Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

661–663

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Tiefensee, Eberhard

Titel/Untertitel:

Philosophie und Religion bei Franz Brentano (1838-1917).

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 1998. 570 S. gr.8 = Tübinger Studien zu Theologie und Philosophie, 14. Kart. DM116,-. ISBN 3-7720-2582-X.

Rezensent:

Martin Schuck

Franz Brentano ist sicher eine der schillerndsten Persönlichkeiten in der Philosophiegeschichte des 19. Jh.s. Mit Ernst Mach, Otto Liebmann, Hermann Cohen, Eduard v. Hartmann und Wilhelm Dilthey gehört er in die Generation der Philosophen, "deren Schaffensperiode mit dem Höhepunkt der nachhegelianischen Identitätskrise der Philosophie zusammenfiel" (12). Notwendig war eine Neubestimmung, die es ermöglichte, dem exklusiv vorgetragenen Anspruch der neu entstandenen empirischen Naturwissenschaften auf Wissenschaftlichkeit ein eigenes Selbstverständnis entgegenzusetzen. Im Zusammenhang der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Diskussion bekam dabei die Psychologie zunehmend die Funktion einer Grundlagenwissenschaft.

Die Bedeutung Brentanos liegt darin, durch den Versuch einer empiristischen Begründung der Philosophie eine Reihe sehr unterschiedlicher Vertreter des intellektuellen Lebens, angefangen vom modernistischen Theologen Hermann Schell bis hin zum ersten tschechischen Präsidenten Thomas Masaryk, direkt oder indirekt beeinflusst zu haben. Seine Beschreibung der allen psychischen Phänomenen gemeinsamen "intentionalen Beziehungen" gab Edmund Husserl wichtige Anstöße für die Formulierung der Grundlagen seiner Phänomenologie. Nicht zuletzt beeinflusste Brentano vor allem durch seine Dissertation "Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles" (1862) den jungen Martin Heidegger.

Die vorliegende Studie, die auf eine Anregung von Ludger Honnefelder zurückgeht und 1996 von der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen als Habilitationsschrift angenommen wurde, setzt es sich zum Ziel, das in der bisherigen Forschung unterbelichtete Verhältnis zwischen Religion und Philosophie bei Brentano einer systematischen Untersuchung zu unterziehen. Dies erscheint dem Vf. deshalb notwendig, da "Brentano zuweilen zwar als Religionsphilosoph im Titel einer Untersuchung geführt, letztlich aber vorwiegend seine philosophische Theologie und kaum sein Religionsbegriff behandelt" (41) werde. Außerdem kennzeichne die biographische bzw. autobiographische Perspektive den Weg als einen von der Religion zur Philosophie und bilde "die bisher bevorzugte Sichtweise der Brentano-Forschung zur Erklärung der metaphysischen und philosophisch-theologischen Theorien Brentanos" (51). Dagegen, so der Vf., ergebe der Blick auf seine philosophischen Aktivitäten der Würzburger und Wiener Jahre einen umgekehrten Werdegang: "Anfangs stehen das Selbstverständnis der Philosophie und besonders ihr Verhältnis zur übernatürlichen Theologie im Mittelpunkt des Denkens und Lehrens Brentanos, bis gegen Ende der Wiener Jahre das Thema Religion zunehmend an Raum gewinnt" (ebd.).

