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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

609–611

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Seiler, Stefan

Titel/Untertitel:

Die Geschichte von der Thronfolge Davids (2Sam 9-20; 1Kön 1-2). Untersuchungen zur Literarkritik und Tendenz.

Verlag:

Berlin: de Gruyter 1998. XV, 364 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 267. Lw. DM 198,-. ISBN 3-11-016234-2.

Rezensent:

Walter Dietrich

Die von Leonhard Rost im Jahr 1926 aus der Taufe gehobene Thronfolgegeschichte Davids (TFG) ist, wie alle in den letzten hundert Jahren aufgestellten großen Hypothesen der alttestamentlichen Wissenschaft, in neuerer Zeit heftig in Zweifel gezogen worden. Ihr Umfang wie ihre Thematik, ihre Tendenz wie ihr Alter, ihre innere Geschlossenheit wie ihre historische Zuverlässigkeit stehen vielen Fachgelehrten nicht mehr fest. Seiler sind diese kritischen Anfragen wohlbekannt, er referiert sie auch in einem einleitenden Bericht so knapp wie sorgfältig (7-25), er ist aber angetreten, sie - jedenfalls größtenteils - zu entkräften. Dazu untersucht er den gesamten Textbestand von 2Sam 9-20 und 1Kön 1-2, und zwar nicht immer in der kanonischen Reihenfolge: 1Kön 1-2 (29-89); 2Sam 13-20 (90-222); 2Sam 10-12 (223-276); 2Sam 9 (277-296). Vor dem Literaturverzeichnis (327-342) und dem Bibelstellenregister (343-364, davon 347-361 zu 2Sam 9-1Kön 2!) werden die gewonnenen Einsichten zu Tendenz und Datierung des Werkes noch einmal zusammengefasst (297-321). Hätte S. recht, dann behielte Rost fast vollständig recht: Die TFG wäre zur Salomozeit in der Absicht geschrieben worden, das Faktum und die Art des Machtantrittes Salomos zu legitimieren.

In etwas stampfendem Rhythmus geht S. bei seinen Analysen jeweils nach dem folgenden Schema vor: 1. die literarkritischen Argumente, die X oder Y gegen die Einheitlichkeit und Ursprünglichkeit des jeweiligen Textabschnitts vorgebracht hat; 2. die Gründe, aus denen der Passus (zumeist) doch einheitlich und genuiner Bestandteil der TFG ist; 3. die Aussagetendenz des Textes und dessen Einordnung in den Kontext.

Ausgangspunkt ist also nicht der biblische Text, sondern kritische Thesen über ihn. Das, was den Reiz der Samuelbücher ausmacht und was auch Rost sehr ausführlich gewürdigt hat - die hohe literarische Kunst und das psychologische Feingefühl des Erzählers - gerät so ein wenig ins Hintertreffen. Nur gelegentlich (fast möchte man sagen: ungewollt, etwa in Fußnoten: z. B. 157 Anm. 36; 171 f. Anm.10; 310 Anm. 52) leuchtet die Schönheit und Tiefgründigkeit der Erzählung auf. So gut wie gar nicht kommt deren Abgründigkeit zum Vorschein. Begriffe wie Uneindeutigkeit, Ambivalenz, Widersprüchlichkeit, Tragik sind bei S. äußerst selten. Sein Impetus gilt der Feststellung und Festlegung dessen, was der Autor gemeint und gewollt hat. Dass dies etwas völlig Klares und Eindeutiges ist, steht für S. außer Zweifel. Aus seiner (bzw. eben des Autors) Sicht sind die Charaktere der Erzählung entweder gut oder böse, ihre Haltung entweder angemessen oder verfehlt, ihre Handlungen entweder richtig oder falsch. Ganz glatt geht dies freilich auch bei S. nicht auf. Das "Bild Abschaloms in 2Sam 13 [ist] ambivalent" (99). Auch Joab ist beides: gut und böse (311 f.) - aber nicht gleichzeitig, sondern zuerst das eine, dann das andere (220 f.). ähnlich mischt sich bei David Gut und Böse, aber wiederum in klarem Wechsel: Er ist einmal großzügig (2Sam 9; 294 f.) und einmal selbstsüchtig (2Sam 11, 252 f.); dass er im einen Fall zugleich auch berechnend und im anderen zugleich auch hilflos sein könnte, passt nicht in S.s Kategorien. Ein anderes Beispiel: Wenn David um seinen toten Sohn Abschalom hemmungslos weint und Joab ihn rüde an seine Herrscherpflichten erinnert, dann ist Joab im Recht, denn er "erfaßt ... die machtpolitischen Notwendigkeiten" (185), während David sich wieder einmal zu "übertriebener Vaterliebe" hinreißen lässt; "nach Auffassung des Erzählers (war) Joabs Entscheidung, den Aufrührer zu töten, das einzig Sinnvolle" (305). Davids Anweisung zur Schonung des ,Jünglings’ entsprach "nicht den strategischen Erfordernissen" (181), und seine spätere Trauer ist "überzogen", ja sie "verrät ... Undankbarkeit gegenüber Jahwe" (183.182). Wirklich? Wäre hier nicht von einer wahrhaft tragischen Situation zu reden? Würde der Erzähler nicht sagen: Joab mag als General im Recht gewesen sein - David aber war es als Mensch?

