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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

670–674

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Koslowski, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Gemeinwohl zwischen Universalismus und Partikularismus. Zur Theorie des Gemeinwohls und der Gemeinwohlwirkung von Ehescheidung, politischer Sezession und Kirchentrennung.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1999. IX, 411 S. 8 = Collegium Philosophicum, 3. Kart. DM 88,-. ISBN 3-7728-1991-5.

Rezensent:

Bernd Wannenwetsch

Der Band gibt in Form von Essays und Diskussionsberichten die Beiträge der 1995 abgehaltenen dritten Jahrestagung des Collegium Philosophicum des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover wieder. Die Thematik nimmt eine Fragestellung auf, die - angeregt durch die Diskussion um Liberalismus und Kommunitarismus in den USA - innerhalb der Sozialphilosophie und ihren angrenzenden Disziplinen seit geraumer Zeit in den Vordergrund getreten ist.

Gegenüber der genannten Diskussion und ihrer zeitweiligen Polarisierung von Gemeinwohlorientierung und Individualorientierung weisen die Beiträge eine eigene Perspektive auf. Wie P. Koslowski in der Einleitung deutlich macht, orientieren sie sich mehrheitlich an der überzeugung der katholischen Soziallehre, dass Gemeinwohlorientierung und recht verstandenes Eigeninteresse durchaus im Einklang miteinander stehen. Dem entspricht eine doppelte Aufmerksamkeit: einerseits auf die institutionellen Sicherungen des Gemeinwohls (G.) in der Gesellschaft, andererseits auf die Intentionen der Einzelnen, mit denen diese ihre Lebensoptionen auf das G. ausrichten und so zur Stabilisierung der Institutionen von innen beitragen. Dieses Zusammenwirken von gesellschaftlicher Institution und individueller Intention auf das G. wird als katholische Zielperspektive der protestantischen, "vor allem evangelisch-lutherische(n) Sozialtheorie" gegenübergestellt, wonach das G. "zur bloßen Nebenwirkung der Steuerung durch die richtigen Institutionen (wird), die sicherstellen, daß eigennützige Bestrebungen durch die sichtbare oder unsichtbare Hand der institutionellen Normen und Kontrollmechanismen in Gemeinwohlverwirklichung transformiert werden" (11 f.).

Nun weisen die verschiedenen Gemeinschafts- und Vergesellschaftungsformen kleiner und größerer Art nach Auffassung der katholischen Soziallehre ein jeweils eigenes G. auf. Demzufolge untersuchen die Beiträge im zweiten Teil des Bandes "Konkretionen des G.s" anhand der klassischen Trias der exemplarischen Sozialformen Ehe, Staat und Kirche. Dabei liegt die Besonderheit des Vorgehens darin, dass die Bedeutung des G.s in diesen Institutionen gewissermaßen via negativa, von den Erfahrungen ihres (partiellen) Zerbrechens her, aufgewiesen werden soll: anhand der Wirkungen von Ehescheidung (soziologisch: R. Nave-Herz, rechtshistorisch: W. Nörr), politischer Sezession (europäisch: E. Nolte, asiatisch: T. Shaocheng) und Kirchentrennung (evangelisch: E. Herms, katholisch: H. Döring).

Diese Beiträge enthalten eine Fülle von interessanten Zusammenhängen und Details, wobei die systematische Verzahnung mit der Frage nach dem G. allerdings unterschiedlich intensiv ausfällt. Die systematisch gesehen ertragreichsten Essays finden sich im ersten, grundsätzlich orientierten Teil des Bandes zur "Theorie des G.s".

W. Kluxen nähert sich der Thematik von einer moraltheoretischen Perspektive. Er möchte deutlich machen, dass die Theorie des G.s sowohl Reflexe einer universalistischen Normentheorie benötigt als auch die eines konkreten Ethos einer bestimmten Gemeinschaft.