Dieser Befund legt eine Erarbeitung des Verhältnisses von Philosophie und Religion in drei Schritten nahe: Im ersten Kapitel (51-104) beschreibt T. die Genese des religionsphilosophischen Interesses Brentanos sowohl im Blick auf seine Biographie (nach dem Studium der Theologie und Philosophie u. a. bei I. v. Döllinger und A. Trendelenburg wurde er 1864 zum Priester geweiht und trat 1879 aus der katholischen Kirche aus) als auch auf seine philosophische Entwicklung. Dabei legt T. ein Schwergewicht auf die Explikation von Brentanos Habilitationsthesen von 1866, wo er "von der Philosophie um ihrer Reputation als Wissenschaft willen eine kritische Selbstbeschränkung in metaphysischen und theologischen Fragen forderte und somit der Theologie als Glaubenswissenschaft ein eigenes Feld zugestand" (102 f.). Sehr gründlich arbeitet T. heraus, wie Brentano im Laufe der Jahre von dieser Position abgekommen ist und am Ende seiner Wiener Zeit "für eine Theologie, welche in wissenschaftlich vertretbarer Weise der philosophischen Reflexion unzugängliche Fragen behandelt" (103), keinen Platz mehr sieht. Im Ergebnis wird so die Religion zu einem Thema der Philosophie.

Im zweiten Kapitel (105-293) bietet T. eine systematische Beschreibung des Philosophiebegriffes bei Brentano in seiner epistemologischen Struktur. Dabei, so der Vf., sei der Methodenforderung seiner vierten Habilitationsthese gemäß, "eine Philosophie als Wissenschaft und mit ihr eine exakte Erkenntnistheorie nur auf empirischer, das heißt für Brentano: auf psychologischer Basis möglich" (107).

Sehr gründlich und einleuchtend arbeitet T. heraus, dass und wie Brentanos Epistemologie "letztlich doch auf unausgesprochenen metaphysischen Vorgaben" (292) beruht. Hier findet sich dann der Ansatzpunkt für die im dritten Kapitel (294-472) geleistete Untersuchung des Religionsbegriffs Brentanos. Da die Philosophie, gegründet auf einer evidenztheoretischen Urteilslehre und aus einem aus diesem erwachsenen Programm, zur Metaphysik wird und philosophische Vernunft als "Weisheit" (294) umfassende lebenspraktische Relevanz erhält, muss sie sich, "den Kanon der Wissenschaften überschreitend, mit den konkurrierenden Ansprüchen der Religion auf Einsicht in die letzten Gründe und die endgültigen Zielsetzungen des menschlichen und kosmischen Daseins auseinandersetzen" (294). So sieht Brentano das Hauptziel seiner Religionsphilosophie im Beweis seiner Surrogatthese, "derzufolge die Religion einen Ersatz für mangelnde philosophische Kompetenz in der Befriedigung des theoretischen, näherhin metaphysischen Bedürfnisses darstellt" (465). Daraus, so T., sei für Brentano die Aufgabe erwachsen, einen von dieser Surrogatthese unabhängigen Religionsbegriff zu bestimmen, wolle er nicht "einer petitio principii" (ebd.) erliegen.

In einer detailgenauen Untersuchung der verschiedenen parallel laufenden und ineinander greifenden Ansätze Brentanos, einen Religionsbegriff zu finden, der nicht unter das Verdikt der Surrogatthese fällt, gelingt es T., das letztendliche Scheitern dieses Unternehmens aufzuzeigen. So kommt er im Schlussteil seiner Studie zu dem Urteil, dass die Vermittlung des Konzepts einer Philosophie als der erklärenden Wissenschaft schlechthin mit dem einer idealen Religion, die letzte Einsichten vermittelt, nicht gelingen kann: "Die Bestimmung des ,religiösen Bedürfnisses’ und das ,Streben nach Einsicht aus dem Grunde’ und ihres Verhältnisses zueinander bleibt angesichts der eigenen methodologischen Forderungen Brentanos unzureichend; die gesuchte Bestimmung der Religion als eines ,Surrogats’ der Philosophie und die der Philosophie als einer ,Substitution’ für die Religion vollzieht sich in einer doppelten petitio principii und kann insbesondere dem Phänomen Religion nicht gerecht werden" (479).

Fazit: Eine gründliche, materialreiche Studie, die als bedeutender Beitrag zur Brentano-Forschung angesehen werden kann und darüber hinaus interessante Einblicke bietet in die Suche der Philosophie nach einer Neuorientierung am Ende des 19. Jh.s.