in der Praktischen Theologie, Religionspädagogik und Religionssoziologie dar und nimmt Vieles auf, was hier diskutiert wird. Noch nicht berücksichtigt sind die Diskussionen, vor allen Dingen in der evangelischen Kirche, die sich auf eine Durchstrukturierung der Kirche als "Unternehmen" beziehen. Interessant ist der Band durch seine Vergleiche Niederlande/Deutschland, die die Wahrnehmung der Situationen in beiden Ländern schärfen.