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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1217–1219

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Böhme, Jacob

Titel/Untertitel:

Jacob Böhme Werke. Hrsg. von F. van Ingen.

Verlag:

Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1997. 1171 S. 8 = Bibliothek der deutschen Klassiker, 143. Bibliothek der Frühen Neuzeit, 18: 2. Abt.: Literatur im Zeitalter des Barock, 6. Lw. DM 172.-. ISBN 3-618-66480-X.

Rezensent:

Ernst-Heinz Lemper

Der unter die Klarsichtfolie um den vornehm gestalteten blauen Leinwandband geschobene Außentitel verrät, daß hier zwei der Hauptwerke Jacob Böhmes, ,,Morgenröte" und ,,De Signatura Rerum", in kritischer Edition mit umfassendem Kommentar vorliegen. Die beiden Böhme-Schriften umfassen 791 Seiten. Die folgenden Seiten bis zum Ende sind das verdienstvolle Werk des Herausgebers und Kommentators F. van Ingen, eine beachtliche Leistung an wissenschaftlicher Akribie.

Böhmes Erstschrift ,,Morgen-Röte im Aufgangk" von 1612 erhielt ihren Neudruck nach der zweiten deutschen Edition Amsterdam 1656, die der Urfassung in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel am nächsten steht, aber im Unterschied zu der von Werner Buddecke veröffentlichten Urschrift doch der Glättung Böhmes schwankender Orthographie bedurfte, wie man aus dem Kommentar erfährt, dessen Textteile parallel zum Neudruck gelesen werden sollten. Dem mit dem 26. Kapitel abbrechenden Werk Böhmes folgt als ,,XXVII. Capitel" sein Bericht über das vorzeitige Ende seiner Erstschrift nach Sendbrief 10,38. Anschließende Textergänzungen gehen auf Böhmes Eintragungen in eine Abschrift Michael von Enders zurück, eine davon 1621 datiert. Ein Zusatz von Heinrich Prunius verweist auf das Schicksal der Urschrift bis zu ihrer Wiederentdeckung am 26. November 1641. ,,Vorrede" und ,,Endes-Erinnerung" sind namens der ,,Liebhaber" verfaßt, letztgenannte durch Prunius, dem wohl auch das ,,Beschlußlied der Kinder Zion" zu verdanken ist. Beigegeben wurden zwei Briefe von Hans-Dietrich von Tschesch vom 6. und 10. Dezember 1641, die auf Stellung und Bedeutung der "Morgenröte" in Böhmes Gesamtwerk hinweisen.

Da für die schon den frühesten Lesern schwerverständliche Schrift ,,De Signatura Rerum", 1622 verfaßt, keine Urschrift vorliegt, griff die Neuveröffentlichung auf den deutschen Erstdruck von 1635 zurück. Die Abraham Willemszoon van Beyerlands Druck dienende Abschrift enthielt nicht das Vorwort Böhmes. Dieses wurde der von W. Buddecke auf 1639 datierten Ausgabe im Neudruck dem Text angeschlossen. Die von Beyerland verfaßte ,,Vorrede an den großgünstigen Leser" wurde beibehalten. Beiden neuveröffentlichten Texten gemeinsam ist das Fehlen der in den Werkausgaben üblichen Abschnittsnumerierungen, die jedoch in der von Böhme verfaßten Vorrede seines Signaturenwerkes erfolgte. Fußnoten dienen in beiden Schrifttexten der Klärung nicht mehr gebräuchlicher Begriffe und Wendungen.

Der umfangreiche Kommentar beginnt mit der Darstellung von Leben und Werk J. Böhmes. Die Einführung gilt dem Verständnis der Böhme-Begeisterung des 17. Jh.s im literarischen Umfeld, da Naturbeobachtungen und Naturphilosophie in Mikro- und Makrokosmos das strenge Lehrgebäude der Kirche erschütterten und die Kritik der Theologie herausforderten. Gottfried Arnolds "Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie" schuf 1699/1700 die Basis zur weiteren philosophischen und religiösen Vertiefung in die Gedankenbahnen Böhmes, einerseits durch Gottfried Wilhelm Leibniz’ Lehre von der Weltharmonie, andererseits durch das tätige Christentum des Pietismus. Ebenso markant geschildert wird die weitere historische Entwicklung des Böhme-Verständnisses über die von Friedrich Christoph Oetinger ausgelöste Böhme-Renaissance, die einerseits mit Friedrich Wilhelm Schelling zur gefühlsbetonten Romantik führte wie andererseits zu Georg Friedrich Hegels Erkenntnis der philosophischen Tiefe in Böhmes ,,ontologischer Dialektik" und seiner Anschauung vom dynamischen Charakter der Natur als immerwährender Schöpfung.

Die biographische Darstellung Böhmes folgt den bisher gesicherten Erkenntnissen. Ihr beigegeben sind sechs Illustrationen, u. a. mit den Titelseiten der beiden Einzelausgaben von 1656 bzw. 1635 sowie der Urschrift der ,,Morgenröte". Die tiefschürfende Darstellung des ,,geistigen Hintergrundes" behandelt die seit der Reformation sich in Görlitz kreuzenden religiösen und intellektuellen Strömungen, unter denen die paracelsische im Bürgermeister und Universalgelehrten Bartholomäus Scultetus, im Gymnasialrektor Caspar Dornavius und im Stadtarzt Tobias Kober für Böhme maßgebliche Vertreter fand. Über Scultetus flossen dem Geistesleben der Neißestadt die Gedanken Valentin Weigels und durch Balthasar Walther Grundlagen der jüdischen Kabbala zu. Sehr ausführlich behandelt wird die Alchemie, die Böhme in Analogie zu Genesis und Wiedergeburt in Christo Grundlagen seiner Betrachtungsweise bot. Er sollte jedoch nicht in Abhängigkeit von anderen gesehen werden. In seiner Lehre von den Qualitäten und den Signaturen hat er ureigene Gedanken entwickelt, die ihn zu einer neuen Christosophie und Schöpfungsinterpretation führten.