Während universalistische Ethikmodelle wie das Kantische allgemeine und daher grundsätzlich negativ kodierte Regeln als Rahmenbedingungen der Ethik formulieren, bedarf die innere Füllung dieses Rahmens positiv bestimmter ethischer Gehalte, die nur als Reflexe auf konkrete Formen eines gelebten Gemeinschaftsethos bestimmbar sind. Hier tritt die Verbindlichkeit des "gesitteten Lebens" dem Einzelnen nicht als abstrakte Norm entgegen, sondern "als konkreter Anspruch der Mitmenschen" (24). Dieses Ethos muss, so Kluxen, freilich im Sinn der universalistischen Forderung transzendiert werden, wonach es gilt, auch die Ansprüche "Externer" auf Grund ihres Menschseins anzuerkennen.

Kluxens Argumentation wirft freilich die Frage auf, ob hier nicht die "transgressiven" Potentiale des gelebten Ethos - etwa des christlichen - ebenso unterschätzt werden wie die hermeneutischen Konfliktpotentiale in der Zuordnung des kantisch-universalistischen Denkens als "Rahmen" für das jeweilige Gemeinschaftsethos.

Peter Koslowski untersucht in seinem Essay am Beispiel von ökonomie (Marktwirtschaft) und Politik (Demokratie), warum die Vermittlung von G. und Eigennutz sowohl möglich als auch nötig ist. Gegenüber neoliberalen Modellen, die die Rede vom G. als ideologische Verschleierung des vermeintlich unausweichlich regierenden Eigennutzes ausgeben, sowie gegenüber solchen Modellen, welche die moralische Frage der G.-Intention lediglich im Bereich der institutionellen Justierung von Regeln und Rahmenbedingungen verorten, von den Handlungen der Akteure innerhalb dieses Rahmens aber fernhalten wollen, versucht Koslowski aufzuweisen, wie sich die Notwendigkeit der Vermittlung von G. und Eigennutz aus der Eigenart der Institutionen selbst ergibt.

Am Beispiel der Phänomene von Markt- und Demokratieversagen in bestimmten Fällen zeigt Koslowski, dass zur Erhaltung der Institutionen selbst eine Transzendierung des reinen Eigeninteresses notwendig ist, das sich damit auf einer höheren Ebene selbst erfüllt. Besonders erhellend und ökumenisch weiter auszuloten ist der Zusammenhang, den Koslowski im Anschluss an Thomas v. Aquin mit dem Begriff des "Amtes" anvisiert, der in gemeinwohlorientierter Akzentuierung aus seiner gegenwärtigen bürokratisch-funktionärshaften Konnotation befreit werden könnte. Demnach würde sich die Auffassung, dass die Verantwortungsträger in Wirtschaft und Politik dem G. verpflichtet sind, eben darin artikulieren, dass sie als Amtsträger (Mandatare) der Institutionen (also etwa ihres Betriebes oder des Staats und aller Angehörigen dieser sozialen Größen) auftreten. Die emanzipatorische Kraft des Amtsgedankens richtet sich mithin nicht nur, wie dies in der Geschichte im Vordergrund war, gegen die kriterielle Rolle der Selbstinteressen der Machtträger und ihrer Souveränität, sondern auch gegen ein heute verbreitetes moralisch indifferentes Treuhändermodell, wonach sich die Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft (Manager) als Mandatare ihrer Wählerschaft oder Shareholder verstehen. Demgegenüber wird das Verständnis einer Machtposition im Sinne des am G. orientierten Amtsgedankens sämtlichen "stakeholder" eines Betriebs bzw. allen Bürgern eines politischen Gemeinwesens verpflichtet sein und in diesem Sinn den Lebensbedingungen der Institutionen selbst.

In einem solchen Amtsbegriff liegt ein - wenn auch vom Autor selbst unerkannter - Anknüpfungspunkt der evangelischen Ethik. Denn Luthers Erneuerung der mittelalterlichen Ständelehre zielte sowohl durch die Vorstellung der elementaren Stände Oeconomia, Politia und Ecclesia als "Konkreaturen" mit den Menschen als auch durch den Akzent auf ihre Erneuerung durch das Hören auf das Wort Gottes auf eine solche interessentranszendierende Objektivität des "Amtes", vermittels derer der jeweilige "Stand" in seinem eigenen Lebensrecht und seiner eigenen Logik notfalls auch gegen die jeweiligen Ständevertreter aufgerufen werden konnte, wie dies nicht zuletzt die reformatorischen Ständepredigten verdeutlichen.

