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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1221–1224

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ernst, Karsten

Titel/Untertitel:

Auferstehungsmorgen: Heinrich A. Chr. Hävernick. Erweckung zwischen Reformation, Reaktion und Revolution.

Verlag:

Gießen-Basel: Brunnen 1997. XII, 487 S. 8 = TVG: Monographien und Studienbücher. Kart. DM 59,-. ISBN 3-7655-9420-2.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

August Tholuck faßt die große Erwartung der Erweckten in den zwanziger Jahren des 19. Jh.s charakteristisch zusammen. Er läßt den Baron von Kottwitz sagen: "... es bricht ein großer Auferstehungsmorgen an. Hunderte von Jünglingen werden an allen Orten durch den Geist Gottes geweckt. In allen Orten treten die Bekehrten in genauere Verbindungen. Selbst die Wissenschaft wird Dienerin und Freundin des Gekreuzigten. Auch die Obrigkeit, wiewohl zum Theil noch feindselig dieser großen Umwandlung aus Furcht, daß sie politische Einwirkungen erzeugen möchte, begünstigt an vielen Orten, und wo sie es nicht thut, wird die Streitkraft des Lichtes desto gewaltiger. So manche erleuchtete Prediger verkünden schon jetzt das Evangelium in seiner Kraft." (Die Lehre von der Sünde, Gotha 91871, 137)

Aus diesem Zitat stammt der Titel dieser neuen Untersuchung zur Erweckungsbewegung, eine Tübinger Dissertation bei S. Raeder, die dem früh verstorbenen Alttestamentler Heinrich Andreas Christoph Hävernick gewidmet ist. Als Freund und Schüler Hengstenbergs galt Hävernick als Vertreter einer Repristinationstheologie. Der auch im 19. Jh. schon fast ganz vergessene Hävernick fand nur im "Zeitblatt für die evangelisch-lutherische Kirche Mecklenburgs" und in Ludwig Diestels Werk "Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche" (Jena 1869) eine wohlwollende Erwähnung. In der RGG, 1. und 2. Auflage, erhielt Hävernick einen kurzen Artikel. Der Vf. stellt in der Einleitung die grundsätzliche Frage, "welchen Sinn es hat, sich mit einem Alttestamentler zu beschäftigen, der für die weitere wissenschaftliche Forschung ohne Bedeutung war. Für Hävernick ist die Erweckungsbewegung, die er kräftig mitgestaltet hat, bis in den Bereich des Politischen, zum Schicksal geworden. Daher lag es nahe, nicht das exegetische Werk, sondern die Beziehungen seines Wirkens zur Erweckungsbewegung zu erforschen. Der Untertitel ,Erweckung zwischen Reformation, Reaktion und Revolution’ macht deutlich, daß der Horizont dieser Arbeit weit über das Biographische im engeren Sinne hinausreicht."

Die Stationen des kurzen Lebensweges Hävernicks, der schon mit 34 Jahren starb, bilden nur den äußeren Rahmen für eine recht umfangreiche Schilderung der heftigen Gegensätze zwischen den theologischen Richtungen und kirchlichen Parteien in der Zeit des Vormärz.

In einem ersten Teil, mit "Historische Einführung" umschrieben, gibt der Vf. einen Überblick über die Erforschung der Erweckungsbewegung des 19. Jh.s. Zunächst wird der Begriff der "Erweckung" ("Revival") näher zu bestimmen versucht, indem verschiedene Konzeptionen der deutschen Erforschung der Erweckungsbewegung der letzten Zeit dargestellt und kritisch gewürdigt werden. Ausführlicher wird dann auf die "Idee einer Erweckung" in den angelsächsischen Ländern und in Deutschland eingegangen. Eine stärkere Berücksichtigung der angelsächsischen "Theology of Revival" scheint dem Vf. notwendig, "weil sie im wesentlichen die deutsche Erweckungsbewegung geprägt hat" und "sie von der deutschen Forschung fast völlig vernachlässigt worden ist" (XI).