,,Einleitende Bemerkungen zum Werk" gelten Böhmes Gotteserleben in Zeit und Umwelt, im ,,kopernikanischen Schock" der Gottesferne eines neuerkannten Weltalls und im Hereinholen Gottes in die Menschenseele, Im Erleben und Durchdenken des positiven und des negativen Prinzips und der Stellung von Mensch und Natur zwischen beiden, der Beschaffenheit der göttlichen Dreifaltigkeit und ihrer Stellung in der Kosmogonie, im Schöpfungsprozeß und in der Reflexion des Menschen. Vielfach werden dazu Zitate aus Böhmes Gesamtwerk herangezogen. Wenngleich er stets der Lutherbibel verbunden blieb, hatte er doch deren Inhalt zu einem völlig neuen Bewußtsein von Gott, Natur und Mensch geformt, das der orthodoxen Gläubigkeit seiner Zeit suspekt erscheinen mußte.

Besondere ,,Hinweise zur Morgenröte im Aufgang" werden eingeleitet von der Böhme mit Luther verbindenden Erkenntnis des Teufels bzw. Luzifers als Kennzeichen des Bösen schlechthin und Realität des menschlichen Erdenlebens. Der Begriff ,,Morgenröte" und sein Sinngehalt als Kennzeichen des Gegenwartserlebens am Ende eines Zeitalters finden sich in Luthers Tischreden: "Wir sind jetzt in der Morgenröte des künftigen Lebens, denn wir fangen an, das Erkenntniß der Creaturen wiederum zu erlangen, das wir verloren haben durch Adams Fall." Auch das Leitbild des ,,miles Christianus" verbindet Böhme mit Luther. Böhmes zitierte Briefe belegen, wie er zu seinen Erkenntnissen gekommen war und daß der ,,Geist" ihm die Feder führte. Dennoch richtet sich sein ,,Memorial" an den Leser und seine Demut als Werkzeug Gottes verbindet sich mit dem Stolz des Auserwählten.

Entsprechende Hinweise zu ,,De Signatura Rerum" haben es bedeutend schwerer, Böhmes Denkweise zu folgen, da es um Enthüllung der göttlichen Schöpfung in der Vielfalt der materiellen Welt geht. Paracelsus und Paracelsisten wie Oswald Crollius werden in ganzen Absätzen zitiert, um die Entwicklungsgeschichte der Signaturenlehre vom 16. zum 17. Jh. zu belegen und auf den Sinngehalt von Böhmes Auslegung vom ,,Hall" in allen Dingen, vom Schöpfungsbefehl Gottes, dem ,,Fiat", zur Sprache Adams und der Natursprache vorzudringen.

In ,,Druckgeschichte und Handschriften" wird hauptsächlich das Zustandekommen der gesammelten Werke Böhmes durch Johann Georg Gichtel von 1682 und 1717 und J. W. Ueberfeld 1730 samt Faksimile-Neudruck durch W.-E. Peuckert 1955/61 behandelt.

"Textgestaltung und Kommentaranlage" gelten beiden vorgestellten Böhme-Schriften gesondert, indem jeweils ein Kommentar auf entscheidende Abweichungen der Editionen voneinander und im Fall der "Morgenröte" von deren Urschrift eingeht und die Entscheidung für die Ausgaben von 1656 bzw. 1635 begründet wird.

Ein Korrekturverzeichnis listet nach Seite und Zeile des Neudrucks alle Abweichungen von diesen Vorlagen wie auch von Urschrift und den alten Drucken bis 1730 auf. Textabweichungen zu "Morgenröte" werden in zwei Variantenverzeichnissen aufgeführt, einmal im Vergleich zum Erstdruck 1634 mit Feststellung der dort zu bemerkenden Fehlstellen, zum anderen im Vergleich mit Urschrift, Druck 1676 und Werkausgaben 1682, 1717 und 1730. Korrektur- und Variantenverzeichnis zur Signaturenlehre greifen nur auf die Werkausgaben zurück. Diese Verzeichnisse von 55 bzw. 32 Seiten sind Ergebnis eines energischen Aufwandes an Mühe und Fleiß. Noch erstaunlicher der Informationsreichtum und -wert der Stellenkommentare mit 125 bzw. 93 Seiten Texterläuterungen und Literaturhinweisen. Zitiert werden Bibel, Luther, Paracelsus, Weigel und Schriften Böhmes und seiner Zeitgenossen, um Hintergrund und Grundlagen zahlreicher Textstellen zu belegen. Hinzugezogen werden das Deutsche Wörterbuch, Mundartenforschung und Spezialliteratur, um ein deutliches Bild von Böhmes Vorstellungsgehalten und deren Wortprägung zu erhalten.

Ein Sigelverzeichnis entschlüsselt die im Kommentarteil verwendeten Abkürzungen. Das Literaturverzeichnis gliedert sich in benutzte Böhme-Ausgaben, Primärliteratur, Hilfsmittel und Forschungsliteratur in Auswahl.

Der Herausgeber und Kommentator begrenzt sein Werk auf rein kommentierende Arbeit und meidet eigenständige Interpretation. Von seiten der Philologie hat er der Böhme-Forschung einen hoch beachtenswerten Dienst geleistet, den sie künftig zu berücksichtigen hat.