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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

601–605

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Bosshard-Nesputil, Erich

Titel/Untertitel:

Rezeptionen von Jesaja 1-39 im Zwölfprophetenbuch. Untersuchungen zur literarischen Verbindung von Prophetenbüchern in babylonischer und persischer Zeit.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. XIII, 521 S. gr.8 = Orbis Biblicus et Orientalis, 154. Lw. DM 164,-. ISBN 3-7278-1123-4 u. 3-525-53790-5.

Rezensent:

Burkard M. Zapff

Mit der 1997 erschienenen Dissertation von E. Bosshard-Nepustil liegt eine weitere wichtige Monographie zur Entstehungsgeschichte des Zwölfprophetenbuches (XII) vor. Wie jedoch bereits der Titel verrät, unterscheidet sie sich von bisherigen Ansätzen insofern, als sie ausgehend von Jes 1-39 (IJes) Bezüge zum XII aufzudecken und dessen Entstehungsgeschichte in enger Korrespondenz zu Jes 1-39 (und Jer) zu klären sucht. Ziel der Arbeit sei es - so B.-N. - "einen Beitrag zu leisten zur Klärung des Verhältnisses zwischen den Prophetenbüchern" (1)

Sofern sich dieses Verhältnis nicht nur auf partielle literarische Abhängigkeiten zwischen einzelnen Büchern (etwa Jes 2,1-2/Mi 4,1-3), sondern auch auf übergreifende Buchzusammenhänge bezieht - was B.-N. als Arbeitshypothese voraussetzt - ist die Klärung der ursprünglichen Buchabfolge sowohl der Grossen Propheten wie der einzelnen Schriften im XII unerlässlich. B.-N. entscheidet sich dabei nach kurzer Begründung (2-5) für die masoretische Sequenz, deren Priorität - etwa gegenüber LXX - jedoch durch "Fortgang und Ergebnis der Arbeit" noch endgültig erwiesen werde müsse (5).

Die Frage, der B.-N. nachgeht, ist für XII zwar bereits formuliert (vgl. Nogalski), für die Abfolge Jes-Jer jedoch bisher wenig bedacht: Ob hier jeweils "nur eine sekundäre Komposition fertiger Einzelbücher vor(liegt), oder ... sich sachliche oder strukturelle Beziehungen feststellen (lassen), die auch auf bücherübergreifende Sachzusammenhänge und bewusst geschaffene Verbindungen (hinweisen)" (5).

Die Fragestellung von B.-N. ist demzufolge gegenüber verschiedenen neueren holistischen Ansätzen streng redaktionskritisch bzw. -geschichtlich orientiert (12 f.). Ausgehend von den in IJes (Jer) vorfindlichen Babeltexten unter Klärung deren literarischer Schichtung und redaktioneller Zusammenhänge hält B.-N. im Weiteren Ausschau nach entsprechenden Parallelerscheinungen in den Babeltexten des XII. Seine Ergebnisse, die sicher einer ausführlichen Diskussion wert wären, sind hier nur in aller Kürze wiederzugeben.

So findet er in Jes 13; 21,1-10 und 22,1-14 jeweils zwei literarische Schichtungen, die B.-N. als "Assur/Babel-Schicht" ([AB-R] 13,2-8.14-16; 21,1.2ab.3-5.6.8-9a; 22,1-5.7-14.15-25, vgl. S. 178) bzw. "Babel-Schicht" ([B-R] 13,1.17-22; 21,2b,Á.7.9b-10; 22,6) bezeichnet. Beiden Schichten ordnet er außerdem folgende Texte im IJes bzw. Jer zu: (AB-R) Jes 1,1?; 2,10-17/18; 3,1b?.6 f.8 f.12-15.18-23?.25 f.; 4,1?; 5,12 ff.; 7,*1.15?.(*)18-25; 9,6b,; 10,33b.34;14,28-32; 16,6.12?; 20,1-5; 30,6a; 32,6-8? sowie die Anfügung von (*) 36-39; Jer 4,9 f.; ev. 22,28-30; 25,15-24.*25.26ab; (35; *48) Anfügung von 52; (B-R) Jes 1,9 (?); 4,2 (?); 5,30; 8,8b; 11,6-9; 14,(*)4a.22-23; 16,1-5; 21,11-12.13-15; 28,5 f.; 28,23-29; 33,1-13.17-24; Jer 25,(*)12-14.*25.26ab; 27,7b; (30,12 ff./16 f.; 31, 3ff.15 ff.)(*)50 f.

