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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

504–506

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Haußmann, Annette, Schleicher, Niklas, u. Peter Schüz[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die Entdeckung der inneren Welt. Religion und Psychologie in theologischer Perspektive.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XII, 392 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 36. Kart. EUR 94,00. ISBN 9783161568206.

Rezensent:

Matthis Christian Glatzel

Nicht erst seit dem großen Berliner Kirchenvater Friedrich Schleiermacher ist die psychologische Grundierung christlicher Sym-bole Teil evangelisch-theologischer Auseinandersetzung. Bereits die Confessiones Augustins oder auch die lutherische Entdeckung des Gewissens können als Beitrag zu einem Projekt psychologi-scher Exploration theologischer Topoi verstanden werden. Es war insbesondere die Wort-Gottes-Theologie des frühen 20. Jh.s, die Schleiermachers Vorstoß harsch kritisierte und als vermeintlich anthropologische Theologie ablehnte. Nichtsdestotrotz zeigte sich vornehmlich in der Praktischen Theologie des vergangenen Jahrhunderts die Angewiesenheit kirchlicher Praxis, insbesondere der Seelsorge, auf psychologische Erkenntnisse.
Die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie trägt diesem Anliegen seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Rechnung. Der Um­stand, dass mit Paul Tillich einer der größten Theo-logen des 20. Jh.s ein belebtes Interesse an »tiefenpsychologischen« Fragestellungen besaß (vgl. Cooper, »Paul Tillich and psychology«, Macon 2006), kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beschäftigung mit psychologischen Themen primär aus der Praktischen Theologie heraus geschieht. Konsequenterweise ist sie als Disziplin auch an den praktisch-theologischen Instituten beheimatet. Auf den ersten Blick wirkt der vorliegende Sammelband ebenfalls wie eine praktisch-theologische Publikation. So ist die Herausgeberin Annette Haussmann Juniorprofessorin für Praktische Theologie in Heidelberg und darüber hinaus approbierte Psychotherapeutin. Allerdings sind die anderen beiden Herausgeber, Niklas Schleicher und Peter Schüz, Systematische Theologen. Hierin erweist sich auch die besondere Stärke des Sammelbandes, dass er sowohl praktisch- als auch systematische-theologische Positionen zur Frage nach dem Verhältnis von Religion und Psychologie vereint. Der Titel des Bandes »Die Entdeckung der inneren Welt« ist hierbei bewusst ge­wählt. So verweist der Terminus »innere Welt« auf die »Religionspsychologie des Göttinger Theologen Wolfgang Trillhaas« (4), die bereits 1953 in zweiter Auflage veröffentlicht wurde. Bereits Trillhaas verwies auf das problematische Verhältnis von Theologie und Psychologie.
Diesem Kernanliegen verpflichtet, zieht sich das Bedürfnis durch alle Aufsätze hindurch, angesichts der wissenschaftstheoretischen Kluft zwischen Theologie und Psychologie beide miteinander zu vermitteln. So sieht die Wiener Theologin Susanne Heine ein grundsätzliches Problem der theologischen Rezeption psychoanalytischer Konzepte in den 70er Jahren. Diese hätten die unterschiedlichen anthropologischen Grundvoraussetzungen beider Disziplinen ignoriert. Als Vermittlung schlägt sie vor, beide Menschenbilder miteinander in ein fruchtvolles Gespräch zu bringen: Verweist die Psychologie auf die Tragik menschlichen Lebens, zeuge die Theologie analog dazu davon, dass wir noch nicht im Reich Gottes leben. Schärfer formuliert es Jacob A. van Belzen, der das Fach der Psychology of religion in Amsterdam lehrt. Er sieht Theologie und Psychologie nicht nur in einem möglichen Gespräch gegeben, sondern betont vielmehr, dass die Theologie auf die Psychologie und die Religionspsychologie auf die Theologie angewiesen sind: »Psychologie kann ohne Theologie, Theologie kann nicht ohne Psychologie, Religionspsychologie braucht die Theologie – Dialog muss sein, er wird aber nicht einfach.