Der Ausdruck "Erweckungsbewegung" setzte sich erst seit Beginn des 20. Jh.s allmählich in der wissenschaftlichen Literatur durch. Zunächst sprach man vom "Pietismus" oder vom "Pietismus im 19. Jahrhundert". Verschiedene geistliche Aufbrüche in zeitlicher oder lokaler Hinsicht faßte man unter dem Begriff "Erweckungen" zusammen. Inmitten der sehr unterschiedlichen theologie- und kirchengeschichtlichen Einordnungen der Erweckungsbewegung unterscheidet der Vf. im wesentlichen vier Konzeptionen:

a) Die Erweckungsbewegung bezeichnet Erneuerungsbewegungen innerhalb der Kirchengeschichte.

b) In den letzten dreihundert Jahren gab es fünf große Erweckungswellen.

c) Die Erweckungsbewegung ist eine kritische, antiaufklärerische Erneuerungsbewegung innerhalb des Protestantismus.

d) In kritischer Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung versuchen Ulrich Gäbler und Peter van Rooden neue Perspektiven zur Erforschung der Erweckungsbewegung aufzuzeigen (5).

Während in Deutschland vor allem die Wirkung der Erweckungsbewegung auf die Theologie unter dem Stichwort "Erweckungstheologie" in ihren verschiedenen Ausprägungsformen untersucht wurde, geht die angelsächsische Forschung mehr von der Fragestellung aus, was die Vertreter der Erweckungsbewegung über Ursache, Wesen und Gestalt einer Erweckung gelehrt haben (34 f.). Der zweite Teil des forschungsgeschichtlichen Überblickes widmet sich der angelsächsischen Idee einer Erweckung und zeigt besonders das puritanische Erbe auf.

Der umfangreiche zweite Teil der Untersuchung von Karsten Ernst setzt mit knappen biographischen Angaben zu Hävernick ein, um sodann anhand seiner Studienorte ausführlich auf die Erweckungsbewegung in Berlin und in Halle einzugehen. Der im mecklenburgischen Kröpelin am 29.12.1810 geborene Hävernick besuchte das Gymnasium Fridericianum in Schwerin und studierte Theologie von 1827-1832 in Leipzig, Halle und Berlin. In Halle trat er in besonders engen Kontakt zu August Gottreu Tholuck, und in Berlin wurde er enger Freund und Mitarbeiter von Ernst Wilhelm Hengstenberg.

Nach einer knappen Vorstellung der wichtigsten Persönlichkeiten der Berliner Erweckungsbewegung, schildert E. den Kampf der Berliner Erweckten gegen den Rationalismus an der Theologischen Fakultät in Halle. Vor allem durch Tholucks Berufung nach Halle 1826 wurde aus der "Mördergrube" und dem "Sitz des Unglaubens" langsam aber sicher ein Hort der Erweckungsbewegung. Zuvor aber mußten die tiefen Gegensätze im sog. hallischen Streit aufeinanderstoßen. Ludwig von Gerlach schrieb in der Evangelischen Kirchenzeitung einen scharfen Artikel gegen Gesenius und Wegscheider, womit der literarische Kampf eröffnet war. Durch eine Karikatur wurde auch Hävernick in diesen Streit hineingezogen, da die falsche Behauptung aufkam, Hävernick habe seine Kolleghefte für die Denunziation von Gesenius zur Verfügung gestellt. Der schon vielfach dargestellte hallische Streit wird oft nur als Auseinandersetzung zwischen Hengstenberg und den Rationalisten Wegscheider und Gesenius beurteilt. Die grundsätzliche Bedeutung dieses Streites erörtert E. anhand der Begriffe "Evangelisch, Partei, Rationalismus und Bekenntnis" (103-165). Dabei grenzt er sich von einigen verbreiteten Forschungsperspektiven ab, wie z. B. von der These, daß die frühe Erweckungsbewegung im Unterschied zum späteren, aus ihr hervorgegangenen Konfessionalismus gegenüber theologischen Lehrunterschieden indifferent gewesen sei.

"Trotz aller konfessionellen Weite, die die Grenzen zwischen den protestantischen Kirchen, wie sie vor allem in der Orthodoxie gezogen worden waren, verwischte, war die Erweckungsbewegung von Anfang an orthodox in ihrer Lehrauffassung und exklusiv gegenüber anderen modernen kirchlichen und theologischen Strömungen ... die Erweckten hofften auf eine Vereinigung der Gläubigen aus den Kirchen, nicht auf eine Vereinigung der Kirchen. Die Erweckungsbewegung zeigt in der Überwindung der Konfessionsgrenzen weniger ihre ökumenische Weite als vielmehr ihre Exklusivität" (133 f.). Waren die Erweckten sich auch im Ziel der Überwindung des Rationalismus einig, so unterschieden sie sich doch in der Art und Weise, wie dieser zu bekämpfen sei. Bei Hengstenberg, Tholuck und Guericke sieht der Vf. je eigene Akzente in der Beurteilung über Ursprung, Wesen und Folgen des Rationalismus. Der Studienaufenthalt Hävernicks in Berlin (1830-1832) dient vor allem zu einer Darstellung seines Lehrers Hengstenberg als Exeget und als Konfessionalist und Gegner der Union.