Die nach 587/586 in IJes/Jer eingeschriebene AB-R intendiere - so B.-N. - den Leser zu einer zweifachen Verstehensweise von IJes anzuleiten. "Er soll das Buch vordergründig als Zeit der Assyrer ... verstehen, ... die Texte aber auch in ihrer Transparenz auf die erste Hälfte des 6. Jh.s v. Chr. wahrnehmen" (138). Bedingt durch AB-R bilde IJes "den ersten Teil eines auch Jer umfassenden literarischen Zusammenhangs". Adressaten von AB-R sind nach B.-N. die 587/586 im Land Verbliebenen, denen eine Deutung ihrer Situation geboten werde, wonach sie bzw. ihre Vorfahren ihr Bleiben im Land der Tatsache zu verdanken hätten, dass sie sich in den entscheidenden Gefährdungen auf Jahwe verlassen und damit die Heilswirksamkeit des Zion erfahren hätten (180). B-R, die sich an die Konzeption von AB-R anlehne, unterscheide sich von dieser, insofern sie nun das endgültige Ende Babels mit anschließender Heilszeit erwarte (200) und damit den Horizont von AB-R überschreite, die die Fiktion, als Prophetie dem 8. Jh. zu entstammen, aufrechtzuerhalten suche. Nach B.-N. legt sich demnach eine Datierung von B-R kurz vor 539 (Einnahme Babels durch Kyros) nahe (203 f.). Ausgehend von der Bestimmung dieser beiden redaktionellen Fortschreibungen entwickelt B.-N. im Folgenden ein Modell zum literarischen Werdegang von IJes (234-251), den er über verschiedene Stufen ("Assurredaktion in der Josiazeit", "Erweiterung in der Manassezeit"; "Erweiterung nach 701 bzw. 712/ 11", "zwischen 722 und 712/1"; "nach 722 v. Chr.") zurückschreitend bis zu einem Grundbestand (Jes 6,1-11; 7,*1.2-9.10-17; 8,1-8a.11-15.16-18; 17,1b.3) aus der Zeit des syrisch-ephraimitischen Krieges verfolgt (251). In der Zeit nach B-R sei IJes ebenfalls über verschiedene redaktionelle Stufen ("Völkerredaktion in der Perserzeit"; "Ergänzungen in der späten Perserzeit bzw. Zeit Alexanders d. Gr.") bis in die Diadochenzeit (dort im Kontext eines Deuterojesaja umfassenden Großjesajabuches) fortgeschrieben worden (253-267).

In Teil B seiner Arbeit wendet sich B.-N. dem XII zu, um dort nach Parallelerscheinungen zur AB-R und B-R in IJes/Jer zu suchen. So findet er eine AB-R entsprechende redaktionelle Fortschreibung ("Assur/Babel-RedXII") im XII in Hos 1,2a? (5,9??; 8,14, *12,1 ff.?); Joel 1,1-2,11; Am (*2,16b) 5,18-20 (?) (8,[*]3.9 f.13 f.?); Mi 5,9-13?; 7,4b; Nah 2,*4.11; Hab 1,1.5-11.12b.14-17; 2,1-4; Zeph 1,1.4-16.17a; *2,4-12; 3,8a (408), während Joel 2,12-27; Mi 4,9 f.14; 5,2; 7,7-10; Nah 1,1b.2-8.9 f.12ab.13; 2,1; Hab *1,12a; *2,5-17 (/20??); *3,2-19a; Zeph 2,13-15; Sach 2,10a.11.14; 8,1-6, mit Einbezug von Sach 1,8-15; 2,1-4; 2,5-9; 4,1-6a.10b-14; 5,1-4; 5,5-11; 6,1-8 ("Babel-RedXII") B-R in IJes entspreche. Ausgehend von diesen beiden redaktionellen Fortschreibungen in XII versucht B.-N. nun auch hier, analog zu IJes den Entstehungsprozess des XII nachzuzeichnen. So geht er von verschiedenen Entwicklungsstufen z. T. ebenfalls in Anlehnung an IJes aus: ein XII der Josiazeit, ein XII nach 701 v. Chr. (bestehend aus Hos-Am-Mi) und u. U. einen ursprünglichen Kern, bestehend aus einer Verbindung von Hos-Am (409-415). In der Zeit nach B-RXII verlief die Entwicklung des XII ebenfalls über verschiedene Stufen (mittlere/späte Perserzeit, Alexander d. Gr., 415-431), bis sie schließlich in der Diadochenzeit (entspr. dem von Steck vertretenen Modell einer dreistufigen redaktionellen Fortschreibung hauptsächlich in Sach/Mal) ihren Abschluss (430, Anm. 2) fand.

