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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

659–661

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidt-Biggemann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit.

Verlag:

Frankfurt: Suhrkamp 1998. 798 S. 8. Lw. DM 148,-. ISBN 3-518-58261-5.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

"Auch der Philosoph hat seine Entzückungen". Mit diesem Satz von Schelling beendet der Vf. sein voluminöses Werk, das er in der Vorbemerkung selbst eine "dicke Scharteke" nennt, die er seinen Lesern zumutet. Und um eine Zumutung - bona parte und mala parte - handelt es sich bei dem Buch. Von einem Entzücken mag nicht nur der Philosoph, sondern auch der Vf. angesichts dieses Buches sprechen, aber kaum der Leser, wenigstens hielt das Entzücken des Rez. sich sehr in Grenzen. Das hat natürlich seine Gründe.

Der Vf. greift mit der Bezeichnung "Philosophia perennis" den Titel eines Buches auf, den Agostino Steuco, Bibliothekar der Vatikanischen Bibliothek, geprägt hat. Es war unter dem Titel "De Perenni Philosophia" 1540 in Lyon erstmals erschienen und ist 1972 nachgedruckt worden. Unter diesem - an sich wenig geläufigen - Begriff habe Steuco, so der Vf., "der gesamten Bewegung des christlichen Neuplatonismus den Namen gegeben". Er versteht darunter eine Philosophie, von der behauptet wird, dass Plato und Aristoteles "nichts anderes zu erkennen vorschlagen als die Wissenschaft und die Verehrung Gottes". Und so handelt es sich bei Steuco (aber auch bei dem Buch, das hier zu besprechen ist) um "das Bekenntnis zur theologisch-philosophischen Einheitswissenschaft erbaulichen Charakters". Weil Steucos Buch "das umfassendste und philosophischste Buch dieser Konzeption von Philosophie" ist, scheint der Vf. auch im Umfang seines Werkes ihm nacheifern zu wollen. "Ursprünglicher Gegenstand dieser Erkenntnis ist die Schöpfung, Ziel aller Erkenntnis sind scientia und cultus Dei". (677-679) An anderer Stelle versteht er unter der Philosophia perennis eine Philosophie "mit der erklärten philosophischen Absicht, die Theologie zu stützen. Sie will nichts weniger als die Philosophizität der Theologie beschreiben; sie nimmt die Konfrontation von Philosophie und Theologie gar nicht erst wahr". (49) Ja, sie "interpretierte die Philosophie als phantastische Erkenntnis aus dem Glauben", sie ließ sich auf die kritische Konkurrenz von Theologie und Philosophie nicht ein (54). An anderer Stelle muss er zugeben, dass der neuplatonische Gottesbegriff auch eine ganz unchristliche Basis hat, denn dieser Gott erhört keine Gebete (462).

Der Vf. meint, Marsilio Ficino habe mit seinem Begriff "Prisca Theologia" etwas ähnliches verstanden: "Tota Priscorum Philosophia nihil est aliud, quam docta religio", er verstand demnach Theologie und Philosophie als "Geschwister" (56 f.). Was aber mit Theologie gemeint ist, das dürfte ja nun nicht übereinstimmend definiert sein. Handelt es sich denn hier wirklich um eine christliche Theologie und nicht doch eher um eine philosophische Theologie, um die "Erste Philosophie" oder Metaphysik? Welche Theologie ist es, die hier "den Charakter der Heilswissenschaft" erhält, deren Heil das Wissen ist, deren Gegenstand das Heilige ist, weil "die Weisheit und die Frömmigkeit aus denselben Quellen stammen"? (58, 63) Von ihr behauptet der Vf., dass die Philosophie des Nikolaus von Kues "ein Musterbeispiel der Philosophia perennis" sei, denn "sie enthält alle Elemente, die die abendländische philosophische Spiritualität kennzeichnet": Gottes Existenz und Wesen, den göttlichen Logos, die Primordialwelt der Weisheit, die Schöpfung der wirklichen Welt, die natürliche und geschichtliche Zeit und die "Prisca Theologia", die "alle menschliche Erkenntnis sub specie fidei" begreift (66-68). Von dieser Philosophia perennis meint er, weil sie von der "Einheit von Offenbarung und Wissen ausgeht", dass sie "die Wissenschaft der Offenbarung angleichen" muss (646, vgl. auch 649 f.). Da waren viele mittelalterliche Denker aber ganz anderer Meinung!

