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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1207–1210

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Deines, Roland

Titel/Untertitel:

Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997. XVII, 642 S. gr. 8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 101. Lw. DM 238,-. ISBN 3-16-146808-2.

Rezensent:

Michael Tilly

Die Fragen nach dem Entstehen, der gesellschaftlichen Stellung, den religiösen und politischen Überzeugungen der Pharisäer sowie der Kontinuität zwischen ihnen und den Rabbinen nach 70. n. Chr. sind ebenso grundlegend wie ungeklärt. Mit seiner im WS 1996/97 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen als neutestamentliche Dissertation angenommenen, von Martin Hengel betreuten Arbeit will D. dazu beitragen, ohne "negative Verzeichnungen" und "positive Idealisierungen" (3) die "innerjüdische Stellung jener Gruppe zu bewerten und zu deuten, die ... am häufigsten als historischer Bezugs- und Vergleichspunkt für paulinische Aussagen herangezogen wird" (16), indem er die Positionen der prägenden Gestalten der neuzeitlichen Forschungsgeschichte bis ca. 1950 darstellt, historisch einordnet und analysiert.

In § 1 behandelt D. zunächst die "liberalen" Entwürfe der "Klassiker" der protestantischen Forschung J. Wellhausen, E. Schürer und W. Bousset (40-135). Ihnen gemeinsam sei sowohl die Einschätzung der Erforschung des antiken Judentums als neutestamentlicher Hilfsdisziplin (99) als auch ihre "politische Position" (153), der erkennbare Einfluß des zu ihrer Zeit aktuellen Konfliktes um den Loyalitätsprimat zwischen Kirche und Staat (112) auf ihre Fragestellungen und auch auf die Ergebnisse ihrer Arbeiten.

J. Wellhausen (40-67) betone die Vielfältigkeit des antiken Judentums und den Gegensatz zwischen den Sadduzäern als einer vorwiegend politischen aristokratischen (54) Partei und den Pharisäern als einer vorwiegend religiösen "kirchlichen" (67) Gruppe mit "antikatholischer Einfärbung" (42) unter Führung der Schriftgelehrten, wobei er, so D., "die Bedeutung halachischer Differenzen unterschätzte" (57). E. Schürer (68-95) setze eine
dominierende Rolle der Pharisäer im (als Einheit verstandenen) antiken palästinischen Judentum voraus (80): "Das Modell der Volkskirche wird zum Verstehenshintergrund des Pharisäismus" (84). Schürer trenne zwischen der lebendigen (apokalyptisch geprägten) Volksfrömmigkeit und dem von den Pharisäern dominierten negativ charakterisierten "gesetzlich-halachischen" Judentum (90).

Anders als bei Wellhausen, dessen geschichtliche Darstellung im wesentlichen auf den griechischen Quellen (vor allem auf Josephus) beruhe (51), und Schürer, der sich - allerdings selektiv und unkritisch - daneben auf die rabbinische Literatur stütze (91), basiere das Bild der Pharisäer bei W. Bousset (96-135) auf der starken Betonung des Quellenwertes der apokalyptischen Literatur (133). Beeinflußt von der Geschichtsdeutung des schottischen Historikers und Philosophen Th. Carlyle (120) konstruiere Bousset auf dieser Grundlage "eine mehr oder minder stark pharisäisch geprägte Volksreligion, die einer dezidiert pharisäisch geprägten Gelehrtenreligion gegenübersteht" (124). Bousset projiziere damit "das Missionsverständnis des Kulturprotestantismus bzw. der religionsgeschichtlichen Schule" auf die Pharisäer (108): "An dem Ideal seiner eigenen Kirchlichkeit mißt er die jüdische - das ist ihm zugleich die pharisäische - ’Kirchengeschichte’" (135).

§ 2 befaßt sich mit den Entwürfen in der "Wissenschaft des Judentums" (136-193). D. stellt bei der Untersuchung des Pharisäerbildes I. M. Josts (140-145), A. Geigers (145 f.) und N. Krochmals (146-146) fest, daß auch bei diesen jüdischen Gelehrten "jene antipharisäischen Stereotypen begegnen, die für die christliche Forschung des 19. Jh.s als charakteristisch gelten" (144). Als überzeugte Vertreter des aufgeklärten "Kulturjudentums" sahen sie in den Pharisäern gleichsam Repräsentanten des orthodoxen Judentums ihrer eigenen Gegenwart (142).