In einem Teil C zieht B.-N. Folgerungen aus seinem redaktionsgeschichtlichen Modell für den Werdegang des gesamten "Prophetenbücherkorpus". Demnach ist damit zu rechnen, dass sich nach einer zunächst isolierten literarischen Entwicklung der einzelnen prophetischen Schriften in der Zeit nach 701 v. Chr. eine Ausrichtung einer Bücherreihe Hos, Am und Mi an IJes zeige, ein Phänomen, das sich bis zu den letzten Redaktionen in den Prophetenbüchern durchhält (435). überraschend sind die Folgerungen, die B.-N. aus seinen Untersuchungen für die ursprüngliche Reihenfolge der prophetischen Bücher zieht. Auf AB-RJes gehe dabei eine Bücherfolge Jes 1-39/Jer zurück, die durch die sich daran orientierende AB-RXII im XII bezeugt werde (450). Dass Klagelieder und IIJes ursprünglich nach Jer folgten, spiegle die auf diese Abfolge bezugnehmende B-RXII (452), während sich die Anfügung von Ez zur Zeit Alexanders d. Gr. aus der Entsprechung zu Sach 9 (Sach-Nachtgesichte als Art Gegenentwurf zu den Visionen Ez!) erschließen lasse (458). Die nachträgliche Umstellung von IIJes nach IJes und vor Jer gehe auf die in Jes 35 fassbare "Heimkehrredaktion" (vgl. Steck) zurück, mit der Intention, Jer und Ez durch Jes und XII zu inkludieren, womit wiederum Jes einen erheblichen Bedeutungszuwachs gewann und gleich in mehrfacher Hinsicht zum ersten der Propheten wurde (463). Die Studie endet mit einem kurzen Ausblick und einem tabellarischen überblick der redaktionellen Schichtungen in IJes und XII, der dem ob der Fülle der Texte geforderten Leser einen hilfreichen abschließenden überblick gewährt.

Die Arbeit von B.-N. ist ein interessanter und durchaus spannender Versuch mittels der Redaktionskritik nicht nur die Genese von IJes und XII, sondern insgesamt die des Corpus der "Späteren Propheten" nachzuzeichnen. Wenngleich auch dem mit der Materie vertrauten Leser die Lektüre dieses Buches auf Grund einer gewissen Unübersichtlichkeit nicht leicht fällt, beeindruckt doch nicht nur die umfassende Kenntnis der einschlägigen Literatur, sondern auch die Fülle biblischer Texte, die der Autor zu überblicken vermag. Dennoch ist es gerade diese Textfülle, die zu kritischen Nachfragen veranlasst.

Abgesehen von einigen Texten (wie z. B. Jes 13, 21 und 22), die einer genauen literarkritischen Betrachtung unterzogen werden, gewinnt man oft den Eindruck, dass Texte ohne ausreichende literarkritische, semantische und inhaltliche Prüfung aufgeteilt und bestimmten Schichten zugewiesen werden (z. B. Mi 7). Doch auch da, wo B.-N. literarkritisch arbeitet, fallen bei genauer Betrachtung Ungereimtheiten auf. Rechnet er in Jes 13,9-13 auf Grund der Einbeziehung der Himmelskörper in das Jahwegericht (70) mit einer späteren Fortschreibung eines Grundbestandes 13,2-8.14-16 (AB-RJes) und 13,1.17-22 (B-RJes), fällt bei der Lektüre von Joel 2,10-11, welches nach B.-N. der mit AB-RJes in Korrespondenz stehende AB-RXII angehört auf, dass hier bereits auf der Ebene der Grundschicht das Kommen des Jahweheeres Reaktionen der Erde, des Himmels und der Himmelskörper in Analogie zu Jes 13,9-13 auslöst. Demnach hat Joel 2,1-11 nicht nur Jes 13,2-8.14-16, sondern offensichtlich auch bereits Jes 13,9-13 vor Augen. Will man demnach die von B.-N. vorgeschlagene literarkritische Scheidung in Jes 13 aufrechterhalten, so folgt daraus zwangsläufig, dass Joel 2,1-11 bedeutend später als AB-RJes und B-RJes zu datieren ist, folglich für eine AB-RJes entsprechende redaktionelle Fortschreibung ABXII ausfällt. So anerkennenswert der Versuch B.-N.s sicher ist, die offenkundigen Beziehungen zwischen dem Jesajabuch und dem XII auf redaktionsgeschichtlichem Weg zu klären, so sehr mahnt doch gerade dieses Beispiel auch zur Vorsicht.

Unbestritten stellt B.-N. die richtigen Fragen und kann eine Reihe wichtige und weiterführende Beobachtungen geltend machen. Doch scheint mir die Einzeltextuntersuchung, insbesondere im XII, unter der Fragestellung buchübergreifender Lesezusammenhänge noch nicht weit genug gediehen zu sein, um ein derart differenziertes Modell der Entstehung des Corpus propheticum bereits heute wahrscheinlich machen zu können.