Nun könnte man denken, der Vf. wollte eine Geschichte des christlichen Neuplatonismus oder eine Geschichte der Mystik vorlegen, aber das will er gar nicht. Er will vielmehr "die Geschichte von Theogonie und Kosmogonie systematisch" nachzeichnen und "die wichtigsten und wirksamsten Denkfiguren abendländischer Spiritualität in ihren historischen Ursprüngen und Entfaltungen" darstellen. Bei der Lektüre des Buches erwartet der Vf. vom Leser "vor allem eine Fähigkeit ...: intellektuelle Phantasie" (11). Für ein Werk, das wissenschaftlichen Anspruch erhebt, ist das zumindest eine etwas merkwürdige Forderung.

Nach einer ausführlichen Einleitung (15-94) behandelt der Vf. sein Thema in zwei großen Hauptteilen: A. Herrlichkeit (97-517) und B. Theologie der Zeit (521-733). Unter A kommen die Namen Gottes (bei Proklos, Ps.-Dionysius Areopagita, Isidor von Sevilla, Raimundus Lullus, der christlichen Kabbala) zur Sprache; das nächste Kapitel ist "Kosmos anthropos" überschrieben, wobei wieder die Philosophiegeschichte von Plato bis Gottfried Arnold durchgegangen wird, ein weiterer Abschnitt ist mit "Archetypen" überschrieben, und wieder durchstreift der Vf. die Philosophiegeschichte von Philo bis zu Giordano Bruno, ähnlich auch im Kapitel "Spirituelle Räume". Unter B. geht es um "Weltzeit und Wiederkehr", um "Epochen und Zeitalter", um die "Translatio sapientiae" und schließlich um "Schellings Weltalter" als Abschluss.

Bei der Fülle des vorgestellten Stoffes ist es schwierig, weitere Einzelheiten herauszugreifen. Aber nicht nur die Stofffülle macht dies schwierig, sondern auch die Tatsache, dass - entgegen der erklärten Absicht des Vf.s - von einer systematischen Darbietung nicht gesprochen werden kann. Es fehlt die ordnende Hand. Zweifellos ist bewundernswert, was der Vf. alles weiß und was er vor dem Leser alles an Kenntnissen ausbreitet, aber das Entzücken des Lesers darüber hält sich, je länger er in der Lektüre fortfährt, doch in engen Grenzen.

Der Vf. setzt beim Leser nicht nur Phantasie, sondern auch ein gehöriges Vorwissen voraus, das kaum jeder potentielle Leser aufweisen wird (was weiß er schon von Primordialwelten und Seminalgründen usw.?), wobei das beigefügte Register ihn völlig im Stich lässt, weil es gerade diese und viele andere Termini nicht nachweist. Obwohl der Rez. von sich glaubt, ein wenig mittelalterliches Denken zu kennen und auch nachvollziehen zu können, wird ihm doch nicht recht deutlich, ob diese vom Vf. vorgestellte und beschriebene Philosophia perennis das ist, was sowohl das (ja bewunderswert subtile) Denken mittelalterlicher Philosophen bzw. Theologen als auch die Frömmigkeit (heute spricht man nur noch von "Spiritualität") wirklich ausmacht. Sicher hält das Dargestellte vielfach kritischen Nachprüfungen stand, aber die "philosophisch-theologische Einheitswissenschaft", von der der Vf. schreibt (332), ist ja eben genau in dem dargestellten Zeitraum zerbrochen. Liegt das nur daran, dass es keinen kritischen Zugang zur Welt der Spiritualität gibt? Unter diesem Zerbruch haben die Denker, vor allem des späteren Mittelalters, intellektuell und sogar physisch gelitten, es sei nur an Meister Eckhart, der lediglich einmal (508), und an Wilhelm von Ockham, der keinmal genannt wird, erinnert. Doch davon spürt der Rez. nichts.