Hinter das in Koslowskis Essay erreichte analytische Problemniveau, demzufolge der G.-Gedanke gerade emanzipatorisch gegen abstrakte Souveränitätsvorstellungen gerichtet ist, scheint der Beitrag von A. Riklin zunächst zurückzufallen, wenn er sich gegen die "Verabsolutierung des G.s" wehrt, wie er sie in der Konzeption der Staatsräson bei Machiavelli oder in der Ideologie der "Volkssouveränität" gegeben sieht. Sein Eintreten für eine "politische Ethik des Maßes, der Mischung und der Mitte" aus personen-, institutionen- und erfolgsorientierten Ansätzen kommt im Ergebnis freilich der in den anderen Beiträgen befürworteten Optionen wieder nahe.

M. Kaufmann untersucht den Bezug des neuzeitlichen Gedankens individueller Rechte auf das G. und kommt zu dem Ergebnis, dass die von Kritikern des Liberalismus diagnostizierte Spannung im Blick auf subjektive Rechtsansprüche tatsächlich immer wieder nachweisbar ist, die allgemeinen Menschenrechte hingegen geradezu als Ausdruck der Sorge um das G. aufgefasst werden können.

Dies untermauert Kaufmann mit der historischen Herleitung des Gedankens aus kirchenrechtlichen Bestimmungen des 12. Jh.s, die eine eigene Tradition des Menschenrechtsdenkens vor dessen Heraufkunft in der Neuzeit darstellt, die im Unterschied zu dieser nicht mit besitzbürgerlichen Legitimationsinteressen aufgeladen war. Die Dekretalisten des kanonischen Rechts postulierten bereits zu ihrer Zeit einen natürlichen Anspruch jedes Menschen auf bestimmte Versorgungs- und Freiheitsgüter, die notfalls auch durch die Intervention des Bischofs für die Bedürftigen im Sinne eines kirchenrechtlichen - also mindestens moralischen - Anspruchs unter Exkommunikationsdrohung von widerwilligen Reichen abgetrotzt werden konnten. Wie Kaufmann weiter zeigt, wurde der Begriff des G.s im weiteren Fortgang der Geschichte insbesondere durch die Einflüsse des neuzeitlichen Kontraktarianismus und der liberalen Nationalökonomie marginalisiert, weil die Vorstellung, dass die Sorge um das G. nun immer schon an den "Souverän" (des Staates bzw. des Marktes) delegiert ist, die Frage nach den moralischen Subjekten der G.-Orientierung zu erübrigen schien.

Die nachfolgenden Beiträge von W. Hirsch, H. Bürkle und H. M. Emrich akzentuieren die Problemstellung in pluralismustheoretischer, religionswissenschaftlicher und entwicklungspsychologischer Hinsicht. Aus theologischer Perspektive ist insbesondere Bürkles Beitrag interessant, weil er zeigt, wie sich über die funktionale Frage der "gesellschaftlichen Wirkung" der Religion ein "missionarischer Gegenverkehr" zum christlichen Glauben gebildet hat, demzufolge (insbesondere östliche) Religionen, die ursprünglich gar nicht an ihrer gesellschaftlichen Wirkung interessiert waren, über die Adaption von universalistischen Versatzstücken der christlichen Ethik sich nun selbst als "ethische Religionen" mit gesellschaftlich universalem Heilsanspruch präsentieren.

Insgesamt weisen die Beiträge eine klare Orientierung an der- in sich durchaus differenzierten - Hermeneutik der katholischen Soziallehre auf, was bei der institutionellen Verankerung des Collegium Philosophicum wenig überrascht. Eine gewisse Beschränkung des Fragehorizontes geht damit freilich auch einher: Die Frage nach dem G. ist mit einer durchgängigen intentionalistischen Fokussierung versehen und fasst dementsprechend insbesondere diejenigen Institutionen und individuellen Intentionen in den Blick, die sich als explizit auf das G. ausgerichtet verstehen lassen. In diesem Horizont werden freilich wichtige ethische Traditionen und Handlungsorientierungen abgeschattet, die sich zwar nicht intentional über einen G.-Gedanken bilden noch artikulieren, gleichwohl aber faktisch dem G. dienen. Dies dürfte für die biblische Ethik insgesamt gelten (deren G.-Bezug von den Apologeten der ersten Jahrhunderte darum erst sekundär gegen entsprechende Defizitanzeigen heidnischer Autoren aufgewiesen werden musste, und weiterhin für alle jene ethischen Ansätze, die weniger einen (gemeinwohlorientierten) Habitus ins Zentrum stellen als vielmehr ein je neues Berufungsgeschehen zur Nächstenschaft, wie dies für die Ethik der Reformatoren oder neuerdings für die Philosophie der Alterität bei E. Levinas kennzeichnend ist.