Noch problematischer ist S.s Urteilsfreudigkeit im Fall der Machtergreifung Salomos. Die damals geschehenen Morde spielt er herunter: Was sind schon drei Tote (302 f, Anm. 20)? Zudem war jede dieser Hinrichtungen voll berechtigt (85.86. 87), und zusammen waren sie notwendig für die Sicherung der Herrschaft (83). Den Fehler Davids, nicht entschieden genug gegen rebellische Elemente vorzugehen, wiederholte Salomo nicht; er war insofern "der bedeutendere Regent" (306). S. meint zu sehen, "daß es dem Verfasser auf die Erhaltung der Macht Davids bzw. Salomos ankommt. Alle (!) Maßnahmen, die dazu dienen, werden von ihm begrüßt" (186). Was für ein Bild von Regentschaft und Machtausübung steht hinter solchen äußerungen? Und ist es das Bild der biblischen Autoren? Empfanden diese nicht doch ein Grauen vor den politisch motivierten Morden Salomos, und suchten sie nicht darum fast händeringend nach moralisch einigermaßen akzeptablen Begründungen für sie (1Kön 2,1-10)?

Nun stoßen wir aber gerade hier auf ein Beispiel literarkritischer Entschlossenheit S.s. Während er in 1Kön 1 lediglich wenige Wörter in den Versen 10a.34a.45a als sekundär einschätzt und daraufhin urteilt, die "These von einer antisalomonischen Grundschicht, die prosalomonisch bearbeitet wurde", lasse sich "nicht halten" (54), postuliert er für 1Kön 2,2-4 dtr Redaktion und für 2,1.5-9 einen "vordtr. Redaktor", der "Salomo zu entlasten" versuchte (89) - also doch eine prosalomonische Bearbeitung?! Umgekehrt soll die Episode vom Tod des Erstgeborenen Batsebas (2Sam 12,15b-23), durch die Salomo ja ebenfalls entlastet wird (vom Makel nämlich, Frucht einer ehebrecherischen Beziehung zu sein), schon zur TFG gehört haben (266-271; die anachronistische Rede vom Tempel in V. 20 wird flugs zum Zusatz erklärt, 270). Die Natan-Perikope wiederum (2Sam 12,1-15a; nicht aber 11,27b!) sei schon in ihrer Grundschicht (12,1-5.7a.13b-15a) ein Nachgetrag (265 f.) - obwohl in ihr doch David (und indirekt Salomo) gerade belastet wird. Solche Zuweisungen wirken weder kohärent noch konsequent.

Zu Recht verteidigt S. gegen manche neueren Literarkritiker die generelle Einheitlichkeit von 2Sam 14-19, womit Gestalten wie die weise Frau von Tekoa, der kluge Ratgeber Ahitofel und sein Gegenspieler Huschai, der Jonatan-Sohn Meribaal und der greise David-Freund Barsillai einen Platz in der ursprünglichen Erzählung behalten (nicht allerdings die in 2Sam 15,24 f.29 erwähnte Lade: 125 f. - eine keineswegs zwingende Entscheidung). Was S. bei alledem nicht bedenkt, ist die Möglichkeit, dass der Erzähler nicht nur frei formulierender Autor, sondern auch ihm Vorgegebenes reproduzierender Redaktor bzw. Kompositor sein könnte; dann wäre zwar der vorliegende Text einheitlich, nicht aber die dahinter liegenden Stoffe und ihre Verarbeitung zu einem fortlaufenden Text. Textdiachronie kann nicht nur das Produkt nachträglicher Textauffüllung, sie kann auch ein Faktor schon der Textgenese sein.

Ein Beispiel: S. weist überzeugend nach, dass die Erzählung vom Scheba-Aufstand 2Sam 20,1-22 mit der vom Abschalom-Aufstand dicht verknüpft ist (217), erwägt aber nicht, dass der Gesamterzähler hier zwei heterogene Stoffe verwoben haben könnte. Träfe dies aber zu, dann spräche nichts dagegen, auch die Beamtenliste 2Sam 20,23-26 oder auch die Notiz vom Denkmal Abschaloms 2Sam 18,18 für "ursprünglich" zu halten - was S. gerade nicht tut (218 bzw. 177 f.), weil er sich die TFG nur als literarisch einliniges und thematisch geschlossenes Werk vorstellen kann.

Damit freilich handelt er sich ein Problem ein, mit dem schon Rost schwer zu kämpfen hatte: Wo beginnt die TFG, deren einziges Thema angeblich die Thronnachfolge Davids war? 2Sam 9 passt zwar thematisch dazu, ist aber kein geeigneter Erzählanfang (283; dass das Kapitel zudem mannigfache Verbindungslinien zum 1. Samuelbuch aufweist, sieht S. zwar, tut es aber als unerheblich ab, 279 f.). Rost nun fasste sich ein Herz und erklärte die Ladegeschichte und die Natanweissagung (1Sam 4-6; 2Sam 6 f.) zu integrierten Unterquellen und gleichsam zur Einleitung der TFG. Diese kühne Lösung lehnt S. mit vielen anderen zu Recht ab. Doch statt nun mit anderen den Anfang des Erzählwerkes etwa in 2Sam 1-5 zu suchen (wo immerhin die Geburt der Söhne berichtet wird, zwischen denen hernach die Thronfolge entschieden wird) oder noch weiter zurück im 1. Samuelbuch, gibt er die Suche auf und behauptet kleinmütig, der Anfang der TFG sei - verloren gegangen (293 f.)! Diese Auskunft ist ebenso unbeweisbar wie unbefriedigend. Erteilt wird sie offenbar in der Sorge, dass die These einer selbständigen, thematisch gerundeten TFG sich kaum halten lässt, wenn man nicht irgendwo vor 2Sam 9 einen (imaginären) erzählerischen Neueinsatz postuliert.

Das vorliegende Buch konzentriert sich gemäß Untertitel auf Literarkritik und Tendenzkritik. Konservativ ist es in beidem, informativer und solider indes in seinen literarkritischen Teilen. Auch wer die literarhistorischen Urteile nicht überall teilt, liest deren Begründungen und die damit verbundenen Abgrenzungen doch allermeist mit Gewinn.