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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1214–1217

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Winninge, Mikael

Titel/Untertitel:

Sinners and the Rigtheous. A Comparative Study of the Psalms of Solomon and Pauls’s Letters.

Verlag:

Stockholm: Almquist & Wiksell International 1995. 372 S. gr.8 = Coniectanea Biblica. New Testament Series, 26. ISBN 91-22-01638-4.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

1. Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die revidierte Fassung einer Dissertation bei der theologischen Fakultät der Universität Uppsala vom November 1994. Der Vf. arbeitet heraus, wie "Sünder" und "Gerechte" in den Psalmen Salomos und in den Briefen des Paulus beschrieben werden. Primär geht es Winninge dabei um Ähnlichkeit und Unterschiede der paulinischen Begriffe zu deren Verwendung in den PssSal, d. h. sein leitendes Interesse gilt einer religionsgeschichtlichen Profilierung eines wichtigen paulinischen Begriffspaares und dessen eigener theologischer Bedeutung. Tatsächlich widmet er über die Hälfte seiner Studie einer gründlichen exegetischen Analyse der PssSal (Kapitel 1-4), vor deren Hintergrund er dann in Kap. 5 die paulinische Terminologie darstellt. Dabei fragt der Vf. nach "Beeinflussung" und "Abweichung" (3).

Das Corpus der achtzehn PssSal mit dem Corpus der paulinischen Briefe zu vergleichen, ist ein sinnvolles Unternehmen. Die PssSal, ca. hundert Jahre vor den paulinischen Briefen verfaßt, wohl in Jerusalem beheimatet und von einer pharisäernahen Theologie getragen, bilden eine gute theologische Referenzgröße für die paulinischen Briefe. Hier kann an einem zentralen Punkt der durch E. P. Sanders (Paul and Palestinian Judaism, London 1977) ausgelöste Strukturvergleich zwischen frühjüdischer und paulinischer Religion vorangetrieben und konkretisiert werden. Zugleich ergibt sich aus der Fragestellung ein neuer Beitrag zu der Einordnung der PssSal in das Frühjudentum. Die Monographie von J. Schüpphaus, Die Psalmen Salomos, ALGHJ 7, Leiden 1977, hatte die Psalmen "als ein Zeugnis des Pharisäismus aus der Zeit der Mitte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts" verstanden (137). Ebenso urteilte S. Holm-Nielsen in seiner Übersetzung (JSHRZ IV, 2, 1977, 59). Die anschließende differenzierende Diskussion faßten R. B. Wright in OTP II, 639-676 (hrsg. von J. H. Charlesworth, New York u. a. 1985) und J. L. Trafton in ABD VI, 1992, 115-117, zusammen. Beide Autoren möchten sich nicht mehr direkt auf pharisäische Theologie festlegen, sondern empfehlen vor allem eine Einordnung der Psalmen vom antihasmonäischen Standpunkt aus.

2. Bei den Einleitungsfragen in Kapitel 2 bleibt der Vf. im Bereich des gegenwärtigen Konsenses: Entstehung des (verlorenen) hebräischen Originals in Palästina, wahrscheinlich Jerusalem, als Reflex auf die Schändung des Tempels durch Pompeius (63 v. Chr.), Übersetzung ins Griechische vor 70 n. Chr., zur Gattung der Psalmen gehörig, im Synagogengottesdienst verwendet, in einer Gemeinschaft von mehreren Verfassern geschrieben und redigiert.

Der Vf. benutzt als Referenztext die Übersetzung von R. B. Wright in OTP II. Dabei verbessert er Wright häufig mit eigenen textkritischen Vorschlägen. Dies Vorgehen bleibt fraglich, da die textkritische Ausgabe, die O. v. Gebhardt (Die Psalmen Salomos 1895) hergestellt hat, bisher nicht überholt ist (vgl. S. Holm-Nielsen, JSHRZ IV, 2, 53). Wrights angekündigte Neuedition, die seiner Übersetzung zu Grunde liegt, ist bisher nicht erschienen. Statt der Übersetzung von Holm-Nielsen in JSHRZ benutzt der Vf. Holm-Nielsens "Salomos Salmer" in GTP II, 1970, 548-595. Holm-Nielsens deutsche Einführung zieht der Vf. nicht heran.