Die drei Stationen des kurzen Wirkens von Hävernick in Genf (1832-1834), in Rostock (1834-1841) und in Königsberg (1841-1845) bilden den äußeren Rahmen für eine jeweils eingehende Schilderung der dortigen Situationen im Blick auf die Erweckungsbewegung und die theologisch-kirchlichen Richtungskämpfe. Da die Erweckten die strikte Unterscheidung zwischen "Gläubigen" und "Ungläubigen" vom individuellen Bereich auf die Kirche insgesamt ausdehnten, waren die rechthaberischen Positionskämpfe unvermeidlich. Hengstenberg hatte im Vorwort der Evangelischen Kirchenzeitung 1830 angekündigt: Sie werde "verwerfen, was Gott verworfen, niederreißen, was er nicht gebaut, ausreißen, was er nicht gepflanzt hat". E. sagt dazu: "Der Vorwurf der Gegner, eine herrschsüchtige Partei zu bilden, und damit eine neue Spaltung der Kirchen zu provozieren, ist durchaus berechtigt" (121).

Die letzten Wirkungsjahre Hävernicks in Königsberg werden besonders ausführlich dargestellt. Sowohl in Rostock wie in Königsberg hatte er mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, bei Kollegen und Studenten Einfluß und Rückhalt zu finden. Die geistige und politische Lage in Preußen seit 1840 unter Friedrich Wilhelm IV., die Berufung Eichhorns zum Kultusminister und der Boykott der Studenten bei der Antrittsvorlesung Hävernicks in Königsberg werden zum Teil in penibler Ausführlichkeit geschildert. Immerhin treten dadurch die verschiedenen Unternehmungen Hengstenbergs, über Eichhorn Einfluß gegen die Königsberger Liberalen zu nehmen und im Verein mit Hävernick die Vorherrschaft des theologischen Liberalismus zu brechen, in ein deutliches Licht. Besonders aufschlußreich ist die Darstellung des Kampfes zwischen "Licht und Finsternis" und die seit 1840 veränderte Einschätzung der Gegenwart bei den Erweckten sowie die Passagen über die Eschatologie Hengstenbergs und Hävernicks.

Die Untersuchung von E. basiert auf der Auswertung eines reichhaltigen Quellen- und Archivmaterials, besonders zur Geschichte der Universität Königsberg und zur politischen Geschichte Preußens im Vormärz. Darin liegt zweifellos ihr Wert. Zu vielen Persönlichkeiten der Erweckungsbewegung, besonders zu Hengstenberg und der Evangelischen Kirchenzeitung, finden sich manche interessante, freilich nicht immer neue Einblicke. Der Untertitel dieses Buches offenbart einige Fragwürdigkeiten in seiner Konzeption. Das Verhältnis der Biographie Hävernicks zur ausufernden allgemeinen Situationsschilderung seiner einzelnen Lebensstationen ist eigenwillig, es hätte hier auch der Name Hengstenberg erscheinen können. Was die Stichworte "Reformation" und "Revolution" im Untertitel meinen, ist mir ebenfalls nicht klar geworden. Unangenehm ist mir zuweilen auch eine kleinliche Kritik an Forschungspositionen aufgefallen, die nur Unwesentliches berührt. Die verschiedenen Tabellen im Text sowie im Anhang erscheinen mir entbehrlich, zumal damit die Neigung zu Schematisierungen gefördert wird, was gerade für das komplizierte Gebilde der Erweckungsbewegung wenig sinnvoll erscheint. Anhang, Literaturverzeichnis und Personen-, Orts- und Sachregister umfassen über 100 Seiten. Vor allem durch dieses Register können manche wichtigen Aspekte zur Erweckungsbewegung leicht erschlossen werden. Insofern hat sich die fleißige, gründliche Arbeit des Vf.s in einem umfangreichen Archivmaterial gewiß gelohnt.