« (69) Der Leipziger Systematiker Roderich Barth, der mit Herausgabe des Sammelbandes »Theologie der Gefühle« einen wichtigen Beitrag zum Themenfeld der Religionspsychologie aus systematisch-theologischer Perspektive geleistet hatte (vgl. Barth/Zarnow, »Theologie der Ge-fühle«, Berlin/Boston 2015), votiert in seinem Beitrag für eine »Re-Psychologisierung der theologischen Hermeneutik«. Vor dem Hintergrund eines Verweises auf ein Psychologiedefizit in der Theologie stellt er die Genese dieser problematischen Ausgangslage dar. Angesichts dieser schlägt Barth eine emotionstheoretisch angereicherte Hermeneutik vor, die zwischen der begriffslogischen Entfaltung eines Systems und der Innerlichkeit vermitteln soll. Auch hier wird somit versucht, Psychologie und Theologie in ein fruchtvolles Gespräch zu bringen.
Einen anderen Ansatz wählt der in Wien lehrende Praktische Theologe Bernhard Lauxmann, der auf Grundlage des Soziologen Andreas Reckwitz proklamiert, die Religionsforschung solle den Einzelfall wieder für sich entdecken, da das Religiöse beziehungsweise das Spirituelle singularitätsaffin sei. Eine Logik des Allgemeinen werde der zeitgenössischen Religiosität nicht mehr gerecht. Lauxmann schlägt somit eine interdisziplinäre Vermittlung durch einen wissenschaftstheoretischen Paradigmenwechsel vor. Mystische Erfahrungen müssten grundlegend – sei es in ihrer Untersuchung durch die Theologie oder die Psychologie – als Singularität verstehbar sein.
Gleichsam Kulmination findet das sich im Band artikulierende Bemühen um eine Vermittlung zwischen Theologie und Psychologie im letzten Beitrag. Birthe Fritz, examinierte Theologin und gleichzeitig Studentin der Psychologie, votiert entschieden für eine Interdisziplinarität von Theologie und Psychologie, die sich bereits im Studium äußern solle. Es brauche ein gemeinsames Basiswissen, auf dessen Grundlage Absolventen beider Disziplinen in ein interdisziplinäres Gespräch eintreten könnten. Beidseitig könnten sowohl Theologen als auch Psychologen vom methodischen Inventar der jeweils anderen Disziplin profitieren.
Angesichts dieses letzten Aufsatzes deutet sich auch die Heterogenität des Bandes an. Sind alle Aufsätze um eine wissenschaftstheoretische Vermittlung von Theologie und Psychologie bemüht, so liegt keineswegs allen dieselbe Vorstellung von Psychologie zugrunde. Die Frage, die sich stellt, ist, von welcher Beschaffenheit eine Psychologie sein muss, die der Theologie fruchtvolle Impulse beisteuert. Die Vertreter der Systematischen Theologie, die psychologische Themen fruchtvoll mit einer Dogmatik ins Gespräch bringen möchten, in diesem Sammelband insbesondere repräsentiert durch Roderich Barth, Martin Fritz und Niklas Schleicher, beziehen sich allesamt auf Erkenntnisse der modernen Emotionstheorie und nicht auf die naturwissenschaftliche Psychologie. Es sind vor allem die Praktischen Theologen, die auf eine solche Psychologie Bezug nehmen. Hier speist sich das Interesse vor allem aus der Poimenik, da dieser ein empirisch-induktiver Zugang zum Menschen hilfreich sein kann. Einer Dogmatik, die Interesse an religionspsych ologischen Fragestellungen äußert, geht es jedoch um ein auf Frömmigkeitsgefühlen basierendes System an Lehrsätzen. Dieses kann womöglich nur vor dem Hintergrund einer subjektivistischen bzw. geisteswissenschaftlichen Psychologie erreicht werden. So äußert sich angesichts des Sammelbandes für die Systematische Theologie dieselbe Notwendigkeit, die bereits der Namensgeber Wolfgang Trillhaas festgestellt hatte: »Wir bedürfen einer eigenen Methode, wie sie die von Dilthey […] begründete ›verstehende‹ oder ›geisteswissenschaftliche‹ Psychologie vorgezeigt hat.« (Trillhaas, »Die innere Welt«, München 1953)