Die faktische Bedeutung dieser Traditionen für das Thema liegt m. E. gerade darin, dass die G.-Orientierung sich nicht als Ableitungsgröße einer vorherigen Bestimmung des G.s ergibt, sondern als "Berufungsoffenheit" dem G. auf eine explorative Weise dient. In dieser Haltung, wonach das G. immer wieder im Zuge des "Erscheinens des Antlitz des Anderen" (Levinas) bzw. des Anrufs durch die Not des Nächsten (Luther) erst herausgefunden werden muss, liegt zugleich eine prinzipiell kritische Wendung gegen eingeschliffene oder ideologisch instrumentalisierte G.-Vorstellungen.

Die Abschattung dieser Traditionslinien bewirkt, dass in den Beiträgen des Bandes die Wahrnehmung der "evangelisch-lutherischen" Ethik, dort wo sie als eigene Tradition aufgerufen wird, einer historischen Trübung unterliegt. Sie kommt - etwa in Koslowskis Charakterisierung (11 f.) - lediglich als Ausfluss einer pessimistischen Anthropologie in den Blick, die das G. als "bloße Nebenwirkung" des sündenhemmenden Effekts der Institutionen erwartet. Indem Luther gewissermaßen durch die Brille von Adam Smith gelesen wird, kommt der springende Punkt der reformatorischen Ständelehre, die Permeabilität der Institutionen auf das Evangelium und ihre damit angebahnte Erneuerung, nicht zur Geltung. So bleibt die Alternative unsichtbar, welche die reformatorische Ethik als dritten Weg neben der naturrechtlichen Hypostatisierung des G.s und der Institutionenhörigkeit einer historischen Verfallsform protestantischer Ethik anbietet.

Diese Alternative wird allerdings auch von der einzigen theologische Stimme aus dem protestantischen Lager nicht hörbar gemacht. Der Beitrag von E. Herms bemüht sich vielmehr um den Nachweis, warum die Aufrechterhaltung konfessioneller Differenz grundsätzlich dem G. dient, als darum, aufzuzeigen, warum die spezifisch reformatorische G.-Perspektive einer eigenen Pflege wert ist. Diese hängt m. E. freilich an der zentralen Rolle des Wortes und des Hörens, welche die von Herms bemühte neuprotestantische Dialektik von (unfehlbarem) "Glauben" als erleuchteter "Vision" (342, 350) auf der einen Seite und der "Lehre" als perspektivisch relativierte Reflexionsgestalt desselben (345) ohnehin schwer in den Blick bekommen dürfte.

Die besondere Bedeutung der Kirche für das G. dürfte nach evangelischer Auffassung doch wohl darin liegen, dass sie diejenige Institution ist, die als "creatura verbi" den Akt des Hörens zum Konstituens hat und insofern als Inbegriff der "lernenden Institution" gelten kann.

Der katholische, von H. Döring verfasste Beitrag zur G.-Wohlbedeutung der Kirche peilt diesen Aspekt im Rahmen einer Interpretation der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils unter dem Stichwort "sakramentales Zeichen" immerhin an. Ob freilich die Aufnahme der wissenssoziologischen Vorstellung der "Plausibilisierungsstruktur" als Interpretament der Kirche weiterführt, kann mit der im Diskussionsteil notierten Anfrage von Robert Spaemann bezweifelt werden. Nicht zuletzt durch die Beiträge Spaemanns sind auch die in Symposiumsbänden oftmals eher irritierenden Diskussionsberichte durchaus lesenswert und erkenntnisförderlich. Ein eigener Beitrag aus seiner Feder hätte dem empfehlenswerten Band wohl noch eine besondere Note verschafft.