Im Folgenden untersucht der Vf. (2.2) acht wichtige Psalmen detailliert nach dem Schema: Content and Outline, Categories, Exegetical Reflections, Sinners and the Rigtheous. Es handelt sich um PsSal 2 (Schändung des Tempels 2,19); 3 (Der Gerechte; Auferstehung 3,12); 4 (Menschendiener 4,7); 8 (Vormarsch des Pompeius auf Jerusalem); 9 (Israel und Gottes Bund mit Israel); 10 (Die Züchtigung des Gerechten); 13 (Züchtigung und Rettung des Gerechten); 17 (Kommen des davidischen Messias). - Die übrigen Psalmen werden kursorisch behandelt (2.3). Die Fragestellungen, mit denen der Vf. die Psalmen erschließt, beziehen sich auf den logischen Aufbau der Texte (1.), auf die genannten Personen und Gruppen (2.), auf "major thematical and historical issues" (2.2), die das Thema des Buches betreffen (3.), und auf das Gegensatzpaar Sünder - Gerechte selbst (4.).

Einige Hinweise zu exegetischen Entscheidungen des Vf.s:

2,25 ff deutet der Vf. auf den Tod des Pompeius in Ägypten (48 v. Chr.). In 2,31 ho aniston emè eis dóxan findet er einen Hinweis auf die Auferstehung der Frommen. Ebenso interpretiert er m.E. zurecht 3,12 (anders G. Stemberger). Die seltenen Bezeichnungen bébelos (Unheiliger) und anthropáreskos (der Menschen zu gefallen sucht) in Ps 4 bezieht der Vf. auf die hasmonäischen Führer und die Sadduzäer. Das synédrion hosíon identifiziert er mit dem Jerusalemer Gerichtshof zur Zeit der Regierung Salome Alexandras (76-67 v. Chr.) und der folgenden Regierung Aristobuls II. (66-63 v. Chr.). Den Zusatz Synhedrion "der Frommen" versteht er als Bezeichnung für den Sanhedrin während der Regierungszeit Salomes, die Kritik der VV. 4 f. und 9-13 bezieht er auf Aristobul. (Hier fehlt das Standardwerk von H. Zucker, Studien zur jüdischen Selbstverwaltung in der Antike, 1936.) In 8,11 hält der Vf. den Ausdruck kleronómos lytrúmenos nicht für eine Anspielung auf die Illegitimität der hasmonäischen Hohenpriester, sondern versteht kleronómos als Fehlübersetzung von gw’lo Rächer. Ps 13 bezieht der Vf. auf das Jahr 63 v. Chr. Zu 17,16-18 (hoi agapontes synagogas hosíon) äußert sich der Vf. ausführlich zur Entstehung der Synagoge. Er erwägt die Möglichkeit, "that the PssSol contain the first literary reference to synagogues in Palestine" (105). Der Vf. möchte die Entstehung der Synagoge dem Pharisäismus folgendermaßen zuordnen: "We can be sure that the synagogue was significant for the development of Pharisaism, even if the Pharisees did not control the institution completely" (105). (Zur Synagoge vgl. die Lit. in ABD VI, 1992, 259 f. und 263; bei Winninge im Lit.Verz., aber die neue Lit. z. T. nicht benutzt; vgl. jetzt: Ancient Synagogues, hrsg. von D. Urman und P. W. M. Flashar, 2 Bde, StPB 47, 1.2, Leiden 1995.) Zu 17,18b vermutet der Vf. eine Anspielung auf Onias den Kreiszieher, der ein Regenwunder wirkte. Er schließt daraus mit Vorsicht auf die Entstehung des Psalms im Jahre 65 v. Chr. (Jahr der Exilwanderung einer Gruppe jüdischer Frommer nach Ägypten während der Auseinandersetzung zwischen Hyrkan II. und Aristobul II.).

