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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1211 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Herzer, Jens

Titel/Untertitel:

Petrus oder Paulus? Studien über das Verhältnis des Ersten Petrusbriefes zur paulinischen Tradition.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1998. X, 337 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 103. Lw. DM 168,-. ISBN 3-16-146848-1.

Rezensent:

Jürgen Becker

Wer den 1Petr in die urchristliche Landschaft einordnen will, huldigt meistens der Annahme, die Epistel stehe unter dem Einfluß des Paulinismus. Zwar ist es seltener geworden, daß man sogar direkte Benutzung von Röm, Kol oder Eph begründen möchte, aber die gleichzeitig begegnende spannungsreiche Nähe und deutlich akzentuierte Eigenständigkeit zur echten und pseudepigraphischen Paulusliteratur wird doch in der Regel so gedeutet, daß einer traditionsgeschichtlichen Abhängigkeit vom Paulinismus das Wort geredet wird. Ein eindrückliches Beispiel mit feinsinniger Differenzierung und behutsamer Thesenbildung für diesen mainstream neutestamentlicher Wissenschaft hat z. B. N. Brox in seinem Kommentar (EKK XXI, 1979) vorgelegt. Viel seltener ist die Auffassung anzutreffen, daß der 1Petr "Zeuge des Versuchs einer Selbstfindung des nichtpaulinischen Christentums in Kleinasien" sei (A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 1979, 259).

Aber könnte es nicht sein, daß die fast automatische Zuordnung zum Paulinismus, die den 1Petr als "eigenständiges Zeugnis innerhalb der frühchristlichen Traditionen neben Paulus und seiner Schule" nicht wahrnimmt (261), ein Vorurteil ist, das sich aufgrund des Übergewichtes des corpus Paulinum im Kanon und der überragenden Wirksamkeit des Völkerapostels Paulus (vgl. dazu auch die Apg) wie von selbst einstellt? Kann es nicht sein, daß man mit solcher Zuordnung der neben Paulus bezeugten selbständigen Mission und ihrer Gemeindegründungen zu wenig Beachtung schenkt, selbst wenn sie sehr viel schlechter bezeugt sind als das Werk des Briefe schreibenden Paulus (20)?

Es ist das Verdienst der bei Chr. Wolff in Berlin entstandenen Habilitationsschrift von J. Herzer, angesichts seines speziellen Themas diese grundlegende Frage nach den Konstitutionsbedingungen unseres Bildes vom Urchristentum nochmals gestellt zu haben. Ihr weiteres Verdienst ist es, die Diskussion zugunsten der Selbständigkeit des 1Petr gegenüber der paulinischen Tradition durch exegetische Einzelnachweise erheblich gefördert zu haben. So bespricht der Autor das Briefformular (22 ff.), die Wendung "in Christus" (84 ff.), das Offenbarungsverständnis (107 ff.), Soteriologie und Christologie (120 ff.), die Ekklesiologie (158 ff.), Taufe und Wiedergeburt (196 ff.), christliche Freiheit und weltliche Herrschaft (227 ff.) und Einzelparallelen (245 ff.) unter dieser Perspektive. Damit schreitet er alle wichtigen Stellen, Themen und theologischen Stichworte ab, die immer wieder behandelt werden, wenn man den 1Petr in die paulinische Nähe rückt. - Sein Ergebnis ist dabei von folgenden Erklärungsstrategien geprägt:

1. "Die Berührungen und Überschneidungen von Traditionskreisen ... lassen es wahrscheinlich werden, daß z. B. eine gemeinsame Begrifflichkeit möglich ist, ohne daß ein direkter inhaltlicher Einfluß oder ein gleiches inhaltliches Verständnis vorliegen muß, mithin, daß die Entfaltung bestimmter gemeinsamer Vorstellungen bei vergleichbarer Begrifflichkeit durchaus eigenständiges Profil aufweisen kann und so jeweils kennzeichnend für eine ’paulinische’ oder ’petrinische’ Theologie und Tradition im Sinne der Geltung verschiedener Autoritäten werden kann" (17).

2. Es ist jeweils mit der Möglichkeit zu rechnen, daß der petrinische Traditionskreis nicht in unmittelbarer Beeinflussung von Paulinismen her stand, sondern Paulus samt seiner Schule und das petrinische Christentum unabhängig voneinander frühchristliche Formen und Traditionen weiterentwickelten (47 f.; 105 f.; 119; 225 f.; 251).

3. "In traditionsgeschichtlicher Hinsicht ist ... damit zu rechnen, daß sich ein solch prägnanter Ausdruck ..., auch wenn" er "ursprünglich von Paulus geprägt wurde, verselbständigte und schließlich unabhängig von der paulinischen Schule auch in solchen christlichen Kreisen verwendet wurde, die traditionsgeschichtlich nicht von Paulus abhängig sind." Diese Möglichkeit gilt es dann besonders zu bedenken, wenn die Vergleichstexte je andere inhaltliche Füllungen der geprägten Ausdrücke aufweisen (104 f.).

Die Anwendung solcher Erklärungsstrategien führt dann zu dem Ergebnis, daß angesichts des eigenständigen Profils petrinischer Aussagen die Konvergenzen zum corpus Paulinum in keinem Fall mit Hilfe literarischer Abhängigkeit erklärt werden können, jedoch auch keine unmittelbar traditionsgeschichtliche Verbindung vorliegt. Anders steht es mit der Nähe zur Apostelgeschichte (62 ff.; 163 f. 173 ff.). Hier erwägt der Autor neben traditionsgeschichtlichen Zusammenhängen auch eine literarische Benutzung durch den 1Petr. Insgesamt stellt die Arbeit ein Plädoyer dar für die Selbständigkeit des 1Petr und seiner Traditionen, die sich dem frühen "syrisch-antiochenischen" Christentum (263) verdanken, von dem aus auch Paulus einst seinen eigenen unabhängigen Weg ging.

Da dieses Gesamtergebnis in einer klaren und überzeugenden Weise begründet ist, kann man sich nur freuen, daß dem 1Petr durch diese Untersuchung erneut sein eigenständiges Recht gegeben wurde. Auch wenn man - was unter Exegeten immer so ist und bleiben wird - in Einzelfällen anders akzentuieren oder urteilen mag, dürfte die Hauptthese des Vf.s Bestand haben. Ich selbst würde mir z. B. wünschen, daß die paulinischen Vergleichstexte noch energischer traditionsgeschichtlich erörtert würden, daß also z. B. debattiert wird, inwiefern Gal 3,26-28 und ähnliche Stellen Anlaß zu der Annahme geben, die Formel "in Christus" sei keine individuelle Neuschöpfung des Paulus, sondern eine Spur antiochenischer Theologie (an der Paulus seinen Anteil haben mag). Dann würde man in diesem Fall nicht mit der Verselbständigung eines paulinischen Theologumenons bis hin zum 1Petr rechnen (104 f.), sondern auch auf das syrisch-antiochenische Christentum abheben, das auch in diesem Fall gemeinsamer Wurzelgrund paulinischen und petrinischen Christentums war.

Wie immer der Autor das sehen mag, es wäre eine Freude, mit ihm darüber zu diskutieren, weil der Rez. sich mit dem Autor im Gesamtergebnis ganz einig weiß.