Ausführlich behandelt D. Leben, zeitgeschichtlichen Hintergrund, Gesamtwerk und Pharisäerbild des Historikers H. Graetz (148-187). Der zwischen historisch-kritischen und orthodoxen Positionen vermittelnde Gelehrte setze neben Josephus auch die rabbinische Literatur und die darin enthaltenen Wertungen als historische Quellen ein (165). Sein Interesse an einem "einheitlichen, pharisäisch geprägten Judentum" führe ihn zu der Sicht der schriftgelehrten Pharisäer als elitäre "geistige Ahnherren ... des wahren, auch von ihm verkörperten Judentums" (187).

Diese pharisäische Dominanz bei Graetz hält D. für "eindeutig überbetont" (191). Das von "leidenschaftlicher Parteilichkeit" (187) beherrschte apologetische Pharisäerbild des entschiedenen Gegners jeder nationalen Assimilation der deutschen Juden (154) könne als Beispiel dafür gelten, daß Historiographie eine Funktion der Gegenwartsbewältigung darzustellen vermag (188).

In § 3 thematisiert D. die Auseinandersetzung der jüdischen Wissenschaft mit A. Harnack und anderen Vertretern des Kulturprotestantismus (194-237), die das Judentum mit der Entstehung des Christentums als überholt ansahen. Vor allem Harnacks "Persönlichkeitsideal des liberalen Protestanten" (200) begründe dessen Ablehnung des "pharisäisch-rabbinischen Judentums" (200) als Religionsform, die "seinem Ideal ... einer geistigen Religion nicht entsprach" (206). Gegen Harnack deute L. Baeck die Pharisäer auf der Grundlage seiner "preußisch-neukantianisch bestimmten Ethik" (208) als "Vorbilder einer heiligmäßigen jüdischen Existenz in dieser Welt" (207). Auch J. Eschelbacher, M. Schreiner und I. Elbogen betonten die ungebrochene "Vitalität des Pharisäismus" und sein Fortwirken bis hin zum zeitgenössischen liberalen Judentum (237).

§ 4 beschäftigt sich mit den Pharisäern bei Vertretern des konservativen Protestantismus, die in dem pharisäischen Bemühen um eine "praxis pietatis" (240) eine Geistesverwandtschaft erkannten, der sie "ihre Anerkennung nicht verweigerten" (241). Das Kapitel behandelt zunächst die um eine stärkere Beachtung des rabbinischen Materials bemühten Arbeiten von F. Delitzsch und G. Dalman (242-245), F. Webers von judenmissionarischen Absichten geprägte Schriften (245-255), sodann das Werk H. L. Stracks und P. Billerbecks (255-262), dessen Bedeutung D. gegen die "Pauschalverurteilungen neuerer Zeit" (262) in Schutz nimmt: "Daß viele Benützer Billerbecks Sammlungen mit historischen Ergebnissen verwechseln, sollte weniger ihm als eher seinen weniger kompetenten Benützern angelastet werden" (259).

Ausführlich gelangen die Pharisäer im Werk A. Schlatters zur Darstellung (262-299). D. betont dabei die Notwendigkeit, die "Spannung zwischen Respekt und theologisch motivierter Zurückweisung" (269) im Werk des Schweizer Theologen nicht in pauschalierender Weise als Antijudaismus zu beurteilen. Vielmehr habe gerade er die bislang unterschätzte Bedeutung der "rabbinischen Überlieferung über die Pharisäer bzw. die Autoritäten vor 70 als theologische Dokumente" (298), "die Verbindung des pharisäischen Ideals mit dem priesterlichen" (298) und den "hohen Stellenwert der Halacha" (299) erkannt.

§ 5 bringt die Pharisäer in der jüdischen wie christlichen judaistischen Forschung in England und den USA seit 1900 zur Sprache (300-404). D. weist auf beider Abhängigkeit "von der deutschen liberalen, historisch-kritischen Wissenschaft" (307) hin und betont, daß "besonders das Reformjudentum seine Identität gegenüber dem liberalen Protestantismus sichern mußte" (309). Ebenso wie christliche Forscher ihr Pharisäerbild den Idealen des Kulturprotestantismus anpaßten und, wie z. B. R. T. Herford, auf ihre "Individualisierung und Vertiefung der Torafrömmigkeit" hinwiesen (360), bemühten sich liberale jüdische Gelehrte wie K. Kohler und J. Z. Lauterbach um den Nachweis eines einflußreichen (313 f.), fortschrittlichen (316 Anm. 51), rationalen (317), liberalen und demokratischen (336) Pharisäismus in der Antike zur historischen Legitimation des zeitgenössischen Reformjudentums gegenüber Orthodoxie und Christentum. In Form eines Exkurses stellt D. die "exegetische Verteidigung" der Pharisäer gegenüber christlichen Theologen auf der Grundlage der rabbinischen Überlieferung durch C. G. Montefiore und I. Abrahams dar (361-373).

G. F. Moores Modell eines geradezu "monolithischen" (393) "normativen Judentums" (389) anhand der rabbinischen Quellen zeichne die Pharisäer als "weitestgehend anerkanntes normatives Judentum" (385) gegenüber einem "abseitigen apokalyptischen Judentum" (380). Moores Werk sei von seinen Rezipienten als Darstellung nicht des Endpunktes der geschichtlichen Entwicklung, sondern der gesamten Geschichte der Pharisäer (389 f.) verstanden worden. D. weist auf die methodischen Probleme der Arbeit Moores hin, spricht sich in diesem Zusammenhang jedoch gegen eine vorschnelle radikale Ablehnung der Verwendung rabbinischen Materials für die Rekonstruktion der Vorgänge und Zustände im Judentum vor 70 n. Chr. aus (394). Insgesamt sei in der englischsprachigen Forschung die Tendenz zu beobachten, die "pharisäisch-rabbinische Frömmigkeit als lebendige, dynamische Bewegung anzuerkennen" (403).

In § 6 behandelt D. die "Durchsetzung rabbinischer Studien in der Erforschung des Neuen Testaments" seit ca. 1920 (405-514), gekennzeichnet durch die "faktische Anerkennung des pharisäisch-rabbinischen Judentums ... als repräsentativem [sic!] Judentum" (411), wobei bei jüdischen Forschern ihre "Verantwortung für das Volksganze", bei christlichen Forschern hingegen ihre "innergesellschaftliche Absonderung" in den Vordergrund trete (510). D. geht in diesem Kap. besonders ausführlich auf Leben, Gesamtwerk und zeitgeschichtlichen Hintergrund der verschiedenen Gelehrten ein. Gerade G. Kittel (413-448) sei als "tragisches Bindeglied zwischen der Institutionalisierung rabbinischer Forschung innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland und ihrer Pervertierung während der nationalsozialistischen Herrschaft" zu verstehen (413), dessen Deutung der Pharisäer weniger durch neue Erkenntnisse als durch Beiträge zu einer sachgemäßen Methodik (459) gekennzeichnet sei. Jedoch sei festzuhalten, daß gerade sein differenzierender Umgang mit den jüdischen Quellen und sein Bemühen um wissenschaftlichen Anforderungen genügende Übersetzungen der Rabbinica der judaistischen Forschung entscheidende Impulse gaben (439).

H. Greßmann (449-459) habe hingegen in der historischen Verwertung rabbinischer Quellen eine "Bindung an endgültig Vergangenes" gesehen (451); J. Jeremias (461-467), der die Pharisäer als "streng abgegrenzte Konventikel" (464) verstand, habe seinerseits den Bezug der spätantiken jüdischen Literatur zur Lebenswelt des Neuen Testaments akzentuiert (464). Bei C. Schneider, H. Preisker und W. Foerster spiele "bedingt durch die Zeitumstände nun aber die politisch-nationale (,völkische’) Haltung der Pharisäer eine wichtige Rolle" (479). In einem zweiten Exkurs befaßt sich D. mit den Pharisäern in der Sicht der Soziologie und der Altertumswissenschaft (480-490), namentlich mit M. Weber, E. Meyer und S. Dubnow. Bei der Untersuchung der "deutschsprachigen jüdischen Pharisäer-Forschung zwischen den Weltkriegen" (491-499) weist er auf ihr Bild bei M. Buber als "Vertreter des lebendigen ... Gottesgeschehens" (493) und auf L. Baecks "Festhalten am ’Pharisäertum’ wider die Versuchung des Zionismus" (497) hin und kommt zu einem ersten grundlegenden Ergebnis seiner Arbeit: "Jede Zeit und jede Richtung schafft sich ihr eigenes Pharisäerbild: aber sofern es sich leiten läßt von den ursprünglichen Quellen, bildet jedes dieser Bilder einen Mosaikstein für ein sachgemäßes Bild der historischen Pharisäer" (497). Ein dritter Exkurs behandelt den Anfang der "nationaljüdischen" (500) Pharisäerforschung in Israel (500-510) und führt zu einem weiteren Ergebnis der Arbeit, der Erkenntnis, "daß wissenschaftliche Ergebnisse historischer Forschung oft nicht hinreichend verstanden werden können ohne die aktuellen gesellschaftlichen Bezüge der jeweiligen Autoren" (510). Danach geht D. noch auf die Pharisäer bei R. Meyer ein (510-514) und entwickelt eine erste eigene Position: "Die Pharisäer verstanden sich gerade nicht als der heilige, sondern als der heiligende Rest" (514), was seines Erachtens ein besseres Verständnis von Stellen wie Mk 8,15par. ermögliche (514 Anm. 316).

Der wissenschaftsgeschichtliche Ertrag der Untersuchung (515-520) besteht dem Vf. zufolge im Aufweis der Tatsache, daß "die Fragen, wofür und für wen jemand die Pharisäer erforscht..., untrennbar mit den historischen verbunden sind" (515), was dazu führe, daß der gegenwärtige Exeget genötigt sei, "sich seiner eigenen Voreingenommenheit bewußt zu bleiben" (519). Der forschungsgeschichtliche Ertrag (520-534) besteht nicht nur in der Zusammenfassung der Ergebnisse und dem Nachweis, daß die Pharisäer "in jeder Epoche mit den Augen der jeweiligen Zeit gesehen" (517) und ihre Bewertung immer wieder in den Dienst einer historische Projektion aktueller Probleme und Interessen gestellt wurde, sondern mündet in den Aufweis der grundsätzlichen Differenz der Bedeutung bzw. der theologischen Bewertung des Gesetzes bei Juden und Christen (533 f.). Auf dieser Basis skizziert D. abschließend seine eigene Position (534-555). Der Begriff Pharisäer bezeichne vor allem ein bestimmtes Verhältnis zum Gesetz (541) bzw. zur "identitätsstiftenden" (553 Anm. 46) Halacha in der Tradition des deuteronomistischen Geschichtsbildes (544) und damit eine "Religionsform, in der National- und Individualreligion eine fruchtbare, sich gegenseitig bereichernde und beeinflussende Symbiose bildeten" (546). Die Arbeit endet mit einem Verzeichnis der verwendeten Sekundärliteratur (557-611), der Stellen (613-622), Autoren (623-632), Orte (633 f.), Sachen und Personen (635-642) und z. T. mit Annotationen versehenen Stellen. Ein Verzeichnis der verwendeten Textausgaben und Übersetzungen fehlt.

Die vorliegende Arbeit ist nicht nur ein beeindruckender Beitrag zur Forschungsgeschichte eines wichtigen historischen Problems, sondern zugleich auch eine überaus gründliche und ausführliche Darstellung der jüdischen und christlichen Judaistik in der Moderne. In ständiger kritischer Auseinandersetzung mit aktuellen Arbeiten, besonders mit E. P. Sanders (110, 172, 180 Anm. 131, 322 u. ö.) und J. Neusner (14 Anm. 37, 165, 374 Anm. 216, 395, 535 u. ö.) zeigt D. dabei auf, welche Forschungsergebnisse bis heute Geltung beanspruchen können (53, 66 f., 124, 298, 360, 419), und legt einen meines Erachtens zutreffenden eigenen Beitrag zur Deutung der Pharisäer vor.

Zu monieren sind allenfalls Einzelheiten: Entgegen seiner eigentlichen Zielsetzung (vgl. 442) verknüpft D. Boussets theologisch bestimmten Antijudaismus mit der Judenvernichtung während der Nazizeit (133). In 4 erscheint die forschungsgeschichtliche Relevanz A. Schlatters gegenüber den anderen dort verhandelten Personen überbewertet. Daß der falsche Gegensatz hellenistisch oder rabbinisch noch heute die Diskussionen beherrsche (451 Anm. 128), halte ich für eine Übertreibung. Gerade bei Quellentexten, die in den unterschiedlichen Handschriften und (allesamt "gängigen" [557]) Textausgaben voneinander abweichende Zählungen der Texteinheiten haben (z. B. die Tosefta), schmerzt der Verzicht auf ein Verzeichnis der Editionen. Anders als es bei D. (469 Anm. 171) und auch im "Kürschner" (111971, 2673) zu lesen ist, war C. Schneider nie Professor in Mainz, sondern seit 1954 Pfarrer für "gesamtkirchliche Aufgaben" in der Evangelischen Kirche der Pfalz und von 1961 bis zu seinem Tod nebenamtlicher Leiter der Evangelischen Akademie der Pfalz.

Methodisch reflektiert, kritisch und doch zurückhaltend im Urteil ist es D. insgesamt gelungen, eine spannend zu lesende Untersuchung vorzulegen, die trotz der Menge der untersuchten Texte nicht nur deren Inhalt, sondern auch ihren Aufbau und ihre Form berücksichtigt.