3. Im 3. Kapitel prüft der Vf. die These von der Herkunft der PssSal aus dem Bereich der Chasidim und der Pharisäer vor 70 n. Chr. Er gibt eine nützliche Zusammenstellung der literarischen Erwähnung der hsjdjm/hosioi von der Makkabäerzeit bis zu Josephus sowie über die Quellen zur Geschichte der Pharisäer seit Johannes Hyrkanos I. (134-104 v. Chr.) bis 70 n. Chr. Um die PssSal richtig einzuordnen, befragt der Vf. die Psalmentexte nach dreizehn Kriterien (171-180) und kommt zu folgendem Schluß: "I conclude that Pharisaism emerged from the circles of the early Chasidim, and that hoi hosioi of the PssSol are Pharisees of the first century B.C.E.". Die Psalmen selbst versteht er als "the ultimative link between the Chasidim and the Pharisees" (180). Daß die frühen Pharisäer sich selbst nicht als Pharisäer, sondern als "Fromme" bezeichnet hätten, entnimmt er den PssSal. Über diese Einordnung der PssSal wird man nicht leicht hinauskommen.

4. Das 4. Kapitel gilt einer semantischen und theologischen Untersuchung von "Sündern" und "Gerechten" in den PssSal und anderen vorpaulinischen jüdischen Schriften. Dabei wendet der Vf. eine Statusanalyse an, die durch ihre Klarheit und durch die Textnähe ihrer Ergebnisse besticht. Hier liegt der innovative Beitrag der Studie. Vf. differenziert zwischen status aspect und aspect of dynamics. Ausgangspunkt der Statusanalyse ist das Gegensatzpaar von Israel als den Gerechten gegenüber den Heiden als den Sündern. Dieser Gegensatz wird folgendermaßen differenziert: Die Gerechten sind die gläubigen Juden und die Proselyten, die Sünder die Heiden und die abtrünnigen Juden, wobei in den PssSal die Gruppe der Apostaten unter den Juden als schlimmer als die Heiden gilt. Bei den aspects of dynamics geht es ausschließlich um die Statusgruppe der Gerechten. Für diese stellt sich die Frage: "How does the righteous person who commits sin remain righteous?" (196) Israel kennt dafür allgemein die Opfer und den Jom Kippur, daneben die persönliche tägliche Frömmigkeit und Observanz (bes. bei den Frommen und Pharisäern), in den PssSal besonders Disziplin und Leiden (205). Insgesamt wird dem Vf. zufolge im Frühjudentum Sünde als allgemeines Problem gesehen. Sündlosigkeit gibt es nicht. "It is a reasonable assumption that Paul’s contemporaries would have regarded perfect obedience to the law as impossible" (so mit Räisänen und Sanders), - ohne aber die Sünde zu den Status zu zählen. Eben diese jüdische Grundüberzeugung teilt Paulus nicht.

5. Das umfangreiche 5. Kapitel ist dem Thema: "Paul on Sinners and the Righteous" gewidmet. Nach einem ausführlichem Referat der neuen Paulussicht seit E. P. Sanders 1977 und der breiten internationalen Diskussion über das Gesetz bei Paulus und einer Einführung in die Terminologie stellt der Vf. seinen eigenen Zugang zum Thema der Gerechtigkeit bei Paulus vor: Er will den Terminus neu über das Kontrastpaar Sünder - Gerechte erschließen, d. h. er legt eine erweiterte Wortfeldanalyse vor (234). Dies Gegensatzpaar begegnet vor allem in Gal 2,15-18 und Röm 1,16-5,21. Neben diesen Schlüsseltexten zieht der Vf. auch andere wichtige Texte heran. Die Texte werden nach dem schon erprobten Modell von status (Kap. 5.2 und 3), transfer (5.4) und dynamics (5.5) untersucht.

Die Analyse vor dem Hintergrund von Kap. 4 ist präzise und ertragreich. Paulus geht von derselben Grundvoraussetzung wie das Frühjudentum aus: Die Gerechten sind Israel und stehen gegen die Heiden als Sünder (Röm 9,30 f. u. ö.). Er kennt dieselbe Differenzierung wie die PssSal, die Proselyten und Apostaten betrifft (auch mit der bes. Heraushebung der abgefallenen Juden als eminenten Sündern). Damit steht er der pharisäischen Sicht der PssSal besonders nahe (263). Vor diesem Hintergrund gewinnt die folgende Abweichung des Paulus in der status-Beurteilung ihre hohe Bedeutung. Paulus kennt ein weiteres status-Schema, das die Gewichte zwischen Juden und Heiden völlig neu verteilt: Zur Gruppe der Gerechten gehört niemand, zur Gruppe der Sünder gehören alle Menschen (Heiden und Juden). Diese Konstellation belegt der Vf. anhand von Röm 1,16-5,21 in einer klaren und einleuchtenden Analyse (297-309).

Zu Recht urteilt er: "Although the Jewish status views ... occasionally occur in Paul’s letters, it is the status paradigm ... that really counts.This paradigm is a result of a radical development of the Jewish concept of universal sinfulness" (313). Das Paradigma ordnet zunächst alle Juden und Heiden der Sünde zu, um dann unter den Bedingungen des Glaubens an Christus alle Juden und Heiden der Gerechtigkeit zuzuführen. W. kommt für das Transferthema daher zu folgendem Urteil: "The transfer perspective on justification appears to be a Pauline innovation" (320). Schließlich fragt der Vf. nach dem Umgang des Paulus mit den Sünden nach dem transfer (5.5). Die jüdischen Versöhnungspraktiken des Opfers kommen nach Paulus für die Christen nicht mehr in Frage, wohl aber tägliche Frömmigkeit, metánoia und paideía. So kann der gerechte Christ trotz seiner Sünden durch Disziplin und Leiden als sündiger Gerechter leben (326). Hier findet der Vf. zu Recht Motive pharisäischer Frömmigkeit. Ebenfalls zu Recht betont der Vf. den Unterschied zwischen Paulus und dem pharisäischen Frühjudentum hinsichtlich des original state: den Wechsel von den gerechten Juden zu den gerechten Christen.

In Kapitel 6 kommt der Vf. zu folgenden Ergebnissen: In den PssSal wird zwischen dem Akt des Sündigens (aspect of dynamics) und dem Status des Sünders (status aspect) unterschieden. Dabei haben die Juden den Status der Gerechten, die Heiden den Status der Sünder. Nur durch Übertritt zum Judentum können Heiden den Status der Gerechten gewinnen. Paulus dagegen versteht alle Menschen vom Sünder-Status her, auch wenn sie größtenteils gerecht handeln. Für ihn ist Gerechtigkeit nur durch den Transfer durch Christus zu erlangen, und zwar für Juden wie für Heiden. Die Christen werden nicht absolut Gerechte, sondern bleiben "the sinfully righteous" (333). Der Vf. betont aber m. E. zurecht, daß für Paulus die Christen grundsätzlich (d. h. statusmäßig) gerecht sind, nicht simul iustus et peccator im dialektischen Sinne Luthers: "The genuinely positive Pharisaic conception of a pious life ultimately aiming at final vindication and salvation at the last judgement is inherent in Paul’s reflection on justification" (334). Dikaiun bezieht sich auf den Prozeß des Gerechtseins "in continuous participation" (334). Und "There is nothing of legalism ... in this, since the transfer is a divine and graceful gift" (334).

Die Studie von Mikael Winninge zeichnet sich durch Deutlichkeit der Linienführung, der Terminologie und der Argumentation aus. Der Vergleich mit den PssSal ist gelungen. In der oft ausufernden Diskussion um die religionsgeschichtliche Einordnung des Paulus und um die Grundzüge seines Gesetzes- und Gerechtigkeitsverständnisses besticht diese Studie durch religionsgeschichtliche Kompetenz, Klarheit, Konzentration